Kitabı oku: «Strohöl», sayfa 3
KAPITEL 2
KONSTANZ
Der süße Duft frischgebackenen Brotes stieg Chris in die Nase. Sie lag schon eine Weile wach im Zimmer über der Bäckerei, obwohl sie erst gegen zwei Uhr morgens ins Bett gekrochen war. Die Altstadt erwachte früh. Sie hörte durchs halb offene Fenster Passanten miteinander schwatzen und lachen, als freuten sie sich, zu dieser gottlos frühen Stunde unterwegs zu sein. Bevor sie ins Bad ging, schaltete sie den Laptop ein. Die Verbindung mit Berlin klappte auf Anhieb. Wenigstens ein Lichtblick an diesem Morgen. Die Dusche spülte den Schlaf in den Ausguss mit der Folge, dass sie im Wachzustand jeden einzelnen Knochen zu spüren glaubte. Sie hatte die lange Fahrt an den Bodensee unterschätzt. Vielleicht war es auch nur das Alter. Die Vierzig stand schon auf der Anzeigetafel, ganz unten zwar, aber immerhin: vierzig, Halt auf Verlangen. Vielleicht rebellierte ihr Körper gegen die hellwachen Leute auf der Gasse, das geschäftige Treiben im Laden unter ihrem Fenster oder den Lärm der Möwen. An diesem Morgen ging ihr so ziemlich alles auf den Geist – keine ideale Voraussetzung für die erste Begegnung mit der Konstanzer Kripo. Die Kollegen auf dem Polizei-präsidium taten ihr jetzt schon leid.
Sie klappte den Instrumentenkoffer auf, betrachtete ihr Altsaxofon unschlüssig und schloss den Koffer wieder. Ein paar Blues Riffs wirkten oft Wunder – nicht an diesem Morgen. Zu unmotiviert, ihr langes, strohblondes Haar zum Zopf zu flechten, band sie es rasch zum Pferdeschwanz zusammen. So sah es eher nach Tatendrang aus.
Der Computer kündigte neue Mail an. Die Betreffzeile entlockte ihr das erste Schmunzeln an diesem traurigen Tag. Munition hatte Jens Haase seine Mail betitelt, die ausgedruckt einen ansehnlichen Ordner gefüllt hätte. Haase vereinigte drei Eigenschaften, die ihn als Kollegen unentbehrlich machten. Er verbrachte gefühlte vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche im Büro, erledigte seine Recherchen ebenso schnell wie gründlich, und er braute den besten Kaffee, den sie je gekostet hatte.
Die Munition für den Einsatz in Konstanz umfasste nicht nur die Berichte des Kommissars Rappold, der die Ermittlungen vor Ort leitete. Haase hatte zudem eine intelligente Auswahl an Fachartikeln zur Fracking Technologie beigefügt und nicht vergessen, die häufigsten Argumente für und wider diese Fördermethode auf einem Blatt zusammenzufassen. Die Information stellte ein hilfreiches Repetitorium für sie dar. Die Zeit des Studiums lag doch schon einige Jahre zurück. Das Material über den NAPHTAG Konzern barg echten Sprengstoff. Sie fragte sich, wie Haase so schnell an die sensitive Information gelangt war, zweifelte aber keinen Augenblick am Wahrheitsgehalt. Nach diesen Unterlagen fanden die Testbohrungen bei Überlingen am falschen Ort statt. Das Fracking Projekt mit dem Namen Kranich – welch absurder Euphemismus, intakte Natur vorgaukelnd – war ursprünglich auf dem Gelände eines Klosterguts geplant gewesen. Da der Konzern sich nicht mit den Verantwortlichen des Klosters Mariafeld einigen konnte, hatte man die Versuchsanlage kurzerhand im hügeligen Gelände eines Nachbargrundstücks aufgebaut. Der Zugang zu den Schiefergas-Schichten gestaltete sich dadurch wesentlich komplizierter und erforderte längere, heikle Horizontalbohrungen. Diese Tatsache mochte für den Fall irrelevant sein, doch ihr Bauchgefühl sagte etwas anderes. Der Gedanke war jedenfalls notiert.
Die Hintergrundinformationen über die Gruppe Gaia beschränkten sich auf Gerüchte. Haase hatte dennoch mehr über die Umweltaktivisten zusammengetragen als die Kollegen in Konstanz. Es gab Hinweise, dass sich die Gruppe aus Studenten und Ehemaligen der Uni zusammensetzte. Der Hauptverdächtige hieß Thorsten Kramer. Ihm gehörte das sichergestellte Auto. Sein Name tauchte indessen in keinem Polizeibericht auf. Eine gute Frage als Einstieg, dachte sie, klappte den Laptop zu, schob ihn in die Tasche und verließ das Hotel.
