Kitabı oku: «Strohöl», sayfa 4

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»Alles in Ordnung?«, rief der Fahrer, ohne anzuhalten.

Er bremste nur leicht ab und beschleunigte sogleich wieder, als er sah, wie sie sich aufraffte. Wütend schüttelte sie den Sand aus den Kleidern, dann rannte sie weiter, den Puls auf hundertachtzig.

Die Gestalt war verschwunden, das Auto auch. Mann oder Frau? Sie konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Wagentyp und Kennzeichen blieben unbekannt. Eine schwarze oder dunkelblaue Limousine – mehr hatte sie nicht gesehen. Zu wenig für eine Fahndung, und die Verfolgung war zwecklos. Eine Stunde und unzählige Fragen später war sie kein bisschen schlauer. Niemand wollte den Unbekannten gesehen haben, aber es gab ihn oder sie, immerhin eine neue Erkenntnis.

Der rote Minivan hielt unterhalb des Hügels an. Von hier aus lag einem das ganze Klostergut zu Füßen. Die Luft flimmerte über den abgeernteten Feldern. In der Ferne glitzerte das schmale, silberne Band des Überlingersees. Maria Herzog stieg aus und atmete die trockene Landluft ein, die wie immer um diese Jahreszeit nach frischem Stroh roch. Sie war froh, wenigstens von ihrem Lieblingsplatz aus keine Bohrtürme zu sehen und das Summen der Pumpen nicht zu hören. Die Landschaft und das alte Gemäuer des Klosters hatten sich nicht verändert, seit sie als kleines Mädchen zum ersten Mal auf diesem Platz gestanden hatte. Die Zeit war stehen geblieben. Das erfüllte sie jedes Mal mit einer inneren Ruhe, die sie sonst im Alltag nicht kannte.

Die Marienglocke kündigte das mittägliche Angelusläuten mit drei bedächtigen Schlägen an. Sie war nicht religiös. Dafür war ihr Gehirn zu rational verdrahtet, aber die Jahre im katholischen Waisenhaus und Internat hatten ihr diese Kultur eingeimpft. Für sie war das Glockengeläute ein Stück Heimat wie der Bodensee oder der Zeppelin, der am stahlblauen Himmel surrend seine Runden drehte.

Bauer Weber war auf dem Weg in die Scheune. Seine Maschinen ruhten über Mittag wie früher die Landarbeiter. Er sprang vom Traktor, als sie auf den Hof fuhr.

»Da schau her, die Maria«, rief er freudig.

Für ihn war sie immer noch das Mädchen, das fast jede freie Minute auf dem Hof verbrachte. Er war der Herr Weber geblieben.

»Na, brauchen deine Pferde wieder Stroh?«, fragte er lachend.

Er wusste, dass ihre Pferde mikroskopisch kleine Lebewesen waren, die das Stroh schneller fraßen als ausgewachsene Pferde das Gras. Vorstellen konnte er sich dennoch nichts unter ihrer Arbeit.

»Sie lachen, Herr Weber, aber die Nachbarn haben uns tatsächlich schon gefragt, wann endlich die Pferde kämen.«

»Kann ich gut verstehen.«

Er half ihr, die zwei Strohballen ins Auto zu laden. Bald würde die ›Herzog Green Chemicals AG‹, ihre kleine Start-up Firma, mit einem Lkw vorfahren. Der Sprung vom Forschungslabor zur industriellen Produktion war endlich in Sichtweite gerückt. Sie war überzeugt, den endgültigen Durchbruch in den nächsten Tagen, höchstens Wochen, zu schaffen. Für sie und ihre Forscherkollegen, allen voran Felix Buchmacher, Mitbegründer und unverzichtbarer Partner, würde ein Lebenstraum in Erfüllung gehen. Ein Traum, an den auch die privaten Investoren glaubten, deren Risikokapital ihren Betrieb am Leben erhielt. Sie würden reich belohnt werden, daran zweifelte sie keinen Augenblick.

