Kitabı oku: «Die große Illusion»

Yazı tipi:



Hans von Trotha

Die große Illusion

Ein Schloss, eine Fassade und ein Traum von Preußen


Nachrichten von der Website

Vorspiel auf dem Theater

Ceci n’est pas un château?

Bauten und Botschaften

Nation und Nationalismus

Kontrafaktische Architektur

Wenn Residenzen reden könnten

Resonanzraum Stadt

Feuilleton

Berlin – Wachstum und Abriss

Sehnsucht, Unlust, Camouflage

Rückkehr nach Preußen

Noch ein Palast

Ein Wettbewerb und seine Verlierer

Gewölbte Hohlräume

Pomp and Circumstance

Restaurative Romantik

Ein Kreuz ist ein Kreuz ist ein Kreuz

Volk und Wissenschaft

»Fight the Building«

Nachweise

Zitierte Literatur

Nachrichten von der Website

»Berlin, 8. März 2020. Am Mittwoch Vormittag brach gegen 10:00 Uhr im Schlüterhof des wiederaufgebauten Berliner Schlosses ein Feuer aus. Dichte schwarze Rauchwolken zogen durch Berlin Mitte. Auf der Baustelle des Humboldt-Forums war ein Kocher für Gussasphalt in Brand geraten. Das Feuer breitete sich aus und griff auf einen zweiten Kocher über. Durch die Hitzeentwicklung explodierte auch eine Gasflasche. Als Folge des Brandes sind am Portal I des Gebäudes deutliche Rußspuren zu sehen. Nach Aussage der Berliner Feuerwehr wurde ein Arbeiter mit Verdacht auf Rauchvergiftung behandelt. Weitere Personen kamen nicht zu Schaden. Im Einsatz waren rund 80 Kräfte. Die Bauarbeiten werden planmäßig fortgesetzt.«

»Auf die Kuppel des weitgehend fertiggestellten Berliner Schlosses ist am Freitag, den 29. Mai 2020 mit hohem technischen Aufwand das Kreuz aufgesetzt worden. Somit entspricht die rekonstruierte Schlosskuppel dem Erscheinungsbild von 1853 bis zur Sprengung durch die DDR im Jahr 1950. Das 17,4 Tonnen schwere Ensemble aus Balustrade mit acht Engeln sowie Dach aus Palmwedeln mit Reichsapfel und dem Kreuz erhöht das nun nahezu fertiggestellte Bauwerk auf 68 Meter. Das heikle Unterfangen zog sich bis in die Abendstunden und wurde von hunderten, teilweise applaudierenden Schaulustigen begleitet.«

Zwei Meldungen, an die sich die eine oder der andere vielleicht erinnern wird, von denen uns die eine im Folgenden nicht, die andere sehr wohl noch beschäftigen wird. Was sie von anderen Meldungen rund um Deutschlands vielfach so genannte größte Kulturbaustelle unterscheidet, ist ihre Quelle. Sie sind unter den Überschriften Brand im Berliner Schloss/Humboldtforum und Wiederaufrichtung des Kuppelkreuzes auf dem Berliner Schloss online abrufbar (Stand Februar 2021), und zwar auf der Website Preussen. de – Die offizielle Seite des Hauses Hohenzollern und dort unter der Rubrik Neuigkeiten. Aktuelle Ereignisse um das Haus Hohenzollern. Dessen Vorstand, Prinz Georg Friedrich von Hohenzollern, Urenkel Kaiser Wilhelms II., hat den Bau des Humboldt Forums mit einer vorgeblendeten Nachschöpfung der historischen Barockfassade des Berliner Schlosses und der Mitte des 19. Jahrhunderts hinzugefügten Kuppel schon zu einem früheren Zeitpunkt als »lohnende Investition« bezeichnet. »Über die Entscheidung, die historische Mitte Berlins in dieser Form aufzuwerten, freue ich mich sehr«, sagte der Prinz 2007 der Leipziger Volkszeitung. Bei dieser Gelegenheit gab er übrigens auch zu Protokoll, dass er ein politisches Mandat »derzeit nicht« anstrebe. (Berliner Morgenpost, 24.7.2007)