Die Sekretärin im Präsidium führte sie an einen leeren Schreibtisch.
»Sind Sie sicher, dass Kommissar Rappold noch hier arbeitet?«, fragte sie.
Der junge Mann in der dunklen Ecke des Büros kugelte sich vor Lachen.
»Das ist sein Arbeitsplatz«, antwortete die Sekretärin schnippisch.
»Sieht nicht nach Arbeit aus. Wo steckt er?«
Der junge Mann fand auch das enorm lustig. Er stellte sich als Kommissaranwärter Hinz »wie Kunz« vor und beantwortete ihre Frage:
»Rappold ist beim Zahnarzt – Notfall.«
»Mein Beileid. Und Sie sind sein Stellvertreter?«
Der dritte Lacher erstarb abrupt, als sie ihm den Dienstausweis zeigte. Er mutierte binnen Sekunden vom Scherzkeks zum dienstbeflissenen Assistenten.
»Ich rufe ihn auf dem Handy an«, sagte er, das Telefon am Ohr. Nach einer Weile gab er auf. »Anrufbeantworter.«
Sie steuerte auf einen zweiten verlassenen Schreibtisch zu.
»Arbeitet hier auch ein unsichtbarer Kollege?«
Hinz drohte rückfällig zu werden.
»Nein – den – der ist frei«, stammelte er. »Wir sind etwas unterdotiert, was das Personal betrifft, dafür gibt‘s jede Menge freie Schreibtische.«
Der junge Mann besaß auch Humor. Das war ihr ein freundliches Lächeln wert.
»Kommissar Rappold sollte eigentlich schon zurück sein«, sagte er. »Ich kann Ihnen inzwischen die Akte zum Fall Überlingen heraussuchen.«
Er blickte sie erwartungsvoll an oder eher ihren Hintern in den engen Jeans, wie sie aus den Augenwinkeln feststellte.
»Wenn Sie mir dann die Akte geben könnten, sobald sie sich sattgesehen haben …«
Im nächsten Augenblick lag die Mappe auf ihrem Tisch. Zu verlegen für eine Antwort, eilte Hinz hinaus. Nach wenigen Minuten kehrte er mit einem älteren Herrn im Schlepptau zurück, der eindeutig zu viel Kohlenhydrate konsumierte. Seinen Schmerbauch zu bewegen, erforderte sichtbaren Kraftaufwand. Er ließ sich schwer atmend in den Sessel am leeren Schreibtisch fallen. Umständlich betastete er den Kiefer und brummte dabei Unverständliches. Verwünschungen, die sich gegen den Zahnarzt oder Zahnärzte im Allgemeinen richteten, nahm sie an. Er schien sie erst zu bemerken, als sie auf ihn zutrat.
»Sie müssen Kommissar Rappold sein«, sagte sie und stellte sich vor.
»So – muss ich?«
Noch ein Scherzkeks.
»Meinetwegen können Sie den Osterhasen spielen, aber wir müssen uns über den Fall Überlingen unterhalten. Und fragen Sie jetzt nicht: So – müssen wir?«
Ihr Ärger prallte an ihm ab, als säße er in einer Blase ohne Verbindung zur Außenwelt.
»Wir müssen nämlich«, fuhr sie fort, »ob es Ihnen passt oder nicht. Also lassen wir die Spielchen und kümmern uns um den Fall, einverstanden?«
Er bewegte sich, setzte sich aufrecht und öffnete die oberste Schublade des Schreibtisches. Sehnte er sich heimlich nach einer Domina? Ihr fehlte im Grunde nur die neunschwänzige Katze.
»Sie haben den Bericht sicher schon gelesen«, sagte er, wobei er sich demonstrativ den Kiefer rieb.
»Tut‘s weh?«, fragte sie lächelnd.
Der Kommissaranwärter in der dunklen Ecke musste sich abwenden.
»Ich bin im Bilde über den Stand der Ermittlungen. Allerdings vermisse ich die Vernehmungsprotokolle der beiden Verletzten.«
»Einer liegt noch im Koma. Der Zweite kann erst seit gestern Abend vernommen werden.«
»Und – was sagt er?«
»Gar nichts. Die Vernehmung ist für heute geplant.«
Sie traute ihren Ohren nicht.