Bauer Webers Frage unterbrach ihre Gedanken.

»Hast du gehört, was ich gesagt habe?«

»Wie bitte – nein, Entschuldigung.«

»Ihr Akademiker seid ein zerstreutes Volk«, sagte Weber kopfschüttelnd. »Ich habe gesagt, das Stroh koste diesmal nichts.«

»Kommt nicht infrage.«

»Willst du Streit?«, lachte er.

»Was halten Sie davon, wenn ich diese zwei Ballen bezahle, dafür die nächste Ladung geschenkt erhalte?«

Er musterte sie misstrauisch. »Da steckt sicher einer deiner schlauen Schachzüge dahinter.«

»Abgemacht?«

Sie streckte ihm die Hand entgegen. Er schlug zögernd ein.

»Vielen Dank, die nächste Ladung holen wir nämlich mit dem Lkw ab.«

Sie nahm den Handel nicht ernst, er offenbar auch nicht. Mit den Schultern zuckend, sagte er:

»Ich wusste es. Gegen euch Studierte ist kein Kraut gewachsen. Aber egal, vielleicht stehst du das nächste Mal sowieso vor einer leeren Scheune.«

»Wie das?«

»Ich weiß nicht, wie lang der Prior dem Druck der Fracking Mafia noch standhält. Das Kloster ist alles andere als auf Rosen gebettet, und nach der miserablen Ernte im letzten nassen Sommer herrscht Ebbe in der Kasse. Ich müsste dringend das Gebläse erneuern und das Dach ausbessern lassen, aber dafür fehlt das Geld.«

»Sie meinen, Pater Raphael verkauft das Land doch noch an die NAPHTAG?«

»Überraschen täte es mich nicht.«

Die Nachricht schockierte sie. Das Stroh würde sie auch woanders bekommen, falls das Kloster den Getreideanbau aufgäbe. Ihr Problem bestand darin, dass sie den Verheißungen des ›Clean Fracking‹ keine Sekunde traute. Eine solche Industrieanlage praktisch vor der Haustür würde die Qualität der übrigen Güter, die Bauer Weber produzierte, beeinträchtigen. Bio Label ade, Lebensqualität ade. Vor allem aber schockierte sie, dass offenbar nichts und niemand die Profitgier des Petrochemie Giganten stoppen konnte. Weber hörte sich ihre Argumente geduldig an. Am Schluss bemerkte er nur:

»Wem sagst du das.«

Sie musste unbedingt den Prior sprechen. Die Mittagspause verbrachte sie am Telefon mit den Kollegen im Labor in Wollmatingen und ihrer Geliebten. Emma verhielt sich merkwürdig verschlossen seit einigen Tagen. Maria wusste nur, dass sie an einer heißen Story arbeitete, in der die NAPHTAG eine Hauptrolle spielte. Mehr war nicht aus Emma herauszuholen. Wie üblich hielt sie die Geschichte strikt unter Verschluss bis zur Veröffentlichung. »Sonst wird aus der Bombe eine harmlose Verpuffung«, war ihr Argument. Maria hatte kein Problem damit. Sie selbst verhielt sich nicht anders, was ihre Forschungsergebnisse anbelangte. Der entscheidende Unterschied bestand nur in Emmas Tendenz, sich bei ihren Recherchen in unmögliche Situationen zu manövrieren. Kurz bevor die Bombe platzte, steigerte sich die Sorge um Emma zum latenten Unwohlsein. Hörte sie einen halben Tag nichts von ihr, begannen sich die Nerven zu kräuseln, als stünden sie unter Hochspannung. Emma beendete das Gespräch mit dem üblichen Zweckoptimismus:

»Mach dir keine Sorgen. Es ist bald vorbei.«

Pater Raphael, der Prior des Klosters Mariafeld, empfing sie freudestrahlend wie Bauer Weber. Die Sorgenfalten auf seiner Stirn erschienen ihr zahlreicher und ausgeprägter als beim letzten Besuch vor zwei Monaten. Vielleicht bildete sie es sich ein nach dem Gespräch mit Weber, aber die Stimme des Paters bestärkte den Eindruck. Er klang müde, erschöpft, obwohl er sich alle Mühe gab, die gewohnte, unerschütterliche Kraft und Ruhe auszustrahlen, die ihr stets Halt und Zuversicht gegeben hatte. Sie sah in ihm nicht den Priester, den frommen Mönch. Pater Raphael war der gute Onkel, der sich ihrer nach dem Verlust der Eltern angenommen hatte. Ihm verdankte sie die Chance, an der Uni Konstanz das studieren zu können, was sie schon früh in den Bann gezogen hatte: Biologie, die Wissenschaft vom Leben. Er hatte sie letztlich überzeugt, den Schritt in die Selbstständigkeit mit dem Start-up-Unternehmen zu wagen, obwohl auch er sicher keine genaue Vorstellung davon hatte, was sein Schützling zwischen Petrischalen, Bioreaktoren und Chromatografen eigentlich trieb.

»Du hast Stroh geholt, nehme ich an«, sagte er nach der Begrüßung.

Sie nickte. »Die Mikroben brauchen Futter.«

»Eines Tages musst du mir mit den Worten eines Laien erklären, woran ihr arbeitet.«

»Es ist eigentlich ganz einfach, wenn man von ein paar Einzelheiten absieht. Wir bringen Bakterien dazu, bestimmte Chemikalien aus Biomasse zu erzeugen. Bauer Webers Stroh eignet sich hervorragend als Futter. Unsere Bakterien ersetzen also eine ganze chemische Fabrik.«

»Das hört sich so einfach an.«

»Ganz so einfach ist es schon nicht. Immerhin tüfteln wir schon fünf Jahre daran, und während meiner Doktorarbeit habe ich auch nichts anderes getan. Anfangs wollten die Viecher partout nur in teurem Traubenzucker gedeihen.«

Die Bemerkung rang dem Prior ein Schmunzeln ab.

»Riesling-Sylvaner, vermute ich.«

»So ungefähr.«

»Und jetzt habt ihr die Einzeller umerzogen?«

»Genau das haben wir getan. Ich bin zuversichtlich, dass wir bald eine stabile Population gezüchtet haben, Pater. Vielleicht sieht man es mir nicht an, aber ich bin richtig glücklich.«

»Man sieht es«, beruhigte er lächelnd, »andererseits hattest du schon immer ein sonniges Gemüt. Dafür beneide ich dich.«

Sie ließ den Blick durchs Arbeitszimmer des Priors gleiten. Wie oft hatte sie schon hier gesessen, das große, schwere Kruzifix vor Augen, das zu ihm gehörte wie die Kutte und die Brille mit dickem, schwarzem Rand? Auch dieser Raum veränderte sich nie. Pater Raphael besaß empfindliche Antennen. Ihm entging nicht, dass sie noch etwas loswerden wollte. Lächelnd forderte er sie auf, zu sprechen.

»Ich habe von Bauer Weber erfahren, dass die NAPHTAG Land vom Kloster kaufen will. Er ist sehr beunruhigt.«

Der Prior nickte nachdenklich. »Das kann ich verstehen. Er hängt am Klostergut wie wir alle.«

»Ehrlich gesagt, mache ich mir auch große Sorgen«, fügte sie hinzu.