Vorspiel auf dem Theater

Wäre jemand nach hundertjährigem Dornröschenschlaf zu jenem Zeitpunkt wieder aufgewacht, zu dem dieser Essay erscheint, sie oder er hätte wahrscheinlich nicht schlecht gestaunt über die sogenannte Berliner Republik des Jahres 2021: Das Schloss und der Prozess. Als habe Franz Kafka Pate gestanden, erhitzten, neben anderen, zwei Debatten die Gemüter, in denen es am Ende, wenn auch auf unterschiedliche Art und Weise und aus jeweils ganz anders gelagerten Gründen, aber dann eben doch um die Hohenzollern ging, die ehemalige deutsche Herrscherdynastie.

Da ist die mit enormem Aufwand nachgeschaffene Fassade einer Hohenzollern-Residenz als städtebauliche Kernaussage des wichtigsten Kulturprojekts der demokratischen Bundesrepublik; da ist ein Historikerinnen- und Historikerstreit, in dem die Vorzüge des deutschen Kaiserreichs gegen die Warnungen vor einer heiklen Diskursverschiebung ins Feld geführt werden, die nationalistischen Tendenzen in die Hände spielen würde; und da ist ein über lange Zeit diskret bis geheim behandelter drohender Rechtsstreit: die Republik gegen die ehemalige Herrscherdynastie, beziehungsweise umgekehrt – oder, wie es Jan Böhmermann in einer legendär gewordenen Folge seiner Sendung Neo Magazin Royale im Jahr 2020 formuliert hat:

»Unter uns – so schrecklich das Gebiss von Alexander Gauland ist, das ist nicht das größte Verbrechen, das wir Deutschen in unserer Geschichte begangen haben. Wer ein bisschen im Geschichtsunterricht aufgepasst hat oder nachts mal bei n-tv hängengeblieben ist oder bei Phoenix, dann kennt man das: Krieg hier, Völkermord da, na ja. Deutschland halt. Wir haben halt, historisch, wir haben ein bisschen Scheiße gebaut, um es mal wissenschaftlich auszudrücken. Wir haben Scheiße gebaut. Verständlich, dass heutzutage viele sagen: Ey Deutschland, du hast Scheiße gebaut! Wir wollen entschädigt werden. Die Juden, Sinti und Roma, die Länder Polen und Griechenland, das Volk der Herero aus der ehemaligen deutschen Kolonie ›Deutsch Südwest Afrika‹ – der erste Völkermord Deutschlands, an den Herero! Das war unser erster Völkermord, noch unter dem Kaiser. Alle wollen entschädigt werden. Die Liste ist unglaublich lang. Und die deutsche Haltung ist meistens von offiziellen Stellen: Hmm, interessant. Ist natürlich sehr schrecklich. Können wir nachvollziehen, aber Ihr kriegt natürlich gar nichts. Also Ihr nicht, Ihr Opfer Deutschlands! Aber ein Mann, der gibt nicht auf. Der will entschädigt werden. Gut, der ist jetzt nicht unbedingt ein Opfer, aber trotzdem: Er will entschädigt werden von Deutschland und geht deswegen dahin, wo es wehtut. Denn er hat – Eier aus Stahl! Es geht um Dich: Georg Friedrich Prinz von Preußen.«

Es geht um ein Gesetz aus dem Jahr 1994, das festschreibt, dass Enteignungen, die nach dem Zweiten Weltkrieg unter der sowjetischen Besatzung des Territoriums der späteren DDR in der Zeit von 1945 bis 1949 vollzogen wurden, nicht rückgängig gemacht, wohl aber zu einem späteren Zeitpunkt entschädigt werden sollten; bewegliche Güter seien zurückzugeben. Tatsächlich durften die Hohenzollern nach ihrer Absetzung eine große Zahl an Wertgegenständen und Immobilien als Privateigentum behalten. Dieser ausgesprochen milde Umgang der Juristen im Innenministerium der Weimarer Republik könnte damit zu tun haben, dass sich die entsprechenden Verhandlungen lang hinzogen, bis 1926. Da war das Vertrauen in die Institution der noch jungen Republik schon im Schwinden begriffen. Abgesehen davon, dass man im Berliner Innenministerium der Jahre 1918 bis 1926 mit einiger Wahrscheinlichkeit noch den einen oder anderen Monarchisten angetroffen haben dürfte.