»Ach, Sie planen die Vernehmungen langfristig«, brauste sie auf. »Warum nicht erst am nächsten Freitag?« Kopfschüttelnd fügte sie hinzu: »Mensch, Rappold! Der Verletzte ist der vorläufig einzige Zeuge in einem Sprengstoffanschlag! Der Hauptverdächtige läuft da draußen frei herum. Wer weiß, wie viel von dem Zeug der noch in seiner Garage hat. Wir müssen den Mann sofort befragen. Auf geht‘s!«
Der Tonfall der Domina setzte ihn tatsächlich in Bewegung. Die Rolle begann ihr zu gefallen. Müsste ich mal bei Jamie versuchen, dachte sie, während sie sich in Rappolds Dienstwagen zwängte.
Die Befragung des Verletzten lieferte keine neuen Erkenntnisse. Er gab an, im Magazin »Zusatz« für die Druckleitung geholt zu haben, als es krachte. Er verlor das Bewusstsein und wachte erst im Krankenhaus wieder auf. Er erinnerte sich zwar, vor der Explosion Geräusche vernommen zu haben, als befände sich noch jemand in der Halle, hatte aber niemanden gesehen.
»Wir müssen alle Mitarbeiter und Zulieferer des Projekts Kranich befragen«, sagte sie, als sie wieder im Auto saßen.
»Kranich?«
»So nennt die NAPHTAG ihr Fracking Projekt in Überlingen. Wussten Sie das nicht?«
Er wusste es nicht, ebenso wenig kannte er die mögliche Verbindung der Gruppe Gaia zum Campus der Uni Konstanz.
»Mensch, Rappold! Es wird Zeit, dass wir uns ernsthaft unterhalten.«
Die Domina hatte gesprochen. Der Sklave fuhr schweigend weiter.
Ein Tag mit Rappold genügte für ein halbes Leben. Chris fehlte die Kraft, noch am selben Tag an den Tatort in Überlingen zu fahren. Stattdessen verließ sie das Präsidium fluchtartig nach dem langen Gespräch mit dem Kommissar kurz vor dem Ruhestand, der seinen Arbeitsplatz schon einmal vorsorglich geräumt hatte. Sie schlenderte eine Weile ziellos durch die Gassen der Altstadt. Jetzt saß sie in einem Café am Hafen. Lustlos stocherte sie in ihrem Salat. Immer wieder blickte sie auf die Uhr. Es war zu früh, um Jamie anzurufen.
»Alles in Ordnung?«, fragte die Bedienung.
Sie nickte stumm und zwang sich, das Grünzeug in sich hineinzustopfen. Sie musste den Magen irgendwie beruhigen. Er war schon dabei, sich um sich selbst zu wickeln. Sie dachte ernsthaft darüber nach, die Maschinerie in Bewegung zu setzen, um dem offensichtlich überforderten Rappold den Fall zu entziehen und allein weiter zu ermitteln. Unschlüssig wog sie die Vor- und Nachteile ab, bis sie wütend beschloss, den Kommissar im Vorruhestand aus ihren Gedanken zu verbannen. Sie verließ das Lokal und rief Jamie an, während sie an der Mole entlang schlenderte. Es war noch zu früh. Sie würde ihn in der Vorlesung stören, aber sie konnte nicht länger warten. Zu ihrer Überraschung hob er sofort ab.
»Langweilst du dich?«, fragte er lachend.
»Ich wollte testen, ob du an der Arbeit bist, und prompt habe ich dich erwischt. Ich warte gespannt auf deine Erklärung.«
Eine kurze Pause entstand. Zu ihren Füßen klatschte der Kot einer Möwe auf die Plastikplane eines Bootes, dass sie unwillkürlich mit einem Kraftausdruck zurückwich.
»Also hör mal!«, rief er erschrocken.
Sie stellte sich sein verdutztes Gesicht vor, und der Tag im Präsidium war schon fast vergessen.
»Eine Möwe hat mich erschreckt«, beruhigte sie.
»Hat sie getroffen? Bist du verletzt?«
»Jetzt mach aber einen Punkt.«
Das Geplänkel ging weiter. Mit jeder Minute fühlte sie sich besser. Sie hätten übers Wetter oder Nordkorea reden können. Der Inhalt zählte nicht, nur seine warme Stimme.
»Du bist also tatsächlich an den Bodensee gereist«, sagte er unvermittelt.
»Wegen der Möwe meinst du? Die gibt‘s auch woanders, aber es stimmt. Ich bin in Konstanz, ein Einsatz am Bodensee.«
»Schade, wirklich schade«, seufzte er. »Ich hatte gehofft, du könntest nach dem letzten Fall für ein paar Tage rüber kommen.«
»Nach London?«
»Ja, wenigstens für ein verlängertes Wochenende. Ich bin einigermaßen flexibel.«
»Hab ich‘s doch gewusst! Dein Seminar ist nur Show. Du wolltest in die alte Heimat zurück. Das ist es doch. Gib’s zu.«
Er lachte schallend, ein wenig zu heftig, fand sie.
»Leider kann ich hier nicht weg. Die Kollegen brauchen jede Unterstützung.«
Da war es wieder, das Gespenst mit dem Schmerbauch. Um es endgültig zu vertreiben, holte sie nach dem Anruf das Saxofon aus dem Hotel und setzte sich im Stadtgarten ans Ufer. Eine angenehm laue Brise wehte vom See her. Sie saß lange unbeweglich an der Böschung und ließ ihre Gedanken übers Wasser schweifen, bevor sie den Instrumentenkoffer öffnete. Erstaunlich wenige Spaziergänger waren unterwegs. Nur eine Gruppe junger Leute unterhielt sich lautstark im Rasen zwischen den alten Bäumen. Ab und zu wehte ein Lacher zu ihr herüber. Behutsam nahm sie das Instrument aus dem Koffer. Das goldene ›Senso‹ von Buffet Crampon stellte so ziemlich den einzigen echten Luxus dar, den sie sich bisher geleistet hatte. Sie liebte die samtig weichen Tiefen des Altsaxofons. Jedes Mal, wenn sie zu spielen begann, hörte ihr verstorbener Vater lächelnd zu. Er hatte ihr in seinem Musikladen die ersten Töne auf der Blockflöte beigebracht. Sie begann, in tiefen Lagen zu improvisieren, leise, als spielte sie nur für sich und ihren Vater. Allmählich befreite sich die Musik wie von selbst. Sie verband die liebsten Motive ihres Meisters Charlie Parker im Blues-Schema zu einer nicht enden wollenden Kette von Kadenzen und Akkorden. Es war, als wehte die Brise durch ihren Kopf, trüge den Müll mit sich fort und füllte die grauen Zellen mit reiner Freude. Ins Spiel vertieft, bemerkte sie nicht, wie die jungen Leute sich näherten. Sie lauschten im Halbkreis hinter ihrem Rücken der Darbietung, als hätten sie teuer dafür bezahlt. Der Applaus erschreckte sie, als sie das Instrument absetzte.
»He – fantastisch – wer bist du, woher kommst du, was war das?«
Lächelnd ließ sie die Fragen an sich abperlen. Nur eine beantwortete sie gerne:
»Charlie Parker. Das waren Motive von Charlie Parker. Der war noch etwas besser auf dem Altsaxophon.«
»Wer ist Charlie Parker?«
Die jungen Leute gehörten zu einer anderen Generation. Sie kannten wohl die Namen aller angesagten DJs. Jazzgrößen wie ›the bird‹ waren etwas für Ewiggestrige, interessant nur, dass ihre Musik immer noch faszinierte.
»Du musst unbedingt am Freitag in der ›Blechnerei‹ spielen«, rief einer und drückte ihr einen Flyer in die Hand.
Open Stage!, stand darauf, quer über die Seite gedruckt, mit Ausrufezeichen. Sie bekam endlich Gelegenheit, ihre Frage zu stellen:
»Wer seid ihr?«
Die Jungs erinnerten sich blitzschnell an ihre Vornamen. Die Mädchen hielten sich zurück. Sie schüttelte lachend den Kopf.
»Ich meinte eigentlich: Was tut ihr hier in Konstanz?«
Es waren Studenten von der Uni, wie sie gehofft hatte. Sie merkte sich die Gesichter. Uni – Gaia – interessant. Ein unauffälliger Zugang zum Campus könnte sich eines Tages als nützlich erweisen.
»Also bis Freitag«, sagte der Blasse mit den roten Wangen, der ihr das Flugblatt in die Hand gedrückt hatte.
»Mal sehen.«
Nachdem sich die Gruppe Richtung Altstadt entfernt hatte, schickte ihr Saxofon ein paar letzte Seufzer über den jetzt fast schwarzen See. Kurz bevor sie das Instrument absetzte, klingelte es in ihrem Koffer. Zwei Fünfzig-Cent-Münzen und drei Fünfer lagen auf dem Staubtuch, das ihre Glock abdeckte. Sie rief dem einsamen Spaziergänger ein Danke nach und packte zusammen. Der Tag endete besser, als er begonnen hatte. Immerhin war sie um 1.15 Euro reicher. Das Geschenk erinnerte sie an den Vorsatz, Jamie eine Kleinigkeit mitzubringen nach ihrem Einsatz – bloß was? Das Problem würde sie noch lange beschäftigen, fürchtete sie.
Sie hatte den Eindruck, Rappold ducke sich vor ihr, als sie am Morgen fast gleichzeitig das Präsidium betraten. Im schwarzen Gilet über der ärmellosen Bluse, Pistole gut sichtbar im Schulterhalfter, erinnerte sie ihn vielleicht noch stärker an eine zu allem entschlossene Domina. Kaum stand sie im Büro, kam Hinz aus der dunklen Ecke geschossen und haspelte den Stand der Ermittlungen herunter. Er war schnell fertig.
»Thorsten Kramer hat niemand mehr an seiner Meldeadresse in Litzelstetten gesehen seit einem halben Jahr«, berichtete er. »Das bestätigen alle Nachbarn, sagen die Kollegen.«
»Was sagt die KTU über den Sprengstoff?«
»Die Analyse ist noch im Gang.«
Mehr gab es nicht zu berichten an diesem Morgen. Rappold hatte endlich die bequemste Stellung auf dem Sessel gefunden und war dabei, seinen Kaffee aus dem Pappbecher zu kosten, als sie ihn mit der Bemerkung schockierte:
»Wir fahren zum Tatort.«
Um ein Haar entglitt ihm der Becher. »Was – wieso das denn? Steht doch alles im Bericht.«
»Im Bericht steht, dass Sie gerade mal den leitenden Ingenieur und die Arbeiter der Nachtschicht vernommen haben.«
»Das waren die einzigen potentiellen Zeugen.«
Sie schüttelte den Kopf, beugte sich zu ihm hinunter und zeigte ihm den Drohfinger. Sofort brachte er seinen Kaffee in Sicherheit.
»Mein lieber Kommissar Rappold. Mir scheint, Sie ermitteln allzu offensichtlich nur in eine Richtung. Wie ich gestern schon erwähnt habe, müssen alle Leute befragt werden, die irgendwie mit dem Versuchsgelände in Kontakt gekommen sind. Insbesondere sollten wir uns um entlassene oder anderweitig frustrierte Mitarbeiter kümmern. Wer sagt uns denn, dass der Anschlag kein Insider Job gewesen ist? Bis wir die Phantome der Gruppe Gaia vernehmen können, müssen wir in alle Richtungen ermitteln, einverstanden?«
Ohne die Antwort abzuwarten, ging sie zur Tür.
»Auf geht‘s!«
Er betrachtete unschlüssig den Becher mit der siedend heißen Brühe.
»Lassen Sie den Kaffee stehen, Kollege. Sie werden ihn nicht vermissen. Zu viel Säure ist nicht gut für den übersäuerten Magen.«
Hinz versteckte sich wieder in der dunklen Ecke, wo seine Gesichtszüge weniger deutlich zu erkennen waren.
»Hinz, Alibis!«, brüllte Rappold ihn an.
»Ich fahre mit meinem Wagen«, sagte sie.
ÜBERLINGEN
Ingenieur Niklas Kolbe empfing sie im Bürocontainer. Er wischte sich mit einem öligen Putzlappen Striemen ins Gesicht und rieb die Hände am schmutzigen Tuch, bevor er sie begrüßte. Sollte heißen: Hier wird hart gearbeitet, keine Zeit für Fragen. Sie überließ Rappold die Einleitung.
»Wieso zum Teufel wollen Sie die Leute zum zweiten Mal befragen?«, fuhr ihn Kolbe an. »Sie halten uns von der Arbeit ab. Bei uns kostet jede Minute bares Geld, Mann!«
Sollte wiederum heißen: Bei uns wird gearbeitet, nicht wie bei der Polizei. Rappold hatte den Ingenieur wohl bisher mit Samthandschuhen angefasst. Kolbe schien jedenfalls keine besonders hohe Meinung vom Kommissar aus Konstanz zu haben, was sie durchaus nachvollziehen konnte. Diesmal sollte er sich täuschen. Mit der Domina im Rücken lief Rappold zur Hochform auf.
»Herr Kolbe, wir sind nicht hier, um Zeit zu vergeuden. Ich kann gerne die gesamte Belegschaft aufs Präsidium vorladen, wenn Ihnen das lieber ist. Also?«
Kolbe traute seinen Ohren nicht. Sein Blick wanderte unschlüssig zwischen dem Kommissar, ihr und Hinz, der hinter ihrem Rücken Deckung suchte, hin und her.
»Was wollen Sie?«, fragte er schließlich mit vor Ärger bebender Stimme.
»Wir werden sämtliche Mitarbeiter zur Tatnacht befragen, auch die, die jetzt in ihren Wohnwagen schlafen. Dazu brauchen wir eine vollständige Liste des Personals inklusive aller Zulieferer. Wir befragen jeden, der im letzten halben Jahr Zutritt zur Versuchsanlage hatte.«
Kolbe lachte hysterisch auf. »Sie sind verrückt!«
»Halten Sie sich zurück, sonst sind Sie wegen Beamtenbeleidigung dran. Wir machen nur unsere Arbeit und zwar gründlich. Es sollte auch Ihnen einleuchten, dass wir alle Alibis überprüfen müssen.«
Ihre Worte. Sie musste sich zurückhalten, um Rappold nicht auf die Schulter zu klopfen.
»Während die Kollegen Ihre Leute befragen, möchte ich mich auf dem Areal umsehen«, sagte sie.
Er warf ihr giftige Blicke zu und fragte mit kaum verhohlener Wut:
»Wozu soll das gut sein?«
»Wenn Sie gestatten, stelle ich die Fragen.« Mit einer einladenden Handbewegung wies sie nach draußen. »Bitte sehr, Herr Kolbe, nach Ihnen.«
Er rührte sich nicht.
»Je schneller ich mir einen Überblick über die Anlage und Abläufe verschafft habe, desto früher sind Sie mich wieder los«, fügte sie hinzu.
Dieses Argument leuchtete ihm ein. Er gab ihr einen Schutzhelm und trat ins Freie.
»Sie wissen, was wir hier tun?«
»Ganz grob«, antwortete sie und spielte die Naive. »Sie suchen im Tonschiefer nach Gas. Erklären Sie es mir.«
»Da haben wir schon das erste Missverständnis. Die Gesteinsschicht, in der das Erdgas, vor allem Methan, gebunden ist, hat nichts mit Schiefer zu tun. Es ist eine Schicht aus Tonstein. Die Bezeichnung Schiefergas ist Unsinn. Sie beruht auf einem Übersetzungsfehler.«
»Ach so, und dieser Tonstein befindet sich hier unter unseren Füßen?«
Er nahm ihr die wissbegierige Dilettantin ohne Weiteres ab. Die Kommissarin rückte in den Hintergrund. Es reichte gar für ein verständnisvolles Lächeln, als er antwortete:
»Nicht direkt an dieser Stelle. Wir befinden uns am Rand des Vorkommens. Die Bohrung führt senkrecht unter die undurchlässige Schicht, über der das Grundwasser liegt. Von dort bohren wir horizontal weiter in die Tonschicht hinein.«
»Horizontal?«, unterbrach sie mit großen Augen. »Wie geht denn das?«
»Es ist im Grunde eine alte Technik, die wir heute natürlich mittels Sensoren und Computern wesentlich besser beherrschen. Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen die Auswertungen im Überwachungswagen.«
»Danke, später vielleicht.«
Ihr Interesse galt im Augenblick eher dem Inhalt der vielen Tanks auf dem Gelände. Sie standen bei den Bohrtürmen.
»Also, hier führt die Druckleitung hinunter und stößt dann horizontal in die Tonschicht vor. Das Gestein bekommt durch den Druck Risse. So gibt es das eingelagerte Gas frei, das entlang der Bohrung aufgefangen und an die Oberfläche geleitet wird. Bei den Förderköpfen dort drüben fangen wir es auf und leiten es in die Vorratstanks. Das ist nur eine Versuchsanlage mit Testbohrungen. Deshalb sind wir natürlich nicht an ein Pipelinenetz angeschlossen.«
»Und das funktioniert einfach mit Wasser?«
Wieder lächelte er verständnisvoll. »Wir verwenden ein FracFluid aus Wasser, Sand und Stärke. Im Gegensatz zu klassischen Fracking Anlagen gibt es bei uns keine giftigen Chemikalien. Wir nennen die Methode deshalb ›Clean Fracking‹.«
»Tönt ja sehr fortschrittlich.«
»Ist es auch.«
Er führte sie zu einem Mischwerk nahe der Stelle, wo die Lagerhalle abgebrannt war. Es wies keinerlei Explosionsschäden auf, genau wie alle andern Anlagen, die sie besichtigte. Der Eindruck verstärkte sich, die Täter hätten genau darauf geachtet, nur den Inhalt des Lagers zu vernichten. Warum sollten Umweltaktivisten so etwas tun?
»Hier wird das Wasser mit dem Zusatz gemischt«, erklärte er. »So entsteht das FracFluid.«
»Mit dem Zusatz aus der abgebrannten Halle«, ergänzte sie mit ironischem Schmunzeln.
»Ja, Sie haben recht. Das funktioniert jetzt natürlich nicht mehr. Wir werden das Fluid vorderhand fertig gemischt aus Leverkusen beziehen.«
Die Auslagerung des Mischvorgangs und damit die Aufhebung des Lagers für Fracking Zusatz waren also die einzigen technischen Konsequenzen des Anschlags. Auf dem Weg zurück zum Container überraschte sie Kolbe mit der Frage:
»Warum gerade hier, so nahe am Schutzgebiet um den Bodensee?«
»Die Tonschicht verläuft nun mal genau hier entlang – und wie gesagt: Wir betreiben ›Clean Fracking‹ und halten uns an alle Auflagen.«
»Das möchte ich hoffen.«
Die Kommissarin war zurück, Kolbes Misstrauen auch.
»Ich muss Sie bitten, mir alle Arbeitsprotokolle und die Logfiles aus dem Überwachungswagen von der Nacht des Anschlags auszuhändigen. Wir brauchen ein vollständiges Bild der Ereignisse in jener Nacht.«
Nun waren auch Kolbes feindselige Blicke wieder da. Er hatte keine Wahl und wies eine Mitarbeiterin an, die gewünschten Informationen zusammenzustellen. Der dünne Papierstapel sah nicht sehr vertrauenerweckend aus. Sie zweifelte an der Vollständigkeit der Angaben, befasste sich aber zuerst mit der geologischen Karte, die Kolbe bei ihrer Ankunft weggeräumt hatte. Sobald sie allein war im Container, breitete sie die Karte aus. Die Tonschicht verlief in einem breiten Band vom See her nach Nordosten. Wie der Ingenieur behauptet hatte, befand sich das Versuchsgelände am südlichen Rand des Vorkommens. Sie rief das Satellitenbild der Umgebung auf ihrem Handy ab und legte es in Gedanken über die Karte. Zwanzig oder dreißig Stellen waren rot eingekreist, Gebiete, die sich besonders für eine Förderung eigneten. Die Kreise bildeten eine lange Kette, deren größtes Glied jemand durchgestrichen hatte. In diesem Kreis lag das Kloster Mariafeld.
Zehn Minuten später fuhr sie an einem Kornfeld entlang, wo ein Bauer auf dem Traktor dabei war, die Schwaden aus Stroh zu wenden. Sie hielt an, hupte und gab dem Mann Zeichen, dass sie mit ihm sprechen möchte. Er reagierte erst, als sie den Dienstausweis schwenkte.
»Es geht um den Sprengstoffanschlag, stimmt‘s?«, fragte er, kaum abgesprungen.
Er hieß Paul Weber und arbeitete als Gutsverwalter für das Kloster.
»Schon eine ganze Ewigkeit«, betonte er.
Sie brauchte nicht zu fragen. Er schnitt das Thema, das sie interessierte, von sich aus an.
»Wissen Sie, diese Chemie-Mafia will hier alles kaputtmachen. Sehen Sie sich das Land doch an.« Eine ausladende Handbewegung unterstrich sein Argument. »Das ist Landwirtschaftszone, so weit das Auge reicht. Seit vielen Generationen werden hier nachhaltig Getreide, Gemüse und Früchte produziert. Der Boden ist gut und ernährt uns alle zuverlässig. Und da kommen die geschniegelten Rechtsverdreher der Chemie-Bonzen in ihren Nadelstreifenanzügen und wollen den ganzen Landstrich mit Bohrtürmen überziehen.«
»Den ganzen Landstrich? Ich denke, es geht um einzelne Probebohrungen.«
Ein bitteres Lächeln umspielte seinen Mund. »Wäre es nur um diese zwei, drei Löcher gegangen, hätten sie nicht so einen Aufstand um unser Land gemacht. Dreimal waren die Herren Anwälte mit dem Ingenieur beim Prior, aber der hat sich Gott sei Dank nicht breitschlagen lassen. Es gibt eben noch anständige Menschen.«
»Verstehe ich Sie richtig: Die NAPHTAG wollte das Klostergut kaufen?«
»Genau, so heißt die Mafia, NAPHTAG. Sie haben am Ende eine astronomische Summe geboten für den Teil des Guts, auf dem wir jetzt stehen. Wenn Sie mich fragen, geht es denen darum, ein zusammenhängendes Gelände bis hinüber nach Memmingen zu erschließen. Einige Nachbarn haben schon verkauft oder gut bezahlte Vorkaufsrechte überschrieben.«
»Bis nach Memmingen! Das sind mehr als hundert Kilometer, Platz für hundert Förderanlagen.«
»Da sehen Sie es.«
Kolbe hatte nichts dergleichen erwähnt, als handelte es sich bei seinem Unternehmen nur um eine isolierte Probebohrung. Falls die Vermutung des Gutsverwalters zuträfe, könnte sich der Konzern ein Scheitern des Versuchsbetriebs gar nicht mehr leisten. Sie bedankte sich und zog das Telefon aus der Tasche. Es gab Arbeit für den Kollegen Haase. Bauer Webers Angaben bargen Zündstoff. Es lohnte sich, sie unverzüglich zu überprüfen.
Ingenieur Kolbe hatte das Versuchsgelände verlassen, als sie zurückkehrte. Sie benutzte die Gelegenheit, die Techniker an den Bohrtürmen direkt zu befragen. Beim Rundgang mit Kolbe war ihr der große, offenbar unbenutzte Vorrat an Bohrgestängen und Förderrohren aufgefallen. Sie suchte sich den Arbeiter aus, der sich am brennendsten für sie zu interessieren schien.
»Wie es aussieht, sind die Löcher noch nicht tief genug«, scherzte sie.
Der Scherz war offenbar gelungen. Er lachte herzhaft.
»Es täuscht«, sagte er mit dem Blick aufs Materiallager. Er neigte sich zu ihr herüber, dass sein Mund ihr Ohr beinahe berührte und flüsterte: »Der Herr Ingenieur hat sich verrechnet.«
»Wie darf ich das verstehen?«
»Wir sind schon in einer Tiefe von 2‘000 Metern auf ergiebige Schichten gestoßen.«
»2‘000 Meter, aha. Das ist aber ein ganz schön tiefes Loch.«
Er fand auch diese Bemerkung außerordentlich erheiternd.
»Sie haben keinen Schimmer von unserer Arbeit, was?«, platzte er heraus. »Zwei Kilometer sind gar nichts. Normalerweise treiben wir über vier Kilometer vor.«
3‘000 Meter war die gesetzlich erforderliche Minimaltiefe für solche Bohrungen. Das schien der Techniker nicht zu wissen. Kolbe wusste es ganz bestimmt. In seinen Protokollen war die Tiefe mit unbedenklichen 4‘500 Metern angegeben. Sie glaubte nicht an ein Versehen.
Hinz und Rappold hatten die Befragungen abgeschlossen. Die Überprüfung der Alibis für die Tatnacht würde einige Zeit dauern, ebenso wie die noch ausstehenden telefonischen Befragungen der externen Mitarbeiter und Zulieferer. Die bisherigen Ermittlungen ergaben kein einheitliches Bild. Nichts wies eindeutig in die Richtung eines Insider Jobs.
Hinz überraschte sie. Er hatte nicht nur Fotos aller Anwesenden geschossen, sondern auch die Autos auf dem Parkplatz abgelichtet und sie den Angestellten zugeordnet. Der Junge besaß Potenzial.
»Leider keine verdächtigen Fahrzeuge«, fasste er zusammen.
Nicht überraschend: Seine Aktion erfolgte einige Tage zu spät. In der Tatnacht war keinem Kollegen eingefallen, die anwesenden Autos zu kontrollieren.
»Wir fahren dann mal zurück«, sagte Rappold.
Die beiden saßen schon im Wagen, als laute Rufe und Flüche ihre Aufmerksamkeit auf die Förderköpfe lenkten. Dampf zischte pfeifend aus einem Ventil. Arbeiter flüchteten. Warnrufe scheuchten auch die letzten zwei Techniker von ihrem Arbeitsplatz. Der Druck von 400 bar sprengte das defekte Ventil. Es explodierte mit lautem Knall. Geschosse aus Gusseisen schwirrten durch die Luft wie gigantische Querschläger. Alarmsirenen schalteten sich ein. Mitten im Durcheinander entdeckte sie hinter dem Bohrgestänge am Rande des Versuchsgeländes ein geparktes Auto, das Hinz weder erwähnt noch auf einem Foto gezeigt hatte. Sie musste die Unglücksstelle mit dem geplatzten Ventil weiträumig umgehen, um zum Fahrzeug zu gelangen. Von Weitem sah sie eine Gestalt darauf zu laufen.
»Halt, Polizei, bleiben Sie stehen!«, schrie sie aus Leibeskräften.
Die tosende Schlammfontäne, die aus dem Leck in den Himmel schoss, übertönte alle Rufe. Sie verlor die Gestalt für kurze Zeit aus den Augen. Das Rohrlager versperrte den Weg. Fluchend rannte sie ums Hindernis herum. An der Ecke schoss die Schaufel eines Radladers wie das aufgerissene Maul einer Bulldogge auf sie zu. Ein Satz zur Seite in einen Sandhaufen rettete sie in letzter Sekunde.