»Du? Warum solltest du dir Sorgen machen?«

Sie wiederholte die Argumente, die sie schon beim Gutsverwalter vorgebracht hatte. Ähnliches musste Pater Raphael auch durch den Kopf gegangen sein. Er zeigte sich nicht überrascht, dachte aber lange nach, bevor er antwortete:

»Noch ist nichts entschieden.« Nach einer weiteren Pause ergänzte er: »Manchmal lässt einem der Herr nur die Wahl zwischen zwei Übeln.«

»Tun Sie es nicht. Verkaufen Sie nicht an die NAPHTAG, Pater. Ich weiß, es hört sich kindisch an, aber ich kann es nicht anders ausdrücken: Dieser Konzern ist böse. Die NAPHTAG kann sich die besten Anwälte leisten, dass Sie am Ende mit allen Konsequenzen leben müssen, selbst wenn das Fracking Unternehmen Ihr ganzes Grundwasser verseucht.«

»Übertreibst du jetzt nicht ein wenig, Maria?«

Sie schüttelte entschieden den Kopf. »Wir haben mit unserer Firma erlebt, wozu die NAPHTAG fähig ist. Wir haben bei verschiedenen Banken wegen des geplanten Börsengangs angefragt. Anfänglich erhielten wir attraktive Angebote, doch nach kurzer Zeit verabschiedete sich eine Bank nach der andern. Aus technischen Gründen, wie sie behaupteten. Ein paar ehrliche Banker haben uns den wahren Grund genannt. Die NAPHTAG hat gedroht, ihre Bankbeziehung zu beenden, falls sie weiterhin mit uns zusammenarbeiten.«

Der Pater starrte sie ungläubig an. »Warum sollten die so etwas Verwerfliches tun?«

»Weil sie sich bedroht fühlen, noch bevor wir unsere Forschungsergebnisse veröffentlichen. Der NAPHTAG Konzern will jede Konkurrenz im Keim ersticken. Eines Tages wird unsere ›grüne‹ Chemie große Teile der petrochemischen Industrie ersetzen. Davor haben sie panische Angst. Darum treiben sie dieses Fracking Projekt mit allen Mitteln voran, um Fakten zu schaffen und nachhaltige Alternativen wie unsere gar nicht erst aufkommen zu lassen. Ich fürchte, dazu ist dem Konzern jedes Mittel recht.«

Sie war verstimmt, zornig. Pater Raphael kannte seine Maria so nicht. Jedenfalls ließ sie einen ziemlich verwirrten Prior im Kloster zurück, als sie sich auf den Heimweg machte.

KONSTANZ

Die Studentin sah die chemische Formel, die wie ein fettes Logo auf Felix Buchmachers Arbeitsmappe prangte.

»C4H6O4 – was ist an diesem Molekül so spannend?«, fragte sie provozierend.

»Was wissen Sie über Plattformchemikalien?«, fragte Felix zurück.

»So nennt man Basischemikalien, aus denen viele andere, komplexere Stoffe synthetisiert werden.«

»Das haben Sie schön auswendig gelernt«, sagte er lachend.

Er schob die Probe aus dem Labor in Wollmatingen ins NMR-Impulsspektrometer und schaltete das Gerät ein. Die Start-up Firma war zu klein und sparsam, um sich ein solches Instrument leisten zu können. Deshalb verbrachte er manche Stunde unter Studenten im Chemiegebäude der Uni – und in der Cafeteria. Er deutete auf die Formel und ergänzte:

»Bernsteinsäure ist so eine Basischemikalie. Man verwendet sie zum Beispiel zur Herstellung von Polyester. Lösungsmittel und Weichmacher für Kunststoffe werden daraus produziert. Sogar die Parfümindustrie braucht dieses Molekül.«

Die Studentin zeigte sich unbeeindruckt.

»Und jetzt wollen Sie die Struktur dieses einfachen Moleküls bestimmen?«, fragte sie mit einem ironischen Blick aufs Spektrometer.

Er schüttelte lachend den Kopf. »Die könnte ich im ›Beyer‹ nachschlagen. Nein, junge Dame, was das Instrument gerade analysiert, bleibt mein Geheimnis.«

»Na dann viel Erfolg.«

»Danke, werde ich haben«, murmelte er, während sie zur Tür hinaus rauschte.

Von hinten erinnerte sie entfernt an die Süße mit den Fransen, die ihm in der Cafeteria verstohlene Blicke zugeworfen hatte, wie er glaubte. Er wandte sich mit einem leisen Seufzer wieder dem Computerbildschirm zu, auf dem er den Fortschritt der Analyse kontrollieren konnte. Die Probe im Spektrometer gehörte tatsächlich zum bestgehüteten Betriebsgeheimnis der ›Herzog Green Chemicals‹. An der Struktur dieses Enzyms entschied sich, ob ihre junge Firma eine Zukunft hatte oder nicht. Das Molekül mit dem komplexen räumlichen Aufbau wirkte als Katalysator bei der Herstellung von Bernsteinsäure aus Stroh und anderen Zelluloseabfällen durch die eigens zu diesem Zweck programmierten Bakterien. Ohne Katalysator würde der Traum einer ›weißen Biotechnologie‹ nicht in Erfüllung gehen. Trotz unsicherer Rohstoffversorgung und schwankender Preise bliebe die klassische Herstellung von Basischemikalien und Kunststoffen durch petrochemische Verfahren attraktiver. Nachwachsende Rohstoffe statt Erdöl und Erdgas würden auf absehbare Zeit eine unbedeutende Randerscheinung bleiben. Das Molekül in diesem Spektrometer war die Zukunft – sofern die räumliche Struktur bis in alle Einzelheiten stimmte.

Er blickte auf die Uhr: halb eins. Die Analyse würde eine weitere Stunde in Anspruch nehmen. Er schaltete die Bildschirmanzeige aus und klebte Zettel an Computer und Spektrometer: Besetzt bis 15:00 Uhr, Dr. F. Buchmacher, dann verließ er das Labor. Der Zeitpunkt war günstig. Er schätzte die Chance auf über fünfzig Prozent, die blonden Fransen in der Cafeteria anzutreffen.

Er knabberte unruhig an einem Käsesandwich, dessen Semmel von letzter Woche stammte. Hin und wieder schlürfte er kalten Kaffee aus einem Pappbecher, um nicht zu ersticken. Er benutzte die traurigen Relikte nur als Tarnung, damit er nicht auffiel, während er das Uni Volk beobachtete. Sie ließ sich Zeit. Eine halbe Stunde verstrich ohne Fransen. Er nippte am leeren Kaffeebecher, unschlüssig, ob er diskret nach ihr fragen sollte. Erst als dieser verwegene Gedanke zwischen all den gefalteten Eiweißen in seinem Gehirn auftauchte, stellte er fest, dass er nichts über sie wusste, gar nichts. Außer dem liebenswürdigen Gesicht mit den Fransen gab es nichts, womit er sie hätte beschreiben können. War sie eine Studentin? Arbeitete sie in der Verwaltung? Wie hieß sie? Wie alt war sie? War sie schon vergeben? Fragen über Fragen und keine Antworten. Er kaute weiter an seinem Pappbecher und wartete.

Eine kleine Gruppe Studenten, zwei Männer, zwei Frauen, setzte sich eifrig diskutierend an einen Tisch am Fenster. Einer sprach ein Dezibel lauter als die andern. Felix verstand nur das Wort »Demo«, passend zu dem Typen im grünen T-Shirt, das lose an ihm flatterte, als wäre er nach dem Kauf vor Jahren in Hungerstreik getreten. Der Vortrag des Eiferers interessierte ihn nicht, wohl aber die Tatsache, dass er ihn einmal in Begleitung der Fransen gesehen hatte. Hoffnung keimte auf. Er erhob sich, um den Redefluss der Vogelscheuche mit seiner Frage zu stoppen, da stand sie unvermittelt am Eingang, Bücher unter dem Arm und heftig atmend. Sie steuerte stracks auf die Gruppe zu, wechselte einige hastige Worte, machte kehrt und eilte wieder hinaus. Mit der Geistesgegenwart des Verzweifelten stellte er sich ihr in den Weg. Der Zusammenstoß war kaum spürbar, verlieh dem zarten Geschöpf aber einen Drehimpuls, dass ihr Bücher und Notizen entglitten. Er entschuldigte sich wortreich, während er nach ihren Sachen tauchte. Ihre Blicke trafen sich zum ersten Mal richtig, länger als eine Millisekunde.

»Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht«, sagte er. »Es tut mir leid. Kann ich es mit einem Kaffee wiedergutmachen?« Er glaubte, sein Herz pochen zu hören, als er die Hand ausstreckte und verlegen zu lächeln versuchte. »Felix.«

»Sarah«, hauchte sie, senkte den Blick und huschte davon.

»Mit oder ohne H?«, murmelte er mit sturem Blick.

Sie war verschwunden, als sich der Verstand wieder einschaltete. Immerhin hatte er drei Dinge gelernt. Er kannte jetzt ihren Namen, wenn er ihn auch nicht mit Sicherheit richtig schreiben konnte. Zweitens duftete sie ebenso gut, wie sie aussah und drittens – das Wichtigste – errötete sie, als sie sich gegenüberstanden. Die Vorstellung, eine Chance bei ihr zu haben, verlieh ihm Flügel. Er rannte auf den Ausgang zum Parkplatz zu, wo er sie vermutete. Keine der Blondinen war seine. Enttäuscht stieg er ins Auto. Der Motor lief schon, als die Erinnerung ans Spektrometer zurückkehrte. Seufzend stellte er den Motor ab und stieg wieder aus. Felix, dich hat es schlimm erwischt. Es war das Vierte, was er an diesem Tag lernte: Möglicherweise gab es noch andere Dinge im Leben als gefaltete Moleküle.

Maria parkte vor dem Schuppen neben dem Haus in Wollmatingen, der alles enthielt, was in den wenigen Büros und im Labor der Firma ›Herzog Green Chemicals‹ nicht Platz fand. Die Nachwuchs-Akademiker, die hier ihr Praktikum absolvierten oder etwas Geld fürs Nachdiplomstudium und die Doktorarbeit verdienten, saßen an ihren Computern. Im Labor sah sie nur den Laboranten.

»Wo ist Felix?«

Der junge Mann unterbrach die Arbeit am Spülbecken und zuckte die Achseln.

»An der Uni nehme ich an.«

»Was – immer noch?«

Das Enzym musste eine sehr komplexe Struktur haben. Sie bat den Laboranten, ihr beim Ausladen zu helfen. Stroh war ein leichter Werkstoff, solang man es nicht zu Ballen presste.

Ein feines Stimmchen unterbrach wenig später ihre Arbeit im Schuppen:

»Was machst du?«

Emmas kleiner Sohn Julian stand neben dem Minivan. Er erkannte das rote Auto seiner Tante Maria von Weitem. Sie legte die Baumschere weg, mit der sie das Gebinde des einen Strohballens auftrennen wollte.

»Wo kommst du denn her, mein Großer?«

Er sprang in ihre Arme, um sich sogleich zu befreien, als sie ihm einen herzhaften Kuss auf die Wange drückte. Im nächsten Atemzug saß er auf dem Stroh und fragte:

»Was machst du damit?«

»Weißt du überhaupt, was das ist?«

»Ein Bett.«

Zum Beweis legte er sich darauf und schloss die Augen. Der Junge war schon jetzt nie um eine Antwort verlegen, wie seine Mutter.

»Als Bett kann man es auch brauchen, das stimmt«, gab sie lachend zu. »Früher haben viele Leute auf Stroh geschlafen. Heute tun es meist nur noch Pferde und Ponys.«

»Ponys sind doof«, rief er und sprang auf.

Die Baumschere weckte sein Interesse. Sie war schneller und brachte das gefährliche Werkzeug in Sicherheit. Er ließ nicht locker.

»Was machst du damit?«

»Mit der Schere schneide ich die Schnüre auf, die das Stroh zusammenhalