Kitabı oku: «Kein Trost, nirgends?», sayfa 3

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Eine schlimme Fehleinschätzung. Es gibt einen von Günter Heidtmann herausgegebenen Band „Hat die Kirche geschwiegen? Das öffentliche Wort der EKD von 1945 – 1964 (Berlin 1964).“ 1969 habe ich in der Jungen Kirche einen Aufsatz veröffentlicht „Die Forderung der Wiedervereinigung in den öffentlichen Voten der EKD.“ Darin zeigte ich auf, dass neben dem immer wieder angeprangerten Unrecht der deutschen Teilung vor allem auch die Forderung nach Freilassung der in der Sowjetunion festgehaltenen deutschen Kriegsgefangenen im Zentrum der EKD-Voten stand. Stets wurde auf das Leiden dieser Gefangenen in den Lagern hingewiesen, ihre Beteiligung an einem Vernichtungskrieg, dem 22 Millionen Sowjetbürger, nach neueren Schätzungen sogar 27 Millionen, zum Opfer gefallen waren, aber verschwiegen. Zehn Jahre zuvor hatten die Kirchen diese Solidarität mit den völlig unschuldigen Juden Deutschlands und Europas in keinem Wort öffentlich geäußert. Erst in der sogenannten Ost-Denkschrift wurde 1965 die deutsche Teilung als eine Folge des von Nazideutschland begonnenen Zweiten Weltkriegs anerkannt und damit aus dem theologischen Versöhnungsgedanken heraus eine neue Ostpolitik mit der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze gefordert. Die Vernichtung der europäischen Juden blieb auch in dieser Denkschrift unerwähnt.

Immerhin hat der erste evangelische Militärbischof Herrmann Kunst, als er 1959 von dem jungen Militärpfarrer Pohl die Information über den Aufenthalt Adolf Eichmanns in Argentinien erhielt (Pohl erfuhr sie von seinem Studienfreund, dem in Argentinien tätigen Geologen Gerhard Klammer), diese an Generalstaatsanwalt Bauer weitergeleitet. Dieser informierte den israelischen Geheimdienst Mossad, welcher daraufhin Eichmann im Mai 1960 entführte und nach Jerusalem brachte, wo ihm der Prozess gemacht wurde. Eichmann, der 1944 noch den Transport von 400.000 ungarischen Juden in die Vernichtungslager organisiert hatte, wurde verurteilt und 1963 hingerichtet, (s. B. Stagneth/W. Winkler, Der Mann, der Adolf Eichmann enttarnte, SZ 21./22. August 2021).

Letztlich gab es also in der EKD lange Zeit keine Einsicht in den theologischen Substanzverlust der christlichen Kirchen durch ihr Schweigen angesichts der Shoah. Auch in dem Darmstädter Wort des Bruderrates der Evangelischen Kirche in Deutschland „Zum politischen Weg unseres Volkes“ vom August 1947 kommt in den sieben Punkten der Irrwege der Kirche die ausgebliebene Solidarität mit der jüdischen Bevölkerung nicht vor. Erst auf der EKD-Synode in Berlin-Weißensee 1950 wird zum ersten Mal in einem kirchlichen Dokument knapp auf die Judenvernichtung hingewiesen, ohne dass damit eine Aufarbeitung des kirchlichen Versagens eingeleitet würde. In den 50er und 60er Jahren wird in den Kirchen wie in der Gesellschaft weiter über den Holocaust geschwiegen. Der Ulmer-Einsatzgruppenprozess 1958 gegen die an der Ermordung zehntausender Juden hinter der Front beteiligten Täter und auch der Auschwitzprozess 1963 haben dieses Schweigen in den Kirchen zunächst nicht ändern können. Dass das öffentliche Wort der Kirche zur Judenverfolgung im Dritten Reich ausgeblieben war, wurde nicht reflektiert. Nur wenige haben es wie Karl Barth als Versagen bekannt. Er „bereute es zeitlebens, in der Barmer Erklärung die Juden vergessen zu haben.“20