Die im Einigungsvertrag in Aussicht gestellten Entschädigungen werden auf Antrag hin fällig. Es ist also durchaus eine politische, gesellschaftliche und nicht zuletzt historische Entscheidung, keineswegs eine Selbstverständlichkeit, wenn die Familie Hohenzollern sich hier als Erbin wertvoller Immobilien und Kunstgegenstände versteht, die ihr die Republik einst überlassen hat. Das ist durchaus von gesellschaftlicher Bedeutung, da die Restitutions-Regelung eine Klausel enthält, der zufolge der entsprechende Anspruch auf Entschädigung nicht geltend gemacht werden kann, wenn der damalige Eigentümer dem Nationalsozialismus »erheblich Vorschub geleistet« hat. Für die Auffassung aber, dass führende Mitglieder der Familie Hohenzollern dem Nationalsozialismus durchaus Vorschub geleistet haben, gibt es unter Historikerinnen und Historikern Argumente. Für die gegenteilige Auffassung auch. Hierzu verfasste Gutachten von vier Historikern wurden in der bereits erwähnten Folge von Jan Böhmermanns ZDF Magazin Royale geleakt und sind seitdem auf der Website Hohenzollern.lol einsehbar.

In der Sendung Kulturfragen im Deutschlandfunk hat der Historiker Eckart Conze im Interview seine Sicht der Dinge so dargelegt: »Wilhelm von Preußen, der Kronprinz, (…) war sehr erheblich verstrickt mit dem aufsteigenden Nationalsozialismus bereits vor 1933, aber auch dann nach dem 30. Januar 1933. (…) Das ist das Urteil des Historikers. Juristen folgen in diesen Dingen einer eigenen, einer juristischen Logik, der ich nicht vorgreifen kann. Aber man muss doch schon feststellen, dass die historische Logik, die historische Analyse überhaupt keinen Zweifel an der Tatsache zulässt, dass Kronprinz Wilhelm, aber im Übrigen auch sein jüngerer Bruder August Wilhelm, dem Nationalsozialismus erheblichen Vorschub geleistet haben.« (www.deutschlandfunk.de)

Conze ordnet den Umgang der Bundesrepublik Deutschland mit der Herrscherdynastie des Deutschen Reichs bis 1918 in eine Veränderung des gesellschaftlichen Klimas ein: »Dass die Hohenzollern derzeit so selbstbewusst und zum Teil auch offensiv ihre Forderungen erheben, hat auch etwas zu tun mit einem veränderten oder in Veränderung befindlichen geschichtspolitischen Klima, in dem die Geschichte dieses ersten deutschen Nationalstaats, des Kaiserreichs, doch in ein weicheres Licht getaucht wird seit einigen Jahren, in dem nicht die Kriegsgeburt dieses Reiches im Krieg gegen Frankreich, dieser aggressive Charakter des Nationalstaates, dann erst recht nach 1890 im Wilhelminischen Zeitalter, aber auch die autoritären Strukturen dieses Systems im Mittelpunkt stehen, sondern wo es Kräfte gibt (…), ein weicheres Bild zu zeichnen und dieses Kaiserreich als Nationalstaat anschlussfähig zu machen auch für die Bundesrepublik, des neuen Nationalstaats seit 1990.«

Die Rechtsprofessorin Sophie Schönberger bilanzierte Ende 2019 in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung: »Die Gespräche mit den Hohenzollern verstetigen einen Geburtsfehler der Republik. (…) Dieses zombiehafte Fortleben der Monarchie weit nach ihrem Untergang zeigt an, wie sehr die deutsche Republik bis heute daran leidet, dass sie bei ihrer Gründung nicht konsequent mit ihrem monarchischen Erbe gebrochen hat.«

Auf Deutschlandfunk Kultur ergänzte sie: »Die Verhandlungen mit den Hohenzollern zeigen am Ende, dass die Bundesrepublik in gewisser Weise noch ein ungeklärtes Verhältnis zur Monarchie hat.« Und sie sagte: »Der Schlossbau in Berlin ist ein hochsymbolischer Akt, der diese ganzen ungewöhnlichen Konflikte, dieses ganze Thema der Monarchie wieder ins Zentrum Berlins rückt, und zwar städtebaulich, aber auch höchst symbolisch. Die Idee kommt ja aus den neunziger Jahren aus einer Zeit, als die Monarchie oder zumindest der Glanz der Monarchie noch ein gewisses Revival erlebt hat in der Bundesrepublik. Diese Zeiten sind jetzt vorbei, und trotzdem wird gerade jetzt das Schloss in dieser Form neu aufgebaut. Das ist eine symbolische Entscheidung, eine große symbolische Entscheidung mit Strahlkraft, die man nicht alleine auf eine städtebauliche Entscheidung reduzieren kann, sondern die Monarchie wird auf einmal höchst symbolisch als neu erschaffenes Gebäude ins Zentrum der neuen Republik gerückt.«

Pünktlich zum 150. Jahrestag der Reichsgründung von 1871 im Januar 2021 ist diese Fassade fertig geworden. 50 Jahre zuvor, anlässlich der 100. Wiederkehr des Jahrestags der Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles im Januar 1971, gedachte SPIEGEL-Herausgeber Rudolf Augstein des Deutschen Reichs in einem Kommentar. Im Sommer 1970 war die Ostpolitik der SPD im Bundestag angenommen worden, im Dezember war Willy Brandt in Warschau auf die Knie gefallen. Im Januar 1971 schrieb Rudolf Augstein im SPIEGEL: »Mir scheint, das Deutsche Reich, 1870/71 gegründet, ist 1970/71 gestorben. Es war schon längst untergegangen, aber was in den Wünschen und Herzen der Menschen lebt, ist nicht tot. Seit eine frei gewählte deutsche Regierung Deutschlands Ostgrenzen und den zweiten deutschen Staat anerkannt hat, ist alle Luft aus den Illusionen heraus. 100 Jahre sollst du leben! Das Bismarck-Reich erst als Realität, dann als Reise in die Vergangenheit, dann als Illusion ist genau 100 Jahre alt geworden. Im Jahr 1970 ist es dahingeschieden.«

Im Jahr 2021 nun ist die repräsentative Mitte dieses Deutschen Reichs als architektonische Illusion wiedererstanden. Es hatte zahlreiche Bauverzögerungen gegeben, also könnte man von einem Zufall sprechen. – Aber kennt die Geschichte die Kategorie des Zufalls?

Festzuhalten ist, dass die Debatte um die Restitution von Kulturgütern an die Familie Hohenzollern ebenso wie die Debatte um vermeintliche oder tatsächliche Renationalisierungstendenzen in der Gesellschaft der Berliner Republik vor der monumentalen Kulisse einer frisch wiedererrichteten Hohenzollern-Fassade in der Mitte der deutschen Hauptstadt zur Aufführung kamen.

Wie konnte es dazu kommen?

Ceci n’est pas un château?

»Blendfassade: Nicht zu verwechseln mit Vorhangfassade oder Verblendern. Der Begriff Blendfassade bezeichnet eine dem Gebäude lediglich vorgeblendete Fassade, die entweder nicht Teil der Tragstruktur ist, so dass sie leicht entfernt und erneuert werden kann, oder die einen Eindruck vermittelt, der aus verschiedenen Gründen nicht zum dahinter befindlichen Gebäude passt. So kann die Fassade die Funktion oder die Struktur des Gebäudeinneren verschleiern.« (Wikipedia)

»Camouflage (französisch ›Verschleierung‹) steht für:

– militärische Tarnkleidung und -anstriche, siehe Tarnung

– eine Technik der Abwehr (Sozialpsychologie)«

(Wikipedia)

»Illusion. Im engeren Wortsinn ist eine Illusion eine falsche Wahrnehmung der Wirklichkeit. In einem weiteren Wortsinn werden auch falsche Interpretationen und Urteile als Illusion bezeichnet. (…) In der psychiatrischen Fachsprache wird unter einer Illusion eine Sinnestäuschung verstanden. In Fällen, in denen bei der Wahrnehmung wirklich Vorhandenes als etwas anderes erlebt oder für anderes gehalten wird, als es tatsächlich ist, wird von ›illusionärer Verkennung‹ gesprochen. Illusionen stellen damit eine verfälschte wirkliche Wahrnehmung dar. So wird z. B. ein Baumstumpf als eine sich hinkauernde Gestalt verkannt oder die zweidimensionale Abbildung eines Gegenstandes mit dem dreidimensionalen Gegenstand selbst verwechselt. Illusionen unterscheiden sich deutlich von Halluzinationen, die Wahrnehmungserlebnisse darstellen und damit wie Sinneseindrücke erlebt werden, obwohl sie auf keine entsprechende Reizquelle bezogen werden können. Als Wahn bis hin zur Wahnwahrnehmung wird dagegen nicht eine Wahrnehmung, sondern eine Fehlbeurteilung der Realität bezeichnet, sozusagen eine falsche Meinung darüber, die – ähnlich einer festen Überzeugung oder fixen Idee – mit einer von der konkreten Erfahrung unabhängigen Gewissheit vertreten wird. An dieser wird gleichzeitig mit unbeeinflussbarer, unerschütterlicher Sicherheit festgehalten, auch wenn sie im Widerspruch zur Wirklichkeit und selbst zur bisherigen eigenen Erfahrung einschließlich der von anderen Menschen und deren gesamten Denken und Meinen steht.« (Wikipedia)

»Ceci n’est pas un château.« (Schriftzug in goldenen Lettern über dem Haupteingang des Potsdamer Landtags, dessen Fassade die Barockfassade des zu DDR-Zeiten abgetragenen Potsdamer Stadtschlosses imitiert)

»Es ist kein ander Heil, es ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, denn der Name Jesu, zu Ehren des Vaters, daß im Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Kniee, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind.«

(Schriftzug in goldenen Lettern über dem Haupteingang zum Humboldt Forum, dessen Fassade die Barockfassade des zu DDR-Zeiten gesprengten Berliner Schlosses imitiert)

Bauten und Botschaften

Es ist die größte Projektionsfläche Berlins. Und sie hängt nicht vor der Stirnwand eines Kinos, sondern mitten in der Stadt vor einem monumentalen Neubau. Dessen erster, in den Augen seiner Initiatoren wichtigster, für viele letzten Endes einziger Zweck war es ursprünglich, eine ganz bestimmte Fassade zu tragen – die nämlich, die er heute trägt. Was sich hinter dieser Fassade abspielt, also in dem Gebäude, das entsteht, wenn eine Fassade errichtet wird, war zunächst weder klar noch schien es wirklich wichtig. Hauptsache, das Gebäude würde stehen und aufgrund seiner Kubatur und seiner Fassade die Illusion erzeugen, es stünde dort nicht wieder, sondern noch.

Denjenigen, die diese Fassade unbedingt wiedererstehen lassen wollten, schließlich auch dem Deutschen Bundestag, der dies im Sommer 2002 mit großer Mehrheit beschloss und beauftragte, war das Projekt so wichtig, dass bei der Realisierung weder Kosten noch Aufwand gescheut werden sollten – dabei gab es immer noch keine Nutzung für das Gebäude. Hauptsache, die Fassade, diese Fassade würde entstehen. Warum? Welche Botschaft geht von dieser Fassade aus, dass sie für eine einflussreiche Lobby eine derartige Bedeutung bekommen konnte? Und – ist der Plan derer, die dieses Projekt propagierten, die diese Fassade unbedingt haben wollten, aufgegangen? Welche Botschaft sendet die Fassade jetzt, da sie realisiert ist? Oder – umgekehrt – was lässt sich auf sie projizieren?

Eine Fassade, schon gar die Fassade eines besonders großen Gebäudes und erst recht die Fassade eines besonders großen, vom Staat für die Mitte seiner Hauptstadt in Auftrag gegebenen Gebäudes ist immer ein Statement, ein Zeichen, eine Botschaft. Ganz gleich, wie ein Bau definiert wird, was er sein will oder sein soll, was man gern hätte, dass er wäre – er spricht zu uns. Und das tut er in der Form, in der er da ist, unmittelbar. Er beeindruckt uns, leitet unsere Gedanken, regt unsere Phantasie an. Vielleicht manipuliert er auch unsere Gefühle. Immer löst er Assoziationen aus. Die Geschichte hinter der Fassade, die im Vorfeld womöglich geführten Diskussionen, Alternativen, geschlossenen Kompromisse, Hoffnungen, Erwartungen, Befürchtungen, die vor der Realisierung damit verbunden gewesen sein mögen, vermittelt eine Fassade nicht, sobald sie einmal realisiert ist.

In der Zeitschrift Arch+ schrieb der Kunsthistoriker Adrian von Buttlar im Dezember 2020 angesichts des fertiggestellten Humboldt Forums, ihn überkomme ein »kafkaeskes Unwohlsein« darüber, »dass der von Anbeginn höchst umstrittene Gegenbau zur einstigen politischen Hoheitsmitte der DDR letztlich wie ein UFO in unserer zunehmend verunsicherten Gegenwart gelandet ist: Nach wie vor steht die alte rhetorische Frage im Raum: Was ist das eigentlich? Wer spricht hier mit wem auf welche Weise und über was?«

Auf den folgenden Seiten geht es um Botschaften: um Botschaften, denen wir ausgesetzt sind; um Botschaften, die ausgesandt werden wollen, und solche, die ausgesandt werden sollen; aber auch um Botschaften, die ausgesandt werden, obwohl das womöglich niemand beabsichtigt hat; um Botschaften, die sich hinter dem, was Menschen tun, bisweilen verbergen; auch um Botschaften, die Menschen hinter dem, was sie sehen, vermuten. Dieser Essay ist ein Versuch über eine Fassade. Es ist nicht die Analyse eines Architekturkritikers, auch nicht das Ergebnis von Forschungen eines Historikers, es sind eher die Gedanken eines Flaneurs, der sich einem Neubau in der Mitte der deutschen Hauptstadt annähert, der durch seine Erscheinung behauptet, etwas anderes zu sein als das, was er ist. Denn das ist die erste Botschaft, die dieser Bau aussendet, wenn man ihm unvoreingenommen begegnet. Und das bleibt irritierend.

Wirklich Neues ist von einer solchen Annäherung nicht zu erwarten. Wohl über keine Baustelle in Deutschland ist in den vergangenen drei Jahrzehnten so viel gestritten, berichtet, gesprochen und geschrieben worden wie über die, an deren Ende die Enthüllung der zur Debatte stehenden Fassade stand. Aber gerade weil sich dieser Vorgang über einen so langen Zeitraum erstreckt hat, wobei manches vielleicht in Vergessenheit geraten ist, manches womöglich auch in Vergessenheit geraten sollte, lohnt es sich, den Blick noch einmal auf einige der neuralgischen Momente der Debatten, auf ihre Geschichte, ihre Dynamik und ihre Ergebnisse zu lenken. Sind sie einmal vollendet, wird die Geschichte hinter den Gebäuden ja meistens schnell vergessen zugunsten der Botschaften, die sie dann in die Stadt und in die Welt senden. In diesem Fall sind die Diskussion um die Fassade und die Geschichte ihrer Entstehung aber ein wichtiger Bestandteil des realisierten Ergebnisses. Sie gehören zur Botschaft der Fassade und damit des Gebäudes, das diese Fassade abschließt. Vielleicht sind diese Diskussion und diese Geschichte, genau besehen, die eigentliche Botschaft – zumal die Botschaft, die diese Fassade ursprünglich aussenden sollte, als sie das erste Mal errichtet wurde, wohl niemand ernsthaft wiederholt sehen will. Oder etwa doch?

Es soll im Folgenden ausschließlich die Fassade befragt werden, nicht die Institution, die sich hinter ihr formiert, das sogenannte Humboldt Forum, das ein Konzept exekutiert, das nach anhaltenden Diskussionen für diesen monumentalen Kulturort beschlossen wurde, ein modernes Museum für die außereuropäischen Kulturen. Die Geschichte des Berliner Schlosses, das an der entsprechenden Stelle einmal stand, sowie der Institution Humboldt Forum, die an die Stelle dieses Schlosses gesetzt wurde, hat der Kunsthistoriker Horst Bredekamp, einer der Gründungsintendanten eben jenes Humboldt Forums, im Jahr 2019 in einem bilanzierenden Vortrag vor dem Posener kunsthistorischen Institut nachgezeichnet (pressto.amu.edu.pl). Die Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss publiziert zudem auf ihrer Website vielerlei Texte rund um das Gebäude und die Institution. Unabhängig von diesen Darstellungen und den vielfältigen Debatten, ist Gegenstand der folgenden Überlegungen also nicht die Institution, die hier im Werden begriffen ist, sondern lediglich die Fassade, hinter der sich zu verbergen schon ihr Schicksal war, bevor die Idee eines Humboldt Forums überhaupt formuliert wurde.

Von Anfang an war in der Diskussion um die Fassade der ehemaligen Hohenzollern-Residenz bemängelt worden, dass deren Realisierung vollkommen unabhängig von der Nutzung eines hinter ihr entstehenden Gebäudes gefordert, forciert, schließlich erstritten wurde. Für die ursprüngliche Nutzung des Gebäudes, Herrschaftsresidenz der Dynastie der Hohenzollern erst als kurfürstliches, dann als königliches, schließlich als Kaiserschloss, bestand ja offenbar kein Bedarf. Zur Eröffnung des Humboldt Forums im Dezember 2020 erinnerte der Tagesspiegel an das Befremden zweier mächtiger Berliner Kulturmanager jener Zeit, in der ein Aufbau der Fassade diskutiert wurde, die beide qua Amt in die Entscheidungen involviert waren:

»Noch 2016 stellte, im Nachhinein, Peter-Klaus Schuster, von 1999 bis 2008 Generaldirektor der Staatlichen Museen Berlins, im Blick auf die Fassadenbefürworter irritiert fest: ›Keiner der Befürworter entwickelte eine überzeugende Idee, zu welchem Zwecke das von so vielen gewünschte Schloss wieder aufgebaut werden sollte (…)‹ Und Klaus-Dieter Lehmann, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, wunderte sich: ›Niemand fragte nach dem Zweck, vielleicht ein Hotel, eine Shopping-Mall, ein Konferenzgebäude (…) es war eine hilflose Diskussion, ohne Bezug zur historischen Dimension.‹« (Gerd Appenzeller im Tagesspiegel am 1.12.2020)

Die konsequente Trennung von Fassade und Gebäude mag ungewöhnlich erscheinen, ist aber im vorliegenden Fall Teil des Programms und führt auf die Spur der Besonderheiten dieses Bauprojekts und seiner Geschichte. Der Standort, an dem es erst erträumt, dann debattiert, dann entworfen, schließlich realisiert wurde, ist offenbar mit derart komplexen und widerstreitenden Botschaften aufgeladen, Projektionsfläche für so viele, so unterschiedliche Visionen, dass das Ergebnis ein Kompromiss geworden ist, den manche feiern, eben weil es ein Kompromiss ist, und der andere aus demselben Grund verstört oder auch empört. Denn die Botschaft, die von diesem Kompromiss ausgeht, variiert extrem, je nachdem wer die Empfängerin ist oder der Empfänger. Wie diese Botschaft ausfällt, hat nicht nur damit zu tun, welche gesellschaftlichen, politischen, weltanschaulichen Positionen eine oder einer vertritt, sondern auch damit, was und wie viel man über die Geschichte der Fassade weiß. Deswegen lohnt sich ein Blick zurück in die Zeit, in der diese Fassade von einer einflussreichen Gruppe offenbar als die angemessene Antwort auf eine historische, gesellschaftliche und städtebauliche Herausforderung für die Zukunft erschien: die Gestaltung der Mitte der gerade erst wiedervereinigten Hauptstadt des gerade erst vereinigten Deutschland.

Im Folgenden geht es um die Rekonstruktion einer Fassade als Rekonstruktion der Idee, die sie verkörpern soll. Es geht nicht um Polemik. Aber es geht schon um die Frage, was die treibende Kraft war und woraus sich die enorme Sicherheit, das überbordende Selbstbewusstsein und die Entschiedenheit der Beteiligten speiste, die dieses Projekt einer gigantischen Projektionsfläche als neuer Mitte einer wiedervereinigten Stadt vorangetrieben haben. Seine Rechtfertigung bezieht das Projekt nun daraus, dass es realisiert worden ist. Das heißt aber keineswegs, dass die Entscheidungen, die zu seiner Realisierung geführt haben, alle zwingend waren oder einleuchtend sein müssten oder auch nur für alle heute noch nachvollziehbar. Mit diesem Gebäude und dieser Fassade wurde künftigen Generationen eine andere als diese Gestaltung von Berlins Stadtmitte buchstäblich verbaut, sehenden Auges, denn auf diesen Aspekt des Projekts ist in der damaligen Diskussion immer wieder hingewiesen worden. Aber ganz offenbar war das das Ziel: eine Botschaft, die sich aus der Vergangenheit speist, soll in die Zukunft transportiert werden.

Ich bin kein Kunsthistoriker. Ich bin Historiker und Philologe. Daraus folgt ein Unterschied in der Betrachtungsweise der Dinge, schematisch gesprochen. Naturgemäß gibt es ungezählte Grenzgängerinnen und Grenzgänger, die eine solche Unterscheidung in der Praxis obsolet machen. Aber sie kann vielleicht helfen, unterschiedliche Herangehensweisen zu charakterisieren. Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker nehmen demnach in der Regel die Objekte in den Blick, die sie zunächst analysieren, an und für sich betrachten und dann, mehr oder weniger weit zurücktretend, in Zusammenhänge einordnen. Sie sind im Interesse der Erkenntnis Objektfetischistinnen und Objektfetischisten, deswegen erreichen sie im Umgang mit den Objekten oft eine enorme Tiefe und finden über die Objekte viel heraus, im doppelten Sinne: über das jeweilige Objekt als Gegenstand, aber auch weit über das Objekt hinausgehend über die Welt. Philologinnen und Philologen dagegen denken in Strukturen, in die sie Objekte, Ereignisse, aber auch Ideen einordnen. Das kann eine Sprache sein, ein Text, aber auch ein anderer Zusammenhang, eine andere Struktur, eine Stadt zum Beispiel, eine Gesellschaft, die Geschichte. Sie sind eher Strukturalistinnen, Strukturalisten als objektorientiert. Das einzelne Bild, im konkreten Fall die Fassade der Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss (so der offizielle Name der Institution), entwickelt sein Potenzial als Untersuchungsgegenstand für philologisch geschulte Betrachterinnen und Betrachter erst als Teil von Zusammenhängen, also zum Beispiel als Moment in der Geschichte seiner Entstehung, als Baustein einer Mystifizierung, als politische Metapher, im Kontext der sich wandelnden Stadt oder der sich verändernden politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse oder auch als Projektionsfläche einer Illusion.

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