Kitabı oku: «Westfalengau», sayfa 4

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9. Kapitel

Dortmund, Juli 2019

Die Tafel war festlich gedeckt. Großmutter Lina hatte das beste Geschirr und die edelsten Gläser aus den Schränken holen lassen. »Ich hatte ja erst an ein Buffet gedacht«, meinte sie in die allgemeine Runde. Aber so ist es doch viel gemütlicher. Die Einzigen, die heute springen müssen, sind meine lieben drei Helferinnen. Danke, dass ihr das für mich macht!«

Applaus brandete auf, als die jungen Frauen, die alle drei aus dem Dorf kamen, einen Knicks andeuteten.

»Die eine kenne ich noch von früher«, flüsterte Sabine Raster zu. »Das ist die Tochter von dem Pub-Besitzer im Dorf. Bei der habe ich damals manchmal gesittet.«

»Ihr habt einen Pub hier? Im kleinen Holthausen?« Raster wunderte sich.

»So ungewöhnlich ist das gar nicht«, antwortete Sabine. »Das sind Überbleibsel aus der Zeit der britischen Besatzung. Bis heute sind noch einige 1.000 Briten in Nordrhein-Westfalen stationiert. Und nicht wenige sind mit ihren Familien hier hängengeblieben. Ist ja auch viel schöner als im verregneten England.« Sabine lachte. »Nein, Scherz. Aber jedenfalls ist das die kleine Kim von dem Wirt. Die Kneipe gibt es, glaube ich, schon seit den 90er-Jahren.«

In diesem Moment wurde Sabine durch die erste Vorspeise unterbrochen. Es gab verschiedene Räucherfische mit unterschiedlichen Dips und Weißbrot. Dazu wurde ein eiskalter Sancerre von der Loire gereicht. »Für mich bitte nur Wasser«, bat Sabine, als eine der drei Kellnerinnen einschenken wollte.

»Sag mal. Das ist mir vorhin schon aufgefallen. Du trinkst ja heute keinen Tropfen Alkohol. Was ist los? Du bist doch nicht etwa …?« Raster brachte das Wort nicht über die Lippen.

Lachend antwortete Sabine: »Nein! Also nicht, dass ich wüsste. Mir war einfach nicht danach. Aber du hast vollkommen recht. Einen so guten Tropfen darf man nicht verschmähen.« Und damit winkte sie der jungen Frau, ihr doch ein Glas Wein einzuschenken.

»Habe ich euch eigentlich erzählt, dass bei mir eingebrochen wurde?«, fragte Lina in die kurzzeitig entstandene Stille hinein.

Entrüstet reagierte Günter als Erster auf diese Nachricht. »Aber Mutter, warum erfahren wir denn erst jetzt davon? Wann war das? Erzähl schon!«

»Ach, es ist ja nichts weiter passiert«, meinte Lina leichthin. »Vor knapp einem Jahr.« Sie überlegte kurz. »Ja, es muss im Oktober gewesen sein, nicht wahr, Fritz?«

Der Angesprochene nickte zustimmend, konnte aber nichts sagen, da sein Mund mit köstlichem Forellenfilet beschäftigt war.

»Ja, also. Fritz war wie immer als Erster auf«, fuhr sie fort. »Er weckte mich morgens ganz früh, ich sollte mir mal schnell was anziehen und runterkommen. Hier unten zeigte er mir Hebelspuren an der Terrassentür. Die haben sie aber offenbar nicht aufgekriegt. Dafür war das Fenster in der Speisekammer eingeschlagen. Da sind sie rein.«

»Was wurde denn gestohlen?«, fragte Barbara, die bekanntermaßen ein sensibles Wesen war und bei solchen Themen schnell Angst bekam. Hektische Flecken entstanden wie aus dem Nichts an Hals und im Dekolletee.

»Das war ja das Merkwürdige«, antwortete Lina. »Natürlich haben wir die Polizei gerufen. Die sind mit uns durch jeden einzelnen Raum gegangen. Es fehlte absolut nichts. Allerdings sind die Einbrecher in allen Räumen gewesen, was die Polizei anhand von Fußspuren nachweisen konnte. Stellt euch vor: Sogar in meinem Schlafzimmer sind sie rumspaziert, während ich geschlafen habe. Ist das nicht furchtbar?«

»Eine gruselige Vorstellung«, bestätigte Gernot. »Aber gut, dass nichts weggekommen ist.«

»Na ja. Offensichtlich haben die etwas Konkretes gesucht«, sagte Sabine nachdenklich. »Kein normaler Einbrecher macht sich solche Mühe, latscht durch das ganze Haus, lässt aber alles stehen und liegen, um dann wieder zu verschwinden. Allein, was hier unten an den Wänden hängt, ist doch ein Vermögen wert.«

»Hast du denn eine Ahnung, was sie gesucht haben könnten?« Raster fand es ein wenig komisch, diese alte, vornehme Dame, die er mal gerade einige Stunden kannte, zu duzen.

Lina schüttelte den Kopf. »Fritz und ich sind sogar zusammen mit der Versicherung die Listen aller Wertgegenstände durchgegangen. Nichts von alledem ist weggekommen. Weder Gemälde noch Schmuck oder Silber.«

»Merkwürdige Sache«, meinte auch Frieda. »Aber sollten wir nicht den Kindern erlauben, spielen zu gehen. Sie langweilen sich.«

Max, Klarissa und Lydia, die schon einige Zeit unruhig auf ihren Stühlen hin und her rutschten, riefen unisono »Au ja!«, und wurden entlassen. Sie waren, während die Erwachsenen ihren Fisch genossen, mit einer großen Portion Spaghetti Bolognese abgespeist worden.

Als Nächstes gab es ein feines Kressesüppchen mit Croutons, und anschließend konnten sie zwischen Schweinemedaillons in einer Champignonrahmsoße und Rinderfilet wählen. Für die Vegetarier Sarah und Christoph gab es Zucchinipuffer. Dazu wurden diverse Beilagen gereicht, und schon bald hörte man von dem einen und anderen ein zufriedenes Aufstöhnen.

»Aber der Höhepunkt kommt doch noch!«, rief Lina mit gespielter Empörung. »Meine selbstgemachte Zitronentarte aus Korfu.«

Alle außer Raster kannten dieses Zauberrezept, das Lina vor Jahren von einem Griechenlandurlaub mitgebracht hatte, und konnten nicht widerstehen. Selbst Raster, der kein Fan von Süßspeisen war, rollte begeistert mit den Augen, als er das letzte Stückchen von seinem Teller gekratzt hatte. »Wahnsinn!«, war sein kurzer, aber ehrlicher Kommentar.

Zwei Stunden später lag Sabine mit geschlossenen Augen in seinem Arm. Die Familie war auf die vielen Zimmer des Hauses verteilt worden.

»Wie geht es denn morgen weiter?«, fragte Raster träge und zog Sabine ein Stückchen näher zu sich heran.

»Ach, hast du das gar nicht mitbekommen?«

Raster schüttelte den Kopf.

»Wir sparen uns das Frühstück hier und fahren alle zum Brunchen nach Dortmund. Nur Oma bleibt hier. Das hat sie aber schon vor einiger Zeit angekündigt. Ihr wird das doch ein bisschen viel. Danach sitzen wir noch ein wenig im Garten zusammen, und ich weiß von Günter und Frieda, dass die dann nach Hause müssen. Meine Geschwister und wir bleiben noch bis Sonntagmittag. Ist das okay für dich?«

»Klar«, meinte Raster. »Deine Oma ist echt nett. Also für ’ne Oma.«

Sabine puffte ihn in die Seite. »Eh. Ich lass nichts auf meine Oma kommen.«

Zwei Minuten später richtete sich Sabine auf. »Sag mal, komische Sache das mit dem Einbruch. Findest du nicht auch?«

Doch von Raster kam keine Antwort mehr. Er träumte von einer riesigen Zitronentarte, die ganz Korfu bedeckte. Und er war der König von Korfu.

Am nächsten Morgen schliefen alle lange. Man traf sich erst um 10 Uhr vor dem Haus. Es war ein herrlicher Sommertag. Die Sonne schien von einem fast wolkenlosen Himmel, und die Temperaturen hatten angenehme 20 Grad erreicht. Sie verteilten sich auf so wenig Autos wie möglich und winkten Oma Lina zu, die die Gesellschaft von der Haustür aus verabschiedete. Auch Fritz stieg in einen der Wagen. Ursprünglich hatte er ja bei Lina bleiben wollen, die hatte ihn aber so gedrängt mitzufahren, dass er schließlich nachgegeben hatte. So oft kam er nicht in den Genuss eines Essens in der Stadt.

»Können wir Oma denn so ganz alleine hierlassen?«, fragte Barbara ängstlich ihre Mutter.

»Ganz alleine ist sie doch nie«, antwortete Frieda. »Da sind die Stallburschen, die Köchin, der Gärtner, und bald kommen schon die ersten Pferdemädchen zum Reiten. Mach dir nicht immer so viel Sorgen. Oma Lina ist schon erwachsen.«

Sie hatten einen großen Tisch bei Wenkers am Markt reserviert und genossen ausgiebig das reichhaltige Angebot. Es wurden zwei fröhliche Stunden, in denen sich Sabine etwas intensiver mit ihren beiden Brüdern unterhielt, was am Vortag zu kurz gekommen war. Raster plauderte mit Hannas Freund Klaus und musste feststellen, dass Sabine mit ihrer Einschätzung richtig gelegen hatte. Klaus war ihm auf Anhieb sympathisch.

Als es auf 13 Uhr zuging, klatschte Günter einmal in die Hände. »Leute, wir sollten Lina nicht noch länger warten lassen. Schließlich feiern wir ja ihren Geburtstag. Übrigens hat sie mir aufgetragen, für das hier«, er machte eine umfassende Geste über den abgegessenen Tisch, »vorzustrecken. Sie möchte uns einladen. Auf Lina!«

Alle, die noch einen Schluck Saft oder Kaffee hatten, hoben die Gläser oder Tassen und prosteten der abwesenden Oma zu.

Eine halbe Stunde später fuhren die Wagen auf den Kiesplatz. Die Kinder rannten sofort in den Garten, die Erwachsenen folgten etwas langsamer in Grüppchen und in Gespräche vertieft.

Fritz wollte Lina Bescheid geben, dass sie alle wieder da waren, und rief wiederholt ihren Namen, bekam jedoch keine Antwort. Mittlerweile hatten sich auch andere Familienmitglieder auf die Suche begeben. Die Angestellten im Haus wurden befragt. Keiner hatte etwas Ungewöhnliches bemerkt.

Und es blieb dabei: Oma Lina war spurlos verschwunden.

10. Kapitel

Münster, Februar 1944

Wie schon gesagt: Alfred war nicht gerade bekannt für übersprudelnden Ehrgeiz, eine unumstößliche Regimetreue oder auch überhaupt eine starke Motivation, was die Ausübung seines Berufs anging. Aber in Sachen Intelligenz und Vorsorge konnte man ihm nichts vormachen.

Daher vergingen nur wenige Minuten zwischen dem erschreckenden Erkennen der Dinge, die er dem Brief seines Freundes entnehmen konnte, und dem Beginn diverser Überlegungen.

Es kam ihm nicht einmal der Gedanke, an dem Wahrheitsgehalt zu zweifeln. Sein Freund war Engländer, gehörte im weitesten Sinne noch der Armee an und war aufgrund dieser beiden Tatsachen ihm gegenüber deutlich im Vorteil, was Tatsachenbeschaffung anging. Und dass William ihn übers Ohr hauen wollte, war ohnehin völlig undenkbar.

Welche Optionen hatte Alfred mit seiner Familie?

Er konnte versuchen, sich mit Ruth und Lina ins Ausland abzusetzen. Das Problem dabei war, dass die Chancen dafür erdenklich schlecht standen. Er müsste sich dazu falsche Papiere für die ganze Familie besorgen, was finanziell und logistisch seine Möglichkeiten sprengte. Und sollte es ihm doch gelingen, und sie würden dann an einer Grenze festgesetzt, drohte zumindest Zuchthaus, wenn nicht sogar mehr. Nein. Das kam nicht infrage.

Die zweite Option war, sich und seine Familie, so gut es ging, zu schützen, das Ende auszusitzen und sich vorher ein finanzielles Polster für die Zeit danach aufzubauen.

Nachdenklich kaute Alfred auf dem längst erloschenen Rest seiner Zigarette herum, bestellte gedankenverloren ein weiteres Bier, während langsam ein kühner Plan immer mehr Gestalt annahm.

11. Kapitel

Dortmunder Norden, Juli 2019

Nachdem das gesamte Haus, die Reitställe und der Garten durchsucht worden waren, trafen sich die Geburtstagsgäste im Wohnzimmer. Alle redeten durcheinander. Es wurde wild spekuliert, gerätselt und gefragt. Jeder hatte eine eigene Theorie, wo Lina sein oder was mit ihr passiert sein könnte.

Obwohl sie nun wirklich nicht die Älteste war, ergriff Sabine wie selbstverständlich das Kommando und verschaffte sich lauthals Gehör. »Leute, hört mal her. Wir sind alle aufgeregt und ratlos, was mit Oma Lina passiert sein könnte. Trotzdem müssen wir jetzt Ruhe bewahren, sonst kommen wir nicht weiter.«

»Du hast gut reden«, murmelte Gernot kaum hörbar. »Es geht ja schließlich nicht nur um Oma, sondern auch um das ganze Erbe.«

»Was soll denn diese bescheuerte Aussage?«, zischte Sabine in seine Richtung.

»Na ja«, antwortete Gernot mit einem trotzigen Unterton in der Stimme, »wenn Oma wegbleibt, ist das doch mit dem Erbe überhaupt nicht geregelt. Und dann?«

»Halt den Mund, Gernot!«, blaffte sein Vater Günter, und der Angesprochene zog beleidigt einen Schmollmund, verhielt sich aber ab nun ruhig.

»Wir sollten zunächst alle Angestellten, Reiter und überhaupt alle Menschen, die heute Vormittag auf dem Gut waren, zu uns bitten und befragen. Gleichzeitig könntest du, Raster, die umliegenden Krankenhäuser und Polizeistationen kontaktieren. Danach sehen wir weiter. Sie wird schon wieder auftauchen. Oma Lina verschwindet doch nicht einfach so. Fritz, sag mal, fährt sie eigentlich noch selbst einen Wagen? Ich habe sie das die letzten Male, als ich hier war, gar nicht gefragt.«

Fritz, der blass in einer Ecke stand und seine Mütze knetete, als könnte die etwas ausspucken, das ihm weiterhelfen würde, schüttelte den Kopf. »Nein. Den Führerschein hat Lina vor Jahren bereits abgegeben.«

»Okay. Dann organisierst du, dass alle Leute, die hier waren, zu uns kommen. Und du, mein Schatz, hängst dich ans Telefon, ja?«

Raster nickte und verschwand im Nebenzimmer, um in Ruhe zu telefonieren.

»Äh, Sabine?« Günter, Frieda, Helga und Barbara näherten sich zögerlich.

»Ja?«

»Es tut uns schrecklich leid. Aber wir müssten so langsam aufbrechen.«

»Aber wir hätten doch auch sonst noch zusammen im Garten gesessen. Ich meine mit Lina«, antwortete Sabine erstaunt.

»Ja schon«, druckste Günter. »Aber weißt du, diese ganze Aufregung. Das ist nichts für Frieda und Helga. Und ehrlich gesagt, kann Barbara damit auch nicht so gut umgehen. Ihr macht das schon. Ich bin mir sicher, dass Lina bald wieder auftaucht.«

»Verstehe. Wir können ja im Moment nicht viel machen. Also, passt auf euch auf. Wir halten Kontakt, ja?«

Dankbar zogen sich die vier zurück, hatten noch einen kurzen Austausch mit Gernot, wie Sabine aus den Augenwinkeln beobachten konnte, der sie aber kopfschüttelnd abwies, bevor sie den Raum und das Haus verließen.

Sabine ging zu ihren Geschwistern, die mit den ängstlich zusammengekuschelten Kindern auf einem Sofa saßen. »Ich finde, ihr solltet auch fahren«, meinte sie. »Für die Kinder ist das eine unnötige Aufregung. Die brauchen euch gerade jetzt. Da habt ihr gar keine Zeit, uns bei der Suche zu helfen. Fritz, Raster und ich kümmern uns schon.«

»Bist du dir wirklich sicher?«, fragte Hanna, und auch Ralf und Sarah schauten sie fragend an.

»Ich bin ganz sicher«, bekräftigte Sabine und zwang sich zu einem Lächeln, obwohl ihr überhaupt nicht danach war.

Nachdem Raster, der mit einem Kopfschütteln von seinen Telefonaten zurückgekehrt war, und Sabine die Verwandtschaft verabschiedet hatten, die mit deutlich sichtbarem schlechten Gewissen das Gut verließ, begannen sie mit der Befragung der Angestellten und Reiterinnen. Einer nach dem anderen trat ein, doch keiner hatte etwas gesehen oder gehört. Weder Lina, die das Haus verlassen hatte, noch irgendwelche Fremden, die das Haus betreten hätten. Frustriert bedankten sich Raster und Sabine bei allen und schauten sich verunsichert an.

»Polizei?«, fragte Raster.

»Dazu ist es noch zu früh«, kam es aus einer Ecke des Wohnzimmers.

»Gernot? Du bist noch da?« Erschrocken wandte sich Sabine ihrem Cousin zu. »Ich dachte, du bist nach Hause gefahren?«

»Ach was«, entgegnete dieser und kam betont lässig näher. »Ich hab’ zurzeit sowieso nichts zu tun. Da kann ich euch auch helfen, nach Großmutter Lina zu suchen.«

»Na gut, wie du willst«, meinte Sabine und klang nicht sehr begeistert. »Die Polizei rufe ich trotzdem an. Lina ist ja schließlich nicht irgendwer.«

Raster und Gernot beäugten sich misstrauisch und schwiegen, während sie auf Sabine warteten.

»Sie kommen«, verkündete Sabine, als sie wieder ins Zimmer trat. »Es wird zwar noch etwas dauern, aber, wie ich gedacht habe, ist denen Lina Funda so wichtig, dass sie frühzeitig etwas unternehmen wollen.«

»Okay«, meinte Gernot, der mittlerweile unruhig im Wohnzimmer hin und her tigerte. »Und was sollen wir in der Zwischenzeit machen?«

»Ich würde vorschlagen, du schaust dich im Bad von Oma um, ob ihre Diabetesmedikamente noch da sind. Die braucht sie dringend. Wenn sie die nicht dabei hat, haben wir, nein, hat sie ein echtes Problem. Und bei der Gelegenheit guckst du dich allgemein in ihren Räumen um, ob dir irgendwas auffällt, das uns einen Hinweis geben könnte. Raster und ich machen das Gleiche im Rest des Hauses, okay?«

»Großmutter hat Diabetes?«, fragte Gernot überrascht.

»Ja. Wusstest du das nicht? Schon seit vielen Jahren. Und wie gesagt: Sie braucht dringend ihre Medikamente. Eines heißt Metformin, den Namen von dem zweiten weiß ich nicht mehr. Die beiden stehen aber immer zusammen im Bad. Schau bitte gründlich nach.«

Gernot nickte und verschwand.

»So. Und wir beide machen mal eine ausgiebige Hausbegehung. Komm, wir fangen in der Küche an.«

Nachdem die beiden den Keller, die Küche, das Esszimmer und die oberen Etagen gründlich begutachtet hatten, ohne etwas Verdächtiges gefunden zu haben, standen sie schließlich wieder im Wohnzimmer und schauten sich um.

»Moment mal«, meinte Raster nach einer Weile. »War die Terrassentür schon offen, als wir heute Morgen gefahren sind?«

»Das weiß ich, ehrlich gesagt, nicht genau. Aber Lina kann sie ja in der Zeit, in der wir weg waren, geöffnet haben.«

Nachdenklich ging Raster zu der Tür, zog sie auf und schaute in den Garten. »Was ist hinter dem Garten?« Er wies auf die Randbegrenzung des Grundstücks, an der eine Reihe Ginsterbüsche standen.

»Ein Wirtschaftsweg«, antwortete Sabine. »Du meinst …«

Raster trat auf die Terrasse und begutachtete die Rasenfläche vor sich. »Guck mal hier, Sabine! Haben wir gestern irgendetwas von drinnen nach draußen geschleift? Mit einem Abstand von vielleicht 15 Zentimetern?«

Sabine schüttelte den Kopf. »Das sieht tatsächlich so aus, als wäre eine Person über den Rasen geschleift worden. Das könnten Abdrücke ihrer Absätze sein.«

»Und auf dem Weg da drüben hat ein Wagen gewartet. Deswegen hat im Hof keiner etwas mitbekommen«, ergänzte Raster leise.

»Ich ruf sofort noch einmal die Polizei an. Die sollen sich gefälligst beeilen und das alles hier untersuchen.«

In diesem Moment kam Gernot zurück ins Wohnzimmer.

»So, wie ich das sehe, ist Oma Lina freiwillig verreist. Warum auch immer. Es fehlen jedenfalls die Medikamente, es ist keine Zahnbürste im Bad, und wenn ich ihren Kleiderschrank beurteilen soll, was ich wirklich sehr ungern tue, fehlen dort auch einige … Dinge. Ihr wisst schon, was ich meine.«

Ratlos guckte Sabine zu Raster. »Das verstehe ich nicht. Du etwa?«

Raster schüttelte langsam den Kopf, während er unablässig Sabines Cousin in die Augen schaute. »Nein. Das verstehe ich auch nicht. Lasst uns auf die Polizei warten.«

12. Kapitel

Ägypten, Soma Bay, Cambridge, England, 2017

Müde rollte Paul das Glas mit etwas, das man ihm als Mai Tai angepriesen hatte, zwischen seinen Händen. Er mochte diese süße Plörre nicht, und außerdem fehlte ihm der Rum, der eigentlich wichtigster Bestandteil seines Lieblingscocktails sein sollte. Aber so ist das nun mal bei all inclusive, dachte er frustriert, während er dem Kellner winkte, um sich ein Bier zu bestellen.

Wieso fühlte er sich nur so verdammt einsam und traurig? Es war doch alles glatt gelaufen: Nachdem er das restliche Diebesgut geholt und Nathan übergeben hatte, war er bereits zwei Tage später mit einem Koffer und 1,200.000 Pfund wieder aus London verschwunden. Seine Mitstreiter wurden von ihm über einen verschlüsselten E-Mail-Account informiert und zu einem Treffpunkt in Kent gelotst. 600.000 Pfund wurden verteilt und lösten Freudenstürme aus. Weitere Ermahnungen, Stillschweigen beizubehalten, wurden ausgesprochen, dann gingen alle wieder ihrer Wege. Paul hatte sich spontan zu einem Urlaub entschlossen – was für ihn äußerst ungewöhnlich war – und seinen Freund Keith gefragt, ob er ihn begleiten wolle. Dieser hatte aber abgesagt, da er mit seiner neuen Freundin nach Schottland fahren wollte. Da es Dezember war und Paul unbedingt Wärme brauchte, buchte er kurz entschlossen zwei Wochen im Caribbean World Resort in Ägypten. Und hier saß er nun an der Jamaica Poolbar zu Beginn seiner zweiten Woche und ertrug zum zigsten Mal das immer gleiche Repertoire der beiden Sängerinnen, die für die Unterhaltung am Abend sorgten. Nicht gerade toll, aber auch nicht die Ursache seiner trüben Gedanken. Was war nur mit ihm los? Wie konnte man sich unter so vielen Menschen so einsam fühlen? Voller Neid und Sehnsucht dachte er an seinen Freund Keith, der wahrscheinlich mit einem Glas Single Malt vor dem bollernden Kamin in einer Berghütte in den verschneiten schottischen Bergen saß.

Paul nahm sein halbvolles Bier und verließ die Bar. 100 Meter weiter setzte er sich auf einen Liegestuhl am Poolrand und genoss die Stille und die Dunkelheit, die ihn hier umfingen. Irgendetwas nagte an ihm. Etwas, das aus der Tiefe an die Oberfläche wollte und sich langsam, aber sicher seinen Weg brach. Er steckte sich eine Zigarette an und lehnte sich zurück. Denk nicht drüber nach, lass es einfach kommen, ermahnte er sich und schaute in den faszinierenden Sternenhimmel, der sich über ihm spannte.

Plötzlich fiel ihm der Brief wieder ein, den Nathan für ihn übersetzt hatte. Sie hatten nicht genau herausbekommen, wann der Brief verfasst worden war. Aber es musste ziemlich bald nach dem Zweiten Weltkrieg gewesen sein. Leider fehlten auch die Unterschrift und damit der Absender. Es machte den Eindruck, als sei der Brief jemandem aus der Hand gerissen worden, wobei der unterste Teil verloren gegangen war. Ein ehemaliger deutscher Offizier schrieb einem Freund William in England. Er bedankte sich, offenbar zum wiederholten Mal, für die Rettung im Ersten und eine Warnung vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Weiterhin erklärte der Deutsche, dass es ihm gelungen sei, ein sehr wertvolles Gemälde zu beschaffen. Und dann kam das Unfassbare: Der Schreiber vermutete, dass er mit dem Bild als Grundstock ein reicher Mann werden könnte. Sollte ihm das gelingen, wäre er oder seine Familie jederzeit bereit, William und dessen Familie unter die Arme zu greifen, wenn es ihnen einmal finanziell schlecht ergehen sollte.

»Wie kann man nur so selbstlos sein?«, murmelte Paul vor sich hin. »Das grenzt ja schon an Dummheit!«

Oder lag er da falsch? So wie er sich einschätzte, wäre er nie auf die Idee gekommen, jemand anderen an seinem Vermögen teilhaben zu lassen. Dankbarkeit her oder hin. Aber vielleicht war genau das sein Problem. Seit er seine Mutter verlassen hatte, hatte er nur an sich gedacht, die Schuld immer nur bei anderen gesucht. Sein ganzes verkorkstes Leben, der Gefängnisaufenthalt mit Keith, die Unfähigkeit, eine dauerhafte Beziehung aufzubauen, seine Laufbahn als Krimineller. Für all das hatte er immer anderen, vor allem seinen Eltern, die Schuld gegeben. Aber war das fair? Gut, seine Kindheit war nicht gerade perfekt verlaufen. Aber das gab es bei vielen Menschen. Hatten die sich alle so entwickelt wie er? Gab es nicht auch aus seinem früheren Umfeld einige, die etwas aus ihrem Leben gemacht hatten und nicht so ein Arschloch geworden waren wie er?

Paul richtete sich auf und warf die heruntergebrannte Zigarette in einen Aschenbecher, der neben seiner Liege stand. Er war erschrocken über die Ehrlichkeit und Klarheit, mit der diese Fragen plötzlich in ihm auftauchten. Auf der einen Seite schmerzten die Antworten wie heiße Messer, die in seinen Eingeweiden herumgedreht wurden, auf der anderen Seite merkte er, dass es ihm besser ging als noch eine halbe Stunde zuvor. Er nahm sich vor, in den verbleibenden Tagen weiter schonungslos ehrlich darüber nachzudenken. Und wenn das hieß, dass er ein neues Leben anfangen müsste, dann war das eben so. Aber dieser alte Paul, das spürte er deutlich, war Geschichte. Er empfand regelrecht Lust darauf, Begriffe wie Dankbarkeit, Verantwortung und Selbstlosigkeit in seinem Leben Raum zu geben. Ein noch fremdes Gefühl, irgendwie irreal. Zudem mochte er gar nicht daran denken, was das für die Rückschau auf sein bisheriges Leben bedeuten würde. Aber er wollte es wagen.

Außerdem interessierte ihn die Geschichte von diesem Gemälde und der dazugehörigen Familie. Ein alter Nazi und so selbstlos? Wie passte das zusammen? Ob es Nachkommen dieses Offiziers gab? Würde das Gemälde noch existieren? Paul beschloss, ein wenig zu recherchieren.

So oder so ähnlich war der Urlaub in Ägypten abgelaufen, wenn er sich daran zurückerinnerte. Die Wahrheit sah allerdings anders aus. In Wirklichkeit dauerte es Wochen, bis er sich an den Gedanken gewöhnt hatte, seine kriminelle Laufbahn zu beenden. Und auch heute noch ertappte er sich ein ums andere Mal dabei, dass er auf seine anstrengende Arbeit bei dem Kfz-Mechaniker in Cambridge, bei dem er untergekommen war, fluchte. Wie viel einfacher wäre es, mit einem kleinen, gut durchdachten Coup an Geld zu kommen. Natürlich besaß er noch einen Großteil seines Anteils von dem Banküberfall. Aber es war ihm auch klar, dass er damit nicht ewig über die Runden kommen würde. Genau in solchen Momenten malte er sich ein Bild von seiner Zeit in Ägypten, dachte an die Einsamkeit, die er dort empfunden hatte, und die neuen Werte, die durch den Brief erstmalig in seinem Leben eine gewisse Bedeutung erlangt hatten. Also hielt er durch und machte weiter als rechtschaffener Kfz-Auszubildender. Vielleicht könnte er sich ja eines Tages den Traum von der Selbstständigkeit erfüllen. Und vielleicht konnte er seiner Mutter eines Tages etwas zurückgeben für das, was sie für ihn getan hatte. Er wollte jedenfalls alles daransetzen.

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25 mayıs 2021
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9783839268124
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