Um es noch einmal deutlich zu sagen: Leider haben die Kirchen von dieser Vernichtungserfahrung des jüdischen Volkes zunächst weder sich noch ihre Theologie infrage stellen lassen. Auch sie waren von der „Unfähigkeit zu trauern“ (Mitscherlich) bestimmt. Musste man nicht wenigstens fragen, wie kann ein gerechter und gütiger Gott das zulassen, dass das Volk der Erwählung ermordet wird? War der leidende Gott in Auschwitz anwesend? Etwa im Sinne der Geschichte, die Elie Wiesel aus Auschwitz erzählt, als jemand angesichts des Todeskampfes eines erhängten Knaben fragte: „‚Wo ist Gott?‘ Und ich hörte eine Stimme in mir antworten: ‚Wo er ist? Dort hängt er, am Galgen‘.“

Doch die ewige Liturgie wird weiter gesungen trotz der Millionen jüdischer Opfer, die infolge auch der fatalen Logik der christlichen Heilsgeschichte (die Juden sind halsstarrig und schuld am Tod unseres Erlösers, bei den Nazis: sie sind an allem schuld) sterben ‚mussten‘. Das Lob Gottes, der seinen Sohn dahingegeben hat um unsrer Sünde willen, erklingt weiter. Das wird wohl auch nicht anders sein können, wenn die Kirchen ihren Heilskern nicht aufgeben wollen. Immerhin gab es Bußbekenntnisse und eine Veränderung der Theologie in der Hinsicht, dass Israel weiterhin als das von Gott erwählte Volk gilt und sein Glaubensweg anerkannt wird – so in der Synodal-Erklärung der Rheinischen Synode von 1980 und auch in Johannes Paul II Erklärung zu den älteren Brüdern im Glauben 2000.

Aber die Frage, ob Christi Opfer religiös und sozial-kulturell gesehen nicht beschädigt ist, wagte man nicht zu stellen. Sie muss aber gestellt werden. Wie das geschehen kann, dazu verweise auf den jüdischen Philosoph Hans Jonas. Er hat 1983 in seiner Tübinger Rede über den Gottesbegriff nach Auschwitz nachgedacht, um den Gemordeten, darunter seine Mutter, die in Auschwitz starb, „so etwas wie eine Antwort auf ihren längst verhallten Schrei zu einem stummen Gott nicht zu versagen.“ Jonas fragt, was für ein Gott konnte Auschwitz geschehen lassen. Und er antwortet: ein allmächtiger Gott kann es nicht gewesen sein. Vielmehr muss man von einer Verstörung Gottes durch Auschwitz sprechen. Er droht sich aus der Welt zurückzuziehen: „Nachdem er sich ganz in die Welt hineinbegab, hat Gott nichts mehr zu geben: jetzt ist es am Menschen, ihm zu geben (…) darauf zu achten, daß es nicht zu oft geschehe, daß es Gott um das Werdenlassen der Welt gereuen muß. Dies könnte wohl das Geheimnis der unbekannten ‚sechsunddreißig‘ Gerechten sein, die nach jüdischer Lehre der Welt zu ihrem Fortbestand niemals mangeln sollen und zu deren Zahl in unserer Zeit manche der erwähnten ‚Gerechten aus den Völkern‘ gehört haben möchten“. Als Christen müssen wir fragen: Gilt das, was Jonas spekulativ für Gott aussagt, auch für Christus, das Wort, das nach Johannes 1 am Anfang bei Gott war, als Grund und als Sinnmitte der Welt? Müssten nicht auch wir bekennen: Christus, das Wort, ist verstört und es/er bedarf unserer tatkräftigen Unterstützung, damit es/er glaubwürdig in der Welt als erlösende Kraft bleiben kann, damit sein Opfer nicht vergeblich war?

Die EKD hat 1991 endlich in einer Stellungnahme von der Mitschuld der Kirchen an der Shoah gesprochen. Heute versuchen die vielen Gesellschaften für jüdisch-christliche Zusammenarbeit in Deutschland in ihren Veranstaltungen die Fragen der Vergangenheit aufzuarbeiten, Verständnis in den christlichen Gemeinden für den jüdischen Glauben mit seiner Ablehnung Jesu als Messias zu wecken, die Kenntnis über neu erblühtes jüdisches Leben in der Bundesrepublik zu vertiefen und aktuelle Fragen des jüdisch-christlichen Verhältnisses zu thematisieren. Die Warnung vor Fremdenfeindlichkeit und der Protest gegen neuen Antisemitismus, auch den muslimischen, gehören entscheidend dazu. Aber: Ist es nicht mit ein Versagen der kirchlichen Verkündigung, wenn heute jüdische Menschen öffentlich bedroht werden und die Synagogen von der Polizei bewacht werden müssen?!

Das Schweigen der Kirchen angesichts der Shoah hat die christliche Versöhnungsbotschaft schlimm beschädigt. Trotzdem ist die Verkündigung vom gnädigen Gott, der in Jesus unser Heiland und Bruder geworden ist, weiter wirksam. Sie tröstet nach wie vor Millionen Menschen und motiviert Christen zur Solidarität mit den Flüchtlingen und Verfolgten von heute. In der Willkommenskultur waren und sind besonders die Kirchengemeinden aktiv. Die Beteiligung der EKD an der Ausrüstung eines Rettungsschiffs für die Flüchtlinge im Mittelmeer zeigt, dass sie die Konsequenz aus ihrem Versagen vor 80 Jahren gezogen hat.

Zum Schluss eine Antwort auf die Frage: Was ist aus Elisabeth Schmitz geworden, die in den dreißiger Jahren so mutig wie vergeblich das öffentliche Eintreten der Kirchen für die verfolgten Juden gefordert hatte? Sie lässt sich 1939 in den vorzeitigen Ruhestand versetzen. In der Bekennenden Gemeinde Berlin-Friedenau bleibt sie vor allem in der Fürsorge für die jüdischen Mitglieder aktiv. Sie macht ab 1940 Hausbesuche in sog. ‚Judenhäusern‘, um Taufunterricht zu erteilen, was nicht ungefährlich war. Mehrere aktive Mitglieder der BK werden in dieser Zeit verhaftet. In ihrer Wohnung in der Luisenstraße beherbergt sie bis zur deren Zerstörung gelegentlich Menschen, die ein Versteck brauchen. Sie erlebt die Deportationen der jüdischen Gemeindemitglieder – als eine junge Mutter mit ihrem kleinen Kind nach Theresienstadt deportiert wird, „zerreißt es ihr das Herz“, wie sie in einem Vortrag 1950 sagte. 1943 geht sie zurück nach Hanau in das Elternhaus, erlebt dort das Kriegsende. 1946 tritt sie, zunächst nebenamtlich, dann dauernd wieder in den Schuldienst. Vor allem: Im nachtotalitären Biedermeier der Adenauerzeit bleibt sie aktiv in der antifaschistischen Informationsarbeit. Bei einschlägigen Gedenkanlässen ist sie es, die um den Vortrag gebeten wird. So 1950 in ihrer Schule bei einer Gedenkfeier für die Opfer des Faschismus. Sie nennt die ungeheuerlichen Opfer-Zahlen, die allgemein verschwiegen oder sogar bestritten wurden: „Wir wissen von den 6 Millionen, die von den Deutschen ermordet wurden, das ist der dritte Teil aller in der ganzen Welt lebenden Juden gewesen.“ Sie beklagt, dass „wir in den letzten Jahren immer nur damit beschäftigt gewesen sind, uns selbst zu rechtfertigen und alle möglichen Entschuldigungen zu finden.“ Angesichts der antijüdischen Friedhofsschändungen schildert sie noch einmal den Prozess der Ausgrenzung: „Er begann damit, dass die Juden in kein Kino, kein Theater, kein Restaurant gehen durften.“ Und er „endete damit, dass sie nach Polen und das heißt in den Tod deportiert wurden.“ 1958 wird sie pensioniert. Sie stirbt 1977 im Alter von 84 Jahren. Nur sieben oder acht Personen sollen bei ihrem Begräbnis dabei gewesen sein. Doch inzwischen ist Elisabeth Schmitz’ Widerstand von der Wissenschaft erforscht. Es gab eine Tagung zu ihrem Wirken 2007. Die Kirche hat ihre wichtige Rolle anerkannt, so der ehemalige Berliner Bischof und EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber am Bußtag 2002. In einer Gedenkrede zum 9. November 2008 ist sie sogar von Bundeskanzlerin Angela Merkel erwähnt und gewürdigt worden. 2010 erschien ihre Biografie, verfasst von Manfred Gailus. Ihr bezeichnender Titel „Mir aber zerriss es das Herz. Der stille Widerstand der Elisabeth Schmitz.“

Erinnern, Vergessen, Versöhnen – drei Wege um mit Untaten des eigenen Volks umzugehen

Wir leben in einer Kultur des Gedenkens und der Erinnerung. Vergessen gilt meiner Generation, deren Eltern und Großeltern die Verbrechen der Nazizeit lange Zeit beschwiegen und verdrängten, als schlimmes Vergehen. Die deutsche Erinnerungskultur der Nazi-Verbrechen wird von anderen Ländern Europas als vorbildlich angesehen. Sie ist zum Kernbestand deutscher Identität geworden. Aus ihr kann und darf es keinen Ausstieg geben, auch wenn ihre Verordnung von oben von den nachwachsenden Generationen zunehmend als problematisch empfunden wird. Meine Kinder würden den Auschwitz-Gedenktag am 27. Januar aus eigenem Antrieb kaum begehen. Ähnliches gilt für die acht Familien, mit denen ich zusammen in einem Mietshaus wohne. Auch wenn mit dem Berliner Holocaust-Mahnmal und dem Gedenktag 27. Januar die Erinnerung an den Holocaust in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, alltägliche Praxis ist sie nicht; von hoher Verbindlichkeit ist sie „nur“ für die politische Klasse und für hoch sensible, semi-professionelle Erinnerungsgruppen. Der Holocaust ist eine normative Vergangenheit.

„Vergessen führt ins Exil, Erinnern beschleunigt die Erlösung“, dieser Spruch in der Gedenkstätte Yad Vashem, gilt unbedingt. Ich will im Folgenden trotzdem neben das Erinnern das heilsame Vergessen und die praktizierte Versöhnung als Wege vorstellen, mit den Untaten der eigenen Geschichte umzugehen – als Wege, die sich ergänzen.

1. Ist ein geordnetes Vergessen von Untaten möglich? (Der Weg der Griechen)

Vergessen von in Kriegen begangenen Untaten – das ist eine Tradition, die beispielsweise in Friedensverträgen des 17. und 18. Jahrhunderts eine Rolle spielte – ein Vergessen aller schuldhafter Kriegshandlungen. Rechtlich drückt diese Vergessensklausel aus, auf alle Schuldzuschreibungen und Strafmaßnahmen für vergangene Kriegshandlungen zu verzichten. Das bedeutet eine Generalamnestie für die Täter. So auch im § 2 des Westfälischen Friedens von 1648: „Alles sei in ewiger Vergessenheit begraben.“ Im 30jährigen Krieg war es zu schlimmen Verbrechen und Verwüstungen gekommen, man denke nur an die Eroberung Magdeburgs. Trotzdem – um einen Neuanfang zwischen den religiös verfeindeten Parteien zu begründen, musste auch vergessen werden können, durfte nicht stets von neuem aufgerechnet werden. Das ging einfacher, wenn beide Seiten sich etwa gleich viel hatten zuschulden kommen lassen. So der Gedanke hinter dieser Vergessensklausel um des Friedens willen. Er war auf eine bessere Zukunft gerichtet zwischen den Völkern. Noch Kant sagt 140 Jahre später in seiner Schrift Zum ewigen Frieden, erschienen im Jahr 1795, Friedensverträge dürften nicht solche Klauseln enthalten, in denen der Keim zu neuen Kriegen liegt.

Das Leid des einzelnen konnte darin nur begrenzt eine Berücksichtigung finden. Damit musste er persönlich fertig werden. Das ging vor dreihundert Jahren vielleicht noch leichter, weil das meist kurze Leben als von Gott verhängtes Schicksal empfunden wurde, bestimmt von Leid und Entbehrung, mit dem Trost der Entschädigung im Himmel, wie es uns aus den Liedern Paul Gerhardts entgegen klingt.

Der Althistoriker Christian Meier hat in einem bedenkenswerten Essay Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns, erschienen 2010, daran erinnert, dass das Vergessen in der europäischen Geschichte eine wichtige Rolle spielt. Er geht viel weiter zurück – bis zu den Griechen, die diesen Gedanken des Vergessens zuerst entwickelten.

494 vor Christus entfachte eine Tragödie über die Zerstörung der Stadt Milet durch die Perser eine so große Diskussion unter den Bürgern Athens, dass sie umgehend von der Bühne genommen wurde. Das Leid von Milet sollte auf gar keinen Fall öffentlich memoriert werden. Am Ende des Jahrhunderts, nach der Niederschlagung der sogenannten Tyrannis der Dreißig in Athen, wurde das Gebot zu vergessen dann erstmals rechtskräftig. Nach zeitgenössischen Berichten wurden in dem Konflikt damals zweieinhalbtausend Menschen ermordet, unter ihnen 1500 Bürger im rechtlich-politischen Sinn. Das entsprach fünf Prozent der Athener Bürgerschaft. Mit dem Beschluss, diese Vergangenheit ruhen zu lassen und nicht mehr öffentlich an sie zu erinnern, sollten mögliche Rachefehden verhindert werden. Und damit neue Bürgerkriege. Die Griechen hatten dafür eine Formel me mnesikakein, nicht das Schlimme aufrühren, wofür später das Wort Amnestia (NichtErinnerung) benutzt wurde. Dieses Rechtsverständnis hat die europäische Geschichte mehr als zwei Jahrtausende lang geprägt. Es findet sich in der römischen Antike, etwa bei Cicero nach der Ermordung Cäsars im Jahr 44 v. Chr.: Alle Erinnerungen an die Zwieträchtigkeiten seien durch ewiges Vergessen zu tilgen, oblivione sempiterna delendam. Amnestie gab es im Mittelalter, der 30jährige Krieg wurde schon erwähnt. 1814 nach der Niederlage Napoleons erklärte der aus dem Exil zurückkehrende König Ludwig XVIII, „wir haben aus unserer Erinnerung sämtliche Übel, welche während unserer Abwesenheit die Heimat bedrückten ebenso getilgt wie wir wollten, dass man sie aus der Geschichte tilgen könnte.“ Er verzichtete selbst auf die Bestrafung der Königsmörder. Und 1946 rief Winston Churchill in der Züricher Rede zu einem blessed act of oblivion, segensreichen Akt des Vergessens, zwischen den Feinden von gestern auf. Allerdings müssten zuvor die beispiellosen crimes and massacres geahndet werden.

Dieses kluge zukunftsorientierte Vergessen hat eine moderne Gestalt gefunden in der deutsch-französischen Freundschaft. Sie beruht nicht gerade auf einer Vergessensklausel, aber auf dem Ausstieg aus gegenseitiger Revanche, zu dem ein Vergessen der Untaten gehört. Der Erbfeind wird zum Freund symbolisch im Treffen Adenauers mit de Gaulle in der Kathedrale von Reims 1962. Der Freund darf sehr viel später sogar dabei sein, wenn der ehemalige Feind sich des Sieges über ihn freut (so Kanzler Schröder bei dem Gedenktag zur Landung der Alliierten in der Normandie 2004). Lange vorher (1957) machte ich eine Klassenreise nach Nord-Frankreich: Auf einem deutschen Soldatenfriedhof in Neuville St. Vast versuchten wir die Spuren jahrzehntelanger Vernachlässigung ein wenig zu beheben. Hier lagen Angehörige des Regiments meines Vaters, der als 18jähriger am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte. Abends trafen wir uns mit der Dorfjugend und hier war es, wo eine reizende Französin zu mir sagte: Tu es trop aimable. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah, und genoss die Wonnen deutsch-französischer Freundschaft ganz sinnlich. Und als wir dann in Paris waren und ich den Arc de Triomphe, Notre Dame, den Tour Eiffel und die Sainte Chapelle sah und bewunderte, war es mir, als gehörte Paris mir. Ich erlebte, was während des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 Victor Hugo den deutschen Intellektuellen, um sie gegen den Krieg zu begeistern, zugerufen hatte: „Paris ist euer so wie es unser ist.“ Und das ohne Krieg!

Was mit Frankreich funktionierte, konnte angesichts der Ungeheuerlichkeit des Verbrechens am jüdischen Volk im Falle Israels mit den Wiedergutmachungsverträgen, deren Architekt ebenfalls Adenauer war, nicht in gleicher Weise umgesetzt werden. Hier musste es nach der Phase des zeitweiligen Beschweigens und auch des komplizenhaften Vergessens zu zwei weiteren Entwicklungsschritten kommen – dem moralisch-therapeutischen Diskurs ab 1965 mit den Auschwitzprozessen und zu der Wandlung durch Erinnerung, 1985 beginnend mit der Weizsäcker-Rede zum Kriegsende bis zur Einweihung des Holocaust-Mahnmals 2005, in der die „solidarische Erinnerung an nicht Wiedergutzumachendes“ (Habermas) ins Zentrum rückte.

2. Die neue Ostpolitik – Versöhnung zwischen Völkern (Das christliche Modell)

Das Vergessen schuldhafter Kriegshandlungen hat eine unübersteigbare Grenze angesichts solcher Untaten und Verbrechen, die gegen die Menschenrechte gerichtet sind und auf die Vernichtung ganzer Völker hinauslaufen. Die immer grauenhafteren Kriegsverbrechen seit dem Ersten Weltkrieg können nicht mehr durch (an)geordnetes Vergessen aus dem Gedächtnis getilgt werden. Bereits die Kalendergeschichte „Der Husar in Neiße“ Johann Peter Hebels aus dem Jahr 1809 über ein Kriegsverbrechen, verübt von einem preußischen Soldaten in Frankreich, schließt mit dem Merksatz: „Es gibt Untaten, über die kein Gras wächst.“ Seit den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen sind alle Verbrechen gegen die Menschlichkeit, insbesondere der Genozid, von jeder Amnestie ausgeschlossen und können nicht verjähren. Können sie vergeben werden? Chaim Weizmann, der Präsident Israels, hat das 1996 vor dem Bundestag ausgeschlossen. Vielleicht deswegen, weil Vergeben Vergessen beinhaltet.

Es wäre aber auch möglich beides zu trennen, ich vergesse nicht, aber ich vergebe dir. Was zwischen einzelnen möglich ist, nämlich Versöhnung, muss doch auch zwischen Völkern möglich sein. Das sagte die sog. Ostdenkschrift der EKD von 1963 und bereitete damit den Weg für eine neue Ostpolitik. Ihr genauer langer Titel: „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn.“ Wir können nicht ewig Unrecht gegen Unrecht aufrechnen, sagte die Denkschrift. Deutschland hat mit Krieg und Vertreibung begonnen, wollte Polen von der Landkarte tilgen und muss die Folgen, die Vertreibung der Deutschen aus Schlesien, anerkennen. Die Aussöhnung Deutschlands mit den östlichen Nachbarn kann nur gelingen, wenn wir die Oder-Neiße-Grenze anerkennen. Damit brach die Denkschrift mit einem parteiübergreifenden Tabu bundesdeutscher Politik und leitete die neue Ostpolitik ein. Im Gefolge des durch die Ostdenkschrift ausgelösten Umdenkens wandten sich die katholischen Bischöfe Polens in einem Hirtenbrief an die deutsche Bischofskonferenz mit dem Satz: wir vergeben (das massive Unrecht, das Deutschland an Polen beging) und wir erbitten Vergebung (für das Unrecht bei der Vertreibung).

