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Eschers Kantonalbahn-Gesetz von 1852 und sein Aufstieg zur Macht
Doch nun wirft der 32 Jahre junge Alfred Escher alle Entwürfe für einen planmässigen Bahnbau in der Schweiz über den Haufen. Schon in den 1840er-Jahren hat er als Studentenführer der liberalen Zürcher Zofingia und als Agitator in der «Akademischen Mittwochsgesellschaft» in der väterlichen Villa einen eigenen Kreis von Anhängern in der «Donnerstagsgesellschaft» gepflegt. Seine ersten politischen Ziele sind erreicht: Der Sturz der konservativen Zürcher Regierung und die «Vernichtung der ultramontanen katholischen Sonderbündler». Aufgewachsen mit Dienstpersonal und erzogen von Privatlehrern in der 1831 vollendeten Villa Belvoir, führt Alfred Escher seinen Familienzweig zum abschliessenden Höhepunkt. 1849 wird er, 29-jährig, liberaler Nachfolger des radikalen Nationalratspräsidenten Steiger und in Zürich Bürgermeister, was später dem Regierungsratspräsidenten entspricht.13 Er gründet die Industrieschule und tritt kämpferisch für ein nationales Hochschul-, Zoll-, Münz-, Post- und Telegrafenwesen ein. In der Eisenbahnpolitik jedoch macht er eine Kehrtwende. «Das Jahrhundert gehört den Advokaten», schreibt Stendhal im 1839 erschienen Buch «Die Kartause von Parma». Alfred Escher hat den richtigen Berufsweg gewählt. Als Jurist erarbeitet er sich in jedem Gebiet redegewandte Kompetenz, wenn es ihm notwendig erscheint, Macht zu gewinnen. Um Escher scharen sich Männer der hohen Finanz und Industrie, dann auch solche, die in dieser Interessengemeinschaft die Chancen eigenen Vorwärtskommens erblicken, Professoren, Literaten und Zeitungsschreiber: so charakterisiert der konservative Luzerner Jurist Philipp Anton von Segesser den Senkrechtstarter aus Zürich. In der Eisenbahnfrage unterliegt Escher vorerst, als die Mehrheit der 1849 gegründeten nationalrätlichen Eisenbahnkommission dem geplanten Bahnbau nach dem Entwurf von Stephenson und Swinburne zustimmt. Doch dann bündelt Escher die Kräfte seiner Anhänger, auch in den Medien. In der entscheidenden Nationalratssitzung zum Eisenbahngesetz vom 8. Juli 1852 obsiegt Eschers Minoritätsentwurf: «Der Bau und Betrieb von Eisenbahnen im Gebiete der Eidgenossenschaft bleibt den Kantonen, beziehungsweise der Privattätigkeit überlassen.»14 Vorgegeben sind lediglich unter anderem der Bau in der Normalspur von 1435 Millimetern, Tarifabgleiche und Privilegien für Post- und Militärtransporte.
Fahrplan der Nordbahn Zürich—Baden im Eröffnungsjahr 1847. Im Jahr darauf werden die vier täglichen Zugspaaren auf drei gekürzt.
SBB Kreisarchiv III 1980.
Die ruinöse Konkurrenz zwischen regionalen Bahnmonopolen
Das im ersten schweizerischen Eisenbahngesetz verankerte Laissez-faire sollte zum ruinösen Kampf zwischen kantonal konzessionierten, privat geführten Unternehmen ausarten. In einem Land, dessen Grösse einem mittleren deutschen Bundesland entspricht, bleibt der Landesregierung für 20 Jahre das Recht für koordinierendes Eingreifen versagt. Der 1852 geschaffene juristische Rahmen fördert zwar endlich den Bahnbau, er führt aber zu regionalen Monopolen und nicht zu einem Wettbewerb, der den Schienentransport verbilligt. Privat finanziert sind die Privatbahnen auch nur zum Teil, überall und gerade auch für Alfred Escher muss die öffentliche Hand Garantien oder Subventionen sicherstellen, besonders für die Gotthardbahn. Die vorerst fünf regionalen Monopole behindern sich an den Schnittstellen gegenseitig, indem sie Güter umladen lassen, statt fremde Wagen zu befördern, indem sie Abkürzungsstrecken bauen lassen, um günstigere Tarife anbieten zu können, indem sie Konzessionen für Konkurrenzstrecken hintertreiben oder indem sie Einführungen von technischen Neuerungen mit juristischen Mitteln verhindern.
Alfred Escher profiliert sich in diesen Auseinandersetzungen als instinktsicherer Machtpolitiker wie auch als lernwilliger Netzwerker. In sein Netz fängt er mittels Ämtern und Stellen auch Oppositionelle wie den radikalliberalen Schriftsteller Gottfried Keller oder den als Kommunisten verschrienen Johann Jakob Treichler. Escher und seinen Mitstreitern gelingt es vorerst, die bestehende «Schweizerische Nordbahn» Zürich—Baden mit der «Bodenseebahn» Zürich—Romanshorn zur Nordostbahn NOB zu fusionieren. Zürich erhält so ab Mitte 1856 als zweite Schweizer Stadt eine internationale Schienenverbindung – vorausgesetzt, dass die Güter in Romanshorn und dem württembergischen Friedrichshafen auf Schiffe umgeladen werden.15
Alfred Escher macht sich mit dem Eisenbahngesetz von 1852 zum Eisenbahnkönig. Denkmal vor dem Hauptbahnhof Zürich.
Foto H. P. Bärtschi 2018.
Gut 15 Monate später nimmt die NOB auch die «Rheinfallbahn» Zürich—Schaffhausen mit Anschluss an die Badische Bahn in den Konzern auf. Sie beherrscht schliesslich den wichtigsten schweizerischen Verkehr von Deutschland ab Basel und Schaffhausen bis Luzern und Glarus. Den letzten Konkurrenten, die «Schweizerische Nationalbahn» SNB mit Sitz in Winterthur, treibt die NOB bis 1880 in den Konkurs und übernimmt die Konkursmasse zu 12,4 Prozent der Bau- und Betriebsmittelausgaben. Die NOB verfügt schliesslich – inklusive Bözbergbahnbeteiligung – über ein Schienennetz von 771 Kilometern. Sie bildet bis zum Zusammenschluss der Berner und der Westschweizer Bahnen den grössten Bahnkonzern des Landes.
In Basel setzen sich am 5. Oktober 1852, kurz nach der Festsetzung des Eisenbahngesetzes, Wirtschaftsvertreter zusammen, angeführt von Ratsherr Carl Geigy. Der Farbstoffindustrielle hat 1850 Stephenson und Swinburne in wirtschaftlichen Fragen beraten. Da nun anstelle des Bundesrats die Kantone Eisenbahnprojekte bewilligen müssen, nutzt Geigy seinen Ruf und Einfluss und gewinnt die beiden Basler Halbkantone sowie die Kantone Aargau und Luzern für den Bau einer «Schweizerischen Centralbahn» SCB Basel—Olten—Luzern. Mit ihm als erstem Präsidenten und ab 1856 als Direktor und dem Engländer Thomas Brassey als Generalunternehmer gelingt der Durchbruch des ersten langen Gebirgstunnels der Schweiz am Hauenstein. Das Streckennetz erschliesst von Frankreich her den Jurafuss, die Zentralschweiz und Bern. Es ist inklusive der Beteiligung an der Aargauischen Südbahn 390 Kilometer lang. Eine von Alfred Escher angeregte Fusion mit der NOB kommt nicht zu Stande, beide Konzerne streben über verschiedene Zufahrtslinien der Transitroute über den Gotthard zu.
Auf St. Galler und Pariser Initiativen gehen die «Vereinigten Schweizer Bahnen» VSB zurück. Wie der Gesellschaftsname verrät, besteht das ursprüngliche Ziel dieses ostschweizerischen Konzerns darin, die Schweizer Bahnen gemäss der Strategie der Gebrüder Rothschild zu vereinigen. 1857 gelingt der Zusammenschluss der Sankt Gallerbahn mit der Glatttalbahn. Die VSB beginnen sofort mit dem Bau der Rheintalbahn Richtung Chur und Lukmanier. Doch nach dem Entscheid, die Alpentransversale über den Gotthard zu bauen, stagnieren die VSB. Sie betreiben Ende des 19. Jahrhunderts ein Regionalnetz vom Rheintal rund um die Voralpen bis ins Zürcher Oberland. Es ist inklusive Toggenburgbahn knapp 300 Kilometer lang. Die nie vollendete Ostalpenbahn aber bleibt eine Hypothek der Sankt Galler, ihnen fehlt lange Zeit die internationale Transitachse, die schliesslich mit dem Bau der Arlbergbahn eine andere als die ursprünglich vorgesehene Richtung nimmt.16
Im Berner und im Westschweizer Einflussgebiet schliessen sich die Bahnen erst spät zum Bahnkonzern «Jura—Simplon» JS zusammen. Alfred Eschers fast gleichaltriger Gegenspieler Jakob Stämpfli ist wie jener Jurist und Vollblutpolitiker, jedoch auf radikaler Seite. Er favorisiert ein staatlich geplantes und gebautes Eisenbahnnetz. Ihm bleibt nach dem Erlass des Eisenbahngesetzes 1852 nichts anderes übrig, als sich statt im nationalen nun im kantonalen Rahmen für den Bahnbau einzusetzen.
Fünf Jahre später liegt der Bericht über ein bernisches Eisenbahnwesen vor. Zu spät, um den Baslern die Stirne bieten zu können. Diese haben bereits 1853 eine Linie über Burgdorf bis Thun konzessionieren lassen. Nun suchen die Berner eine Route für eine zweite schweizerische Haupttransversale vom Jura auf «Abwegen» durch das Emmental und das noch dünner besiedelte Entlebuch Richtung Luzern und Zürich. Finanziert mit einem Extrakredit der Berner Regierung eröffnet diese «Ost—West-Bahn» OWB am Ufer des Bielersees 1860 ihr erstes Teilstück. Ein halbes Jahr später ist die Gesellschaft zahlungsunfähig. Umgerechnet 250 Millionen Franken sind bereits im Abschnitt Bern—Langnau verbaut. Die OWB erhält im Volksmund den Übernamen «Oh weh»-Bahn.
Doch dank Stämpflis Omnipotenz wird die OWB am Tage ihrer Liquidation gleich Phönix aus der Asche zur «Bernischen Staatsbahn» BSB. Sie übernimmt die Konkursmasse der OWB zu einem Fünftel der Baukosten. Mit weiteren Staatsmitteln schafft die BSB immerhin noch die Anschlüsse an die Basler Centralbahn in Zollikofen und Gümligen, weit entfernt davon, eine zweite schweizerische Transversale anbieten zu können. Die Fortsetzung Richtung Zürich wird erst Jahre später, 1875, von der «Bern—Luzern-Bahn» BLB vollendet. Ab Luzern übernehmen die Zürcher das Zepter. Den Bernern bleiben trotz weiteren Berner Steuergeldzuschüssen nur Schulden und Kostenüberschreitungen; 1876 wird der Konkurs verhängt. Der Kanton Bern übernimmt die BLB zum halben Baupreis. 1884 entsteht durch Fusion die «Jura—Bern—Luzern-Bahn», die 1890 mit den Westschweizer Bahnen in der «Jura—Simplon-Bahn» JS aufgeht. Das Streckennetz von 937 Kilometern umfasst auch die meterspurige Brünigbahn, die bereits früh mit internationalen Anschlüssen realisierten Jurabahnen und die Verbindungen vom Wallis über Genf nach Paris und Lyon zum Mittelmeer.17 Die JS bringt zwar noch den Simplon-Vertrag zustande, kann diesen längsten Tunnel der Welt aber nicht mehr zur Privatbahnzeit vollenden.
In Konkurrenz vor allem zur NOB entsteht das Projekt für eine «Schweizerische Nationalbahn» SNB. Das Ziel ist der Bau einer ersten zusammenhängenden Bahn zwischen dem Boden- und dem Genfersee mit Ästen nach Basel, Singen, Zürich und Aarau. Die regionalen Transportmonopole der Privatbahnkonzerne St. Gallens, Zürichs und Basels sollen gebrochen werden. Politisch basiert dieses Projekt auf der Opposition der Winterthurer Demokraten und der Berner Radikalen gegen die Liberalen. Sie nutzen die Unzufriedenheit der Öffentlichkeit nicht nur mit den Privatbahnkonzernen, sondern ganz speziell mit Alfred Escher als Eisenbahnkönig. Die 1864 ausbrechende Wirtschaftskrise verschärft die Situation. 1867 verlangen die Winterthurer Demokraten auf Landsgemeinden vorerst eine kantonale Verfassungsrevision, danach auch eine eidgenössische. Ihr spezielles Ziel ist die Ablösung des Eisenbahngesetzes von 1852 durch eine Regelung, welche die Bewilligung für den Bau neuer Bahnlinien von den Kantonen auf den Bund überträgt und auch Schmalspurbahnen zulässt. Das neue Eisenbahngesetz tritt 1872 in Kraft. Im Kanton Zürich übernehmen die Demokraten die Macht, sie lassen das Nationalbahnprojekt sofort so weit wie möglich konzessionieren. Die Ostsektion führt von den deutschen Städten Konstanz und Singen nach Winterthur. Neben dem Rheinviadukt bei Hemishofen erstellt die SNB die zweitlängste Eisenbrücke der Schweiz über die Thur bei Ossingen und präsentiert sie 1876 stolz bei der Weltausstellung in Philadelphia. Die Westsektion hätte über Zürich in die Westschweiz führen sollen. Schon im Gründerjahr beantragt die SNB bei der Bundesversammlung den Bau eines Kopfbahnhofs in Zürich. Die bestehenden Bahnkonzerne reagieren, indem sie ihre Linien mit alten Prioritätsrechten konzessionieren lassen, um der SNB den Weg abzuschneiden. Allen voran unternimmt die Nordostbahn alles, um das Nationalbahnprojekt durch Juristereien, technische und wirtschaftliche Schikanen zu verunmöglichen. Als die Strecke bis Zofingen auf 157 Kilometer Länge gebaut ist, kollabiert die SNB infolge laufender Projektänderungen und sehr schlechter Betriebsergebnisse.18 Am 20. Februar 1878 wird die Zwangsliquidation verfügt.
Die hauptsächlich mit Steuergeldern finanzierte SNB geht mit allen Bauten und dem Rollmaterial zum erwähnten Achtel aller Investitionskosten an die feindliche NOB. Für Winterthur und viele nunmehr schwer verschuldete Gemeinden entlang der SNB beginnt eine oft jahrzehntelange Depression. Die Demokraten verlieren ihre Kantonsrats- und Regierungsmehrheit wieder an die Liberalen. Aber auch die alten Privatbahnkonzerne haben überinvestiert, sie erwirtschaften statt Renditen Verluste, die Aktienkurse fallen auf einen Tiefststand.
Die Gotthardbahn und Eschers Machtzerfall
Mit der Übernahme der Zürich—Zug—Luzern-Bahn aus der Konkursmasse der OWB ändert Alfred Escher seine Alpenbahnstrategie: der Gotthard und nicht mehr der Lukmanier ist nun sein Ziel. Auch international hat sich die Situation verändert. Im Süden ist 1859–1861 das Königreich Italien entstanden, im Norden mit dem Sieg über Frankreich 1871 das deutsche Kaiserreich. Alfred Escher bemüht sich erfolgreich, die Schweiz aus diesen Konflikten herauszuhalten. Er nutzt die neue Konstellation und beruft bereits 1869 die internationale Gotthardkonferenz ein. Ende 1871 entsteht als fünfter schweizerischer Bahnkonzern die Gesellschaft der «Gotthardbahn» GB. Doch die Baukosten werden unrealistisch tief eingeschätzt. Die Überschreitungen können auch nach zwei exorbitanten Rücktrittsentschädigungen für die Oberingenieure Robert Gerwig und Wilhelm Hellwag nicht eingedämmt werden. Die Umprojektierung – steilere Rampenstrecken, engere Kurven und nur einspuriger Ausbau – bedarf dennoch einer Zusatzfinanzierung. Zahlen sollen das Private, Deutschland, Italien und die Schweiz – und dies mitten in der 1877 ausgebrochenen Eisenbahnkrise. Die Zürcher Stimmbürger lehnen die Nachfinanzierung ihres Anteils aus Steuergeldern ab. Ausschlaggebend sind dieses Mal nicht Auseinandersetzungen zwischen Demokraten und Freisinnigen, sondern solche innerhalb des freisinnigen Lagers, vor allem zwischen den zwei einstigen Busenfreunden: Bundesrat Emil Welti und Alfred Escher. Der Eisenbahnkrach beendet Eschers Glanzjahre; er tritt in den 1870er-Jahren aus der operativen Leitung der drei wichtigsten von ihm aufgebauten Firmen zurück: aus der GB, aus der NOB und aus deren Hausbank, der Schweizerischen Kreditanstalt. Dennoch zieht der nimmermüde, aber oft kranke Macher und Machthaber die Fäden weiterhin. Kein anderer Schweizer hat die Machtfülle von Alfred Escher je wieder erreicht. Sein nach Ernst Gagliardi19 wichtigster Biograph, Joseph Jung, fasst sein Leben in drei Worten zusammen: Aufstieg, Macht und Tragik.20 1882 stirbt Alfred Escher mit rund verfünffachtem Vermögen, jedoch aufgebraucht und ausgebrannt, unter anderem an Furunkeln – wie ein Jahr später in London der verarmte Karl Marx. Einen Heldentod bei einer Baustellenbesichtigung im Gotthardtunnel hingegen findet Louis Favre, der 1872 in der Ausschreibungskonkurrenz einen zeitlich nicht erfüllbaren Vertrag mit ruinösen Konventionalstrafen für den Fall von Bauverzögerungen unterschrieben hatte. Der Rückstand kann auch durch Einsatz neuester Sprengtechnik mittels Dynamit und trotz miserabler Arbeitsbedingungen nicht wettgemacht werden. Am Gotthard sprengt sich Helvetia mit verbundenen Augen 15 Kilometer lang durch Granit, Gneis, und Sedimente, der deutsche Kaiser hält ihre Hand. Die zehn statt der versprochenen acht Jahre Bauzeit entwickeln sich zur finanziellen, politischen und menschlichen Katastrophe.
Der Bund delegiert die Konzessionsbefugnis auf die Kantone, es entstehen fünf regionale Monopole, u. a. die Centralbahn.
Foto H. P. Bärtschi Sissach 1979.
Die Gotthardbahn gerät 1877 mit allen anderen schweizerischen Privatbahnen in die Krise. Der Aktienkurs stürzt bei der Gotthardbahn von maximal 652 auf 104 Franken ab. Der Bau allein des Gotthardtunnels fordert 319 Menschleben, nicht eingerechnet die ungezählten nach Hause geschickten und dort an Tuberkulose und Hakenwürmern verstorbenen Kranken.21
1882 wird der durchgehende Verkehr auf der Gotthardbahn aufgenommen.22 Der private, stark von Deutschland und Italien finanzierte Gotthardbahnkonzern betreibt schliesslich ein Netz von 273 Kilometern Länge. Die Gesamtkosten betragen – ohne Zufahrtslinien – 230 Millionen Franken, was in dieser Zeit mehr als dem 15-fachen der jährlichen Einnahmen des Bundes entspricht.
Güterwagen mit Nordostbahn-Lagerbüchse und neuerem Schalengussrad. Solche Räder will die Nordostbahn der Nationalbahn SNB «aus Sicherheitsgründen» verbieten; die SNB muss ihre Ladungen auf Wagen mit Speichenrädern umladen.
H. P. Bärtschi 1967.
Börsenspekulationen, Privatbahnkonzerne und der Eisenbahnkrach
Die Aussicht auf Gründergewinne und hohe Kapitalrendite ist die Triebfeder des Privatbahnbaus. Doch die Möglichkeit, immer mehr Wertpapiere zu emittieren, geht noch nicht ins Unendliche.
Spekulanten als Bahnpioniere
Sowohl die führenden Kreise aus Zürich als auch diejenigen von St. Gallen klopfen an die Türen des grössten Eisenbahn-Investors, des Bankhauses Rothschild. Fünf Söhne des jüdischen Bankengründers betreiben das Stammhaus in Frankfurt und Filialen in Wien, London, Neapel und Paris, die Diamantenminen de Beer und – bis heute – die Weingüter Mouton und Lafitte. Zum Imperium der Gebrüder Rothschild in Paris gehören die Eisenbahngesellschaften «du Nord», «Paris—Lyon—Méditerranée», «Lyon—Genf», grosse Anteile an den österreichischen und oberitalienischen Eisenbahnen. Selbst in Sizilien, Spanien und Russland beteiligen sich die Rothschilds massgebend am Eisenbahnbau. Aber 1852 fehlen noch die Verbindungen in Zentraleuropa. Noch vor den Sankt Gallern tritt Alfred Escher in Verbindung mit den Rothschilds und bietet ihnen mit der Nordostbahn-Beteiligung nichts weniger als «das beste unserer schweizerischen Geschäfte» an. Die Rothschilds steigen gemeinsam mit dem Genfer Bankhaus Bartolony ein, verlangen zwei Fünftel der Verwaltungsratssitze in der Nordostbahn und die Fusion mit den anderen geplanten schweizerischen Eisenbahnen zu einem einzigen Konzern. Zudem wird die Emission weiterer Aktien von der Zustimmung der Rothschilds abhängig gemacht. Daran hält sich Escher jedoch nicht. Er vermacht weitere Aktienpakete dem Feind der Rothschilds: Isaac Péreire, ehemaliger Makler bei Rothschild. Sein boomendes Bankgeschäft kontrolliert 1853 zusammen mit Oppenheimers Darmstädter Bank die Eisenbahngesellschaften «du Midi», «de l’Ouest», «de l’Est», Grand Central und Schifffahrtsgesellschaften. Péreires «Crédit mobilier» macht der NOB ein Angebot mit weniger Bedingungen bezüglich der Einflussnahme als die Rothschilds. So kommt es denn zum Prozess der Rothschilds gegen die Nordostbahn. Der Eisenbahnkrieg vergifte und spalte je länger desto mehr auch die Freisinnige Partei, bemerkt ein zeitgenössischer Kritiker Eschers, «und im Hintergrund lauern gleich unheimlichen Gespenstern die fremden Geldmächte, die man um der Eisenbahn willen ins Land gerufen hat».
Eine frühe Simplonbahn lässt 1867 Obligationen für eine Verbindung «Angleterre—Suez—Arabie» zeichnen.
Slg. HPB Stiftung Industriekultur.
Escher stellt sich dem Problem, indem er zur Finanzierung seiner Eisenbahnpläne eine eigene Kreditbank aufbaut. Mit seinen NOB-Direktoren Fierz und Rüttimann und dem Schweizer Konsul in Leipzig, dem Kontaktmann zur Allgemeinen deutschen Kreditanstalt, Hirzel, bildet er 1856 den Ausschuss für die Gründung der «Schweizerischen Kreditanstalt» SKA. Die deutsche Kreditanstalt beteiligt sich mit 50 Prozent am Gründungskapital und erhält zwei von 15 Verwaltungssitzen. Die Aussicht auf riesige Gründergewinne, wie sie durch Péreires Kreditanstalt bekannt geworden sind, lockt fast alles verfügbare Kapital in der Schweiz zusammen. Statt drei Millionen Franken werden 218 Millionen gezeichnet. Dank dieser 72-fachen Überzeichnung können die Bauarbeiten an der Bodenseebahn forciert und zusätzliche Investitionen in die Doppelspur Baden—Zürich—Wallisellen gemacht werden. Die Hausbank der NOB entwickelt sich zur grössten Schweizer Bank, zur «Crédit Suisse» CS. Die St. Galler aber bleiben in Abhängigkeit von den Gebrüdern Rothschild, die Basler finden in der Region genügend eigenes Kapital und die Berner machen mit ihrem Staatsbahnkonzept zwei Mal Konkurs. Das will nicht heissen, dass die vermeintlich reinen Privatbahnkonzerne nicht auch die öffentliche Hand für ihre Risiken belangen.