Selbst die Führer der Sowjetunion mit ihren über 22 Millionen (nach neueren Berechnungen sogar 27 Millionen) Kriegstoten haben Deutschland die Hand zur Versöhnung gereicht und uns vergeben. Bei einer Reise in die Sowjetunion 1963 beschämte mich die Freundlichkeit russischer Mütter, die Kinder im Krieg verloren hatten. Dabei ist der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion auch eine Untat, über die kein Gras wachsen kann. Sie darf nicht vergessen werden. Aber auch der Untaten der Sowjetunion nach Kriegsende, man denke an die Vergewaltigungen und an die Lager in der sowjetischen Besatzungszone, in denen tausende zu Tode kamen, muss gedacht werden. Manches kommt erst jetzt ans Tageslicht, weil die ehemalige DDR diese Verbrechen beschwieg. Die Aufarbeitung der Vergangenheit bleibt schwierig und sensibel, zu groß sind die gegenseitigen Verletzungen gewesen. Nicht verleugnen und nicht vergessen, aber vergeben. Ermutigend ist es, dass es junge tschechische Historiker sind, die die Untaten bei der Vertreibung der Sudetendeutschen recherchieren.1

Zu dem christlichen Modell der Versöhnung gehört das südafrikanische Konzept der Wahrheits-und Versöhnungskommissionen. Nach der Abschaffung der Apartheid wurden besonders unter dem Einfluss der Kirchen (Bischof Tutu) Wahrheitskommissionen eingerichtet, die in anderthalb Jahren (zwischen 1996 und 1998) die Vergangenheit des geschehenen Unrechts aufarbeiten sollten: Täter und Opfer sollten sich begegnen, die Täter sollten erzählen, wie sie ins Unrechtsystem geraten waren, was sie dort taten und die Opfer um Verzeihung bitten, ohne dass die Vergehen strafrechtlich verfolgt wurden. Absicht war, so eine gemeinsame Zukunft zu ermöglichen. Also eine Versöhnung, die die Wahrheit nicht verschweigt, eine Art Täter-Opfer-Ausgleich, der aber auf die Gerechtigkeit der Bestrafung verzichtet. Das im Apartheidregime Unterdrückte sollte so ans Licht kommen. Doch oft war es schwierig für die Angehörigen der Opfer, das verbrecherische Geschehen so noch einmal miterleben zu müssen und dann die Täter straffrei ausgehen zu sehen. In diese Methode, von Bischof Tutu entschieden vertreten, wirkt der Weg Jesu hinein, „die Macht des Verzeihens“, die nach Hannah Arendt mit Jesus in die Welt gekommen ist. Es ist ein Kompromiss zwischen solidarischer Erinnerung, Verbrechen ahnender Gerechtigkeit und heilsamem Vergessen. Versöhnung, um das Zusammenleben der ehemals Getrennten zu ermöglichen. Wirklich nicht einfach, wenn man daran denkt, wie schwer es uns fällt, unseren Mitmenschen selbst kleine Ungerechtigkeiten zu verzeihen.

Entstanden ist dieses Modell nach den Unrechts- und Bürgerkriegs-Situationen in Lateinamerika im Übergang von den Militärdiktaturen zur Demokratie – in Chile, Argentinien, Uruguay und Brasilien. Die Opfer dieser Diktaturen beriefen sich dabei auf das Recht der Erinnerung an die Menschenrechtsverletzungen, denen sie ausgesetzt waren. Sie traten als Zeugen auf, die die Täter mit dem von ihnen verübten Unrecht konfrontierten. Das Erinnern ist hier die Bedingung für eine soziale Umwandlung, die auf den politischen Systemwandel folgen muss – um der gemeinsamen Zukunft willen. (Oberflächlich durchgeführte Wahrheitskommissionen können dabei, wie z.B. in Marokko geschehen, gelegentlich mehr zum Verdrängen/Vergessen als zur Aufarbeitung führen.)

Auch die von der Nagelkreuzgemeinschaft der Kathedrale von Coventry ausgehende Versöhnung zwischen den ehemals verfeindeten Engländern und Deutschen gehört zu diesem Weg – im Krieg zerstörte Kirchen verbinden sich über das Nagelkreuz, das nach der Zerstörung der Kathedrale von Coventry durch die deutsche Luftwaffe aufgefunden wurde und das im Austausch der Kirchengemeinden zum Symbol der Versöhnung der ehemals Verfeindeten geworden ist. Erinnern und vergessen im Sinne von: nicht mehr aufrechnen, verzeihen, sich versöhnen wird so sichtbar und weist in die Zukunft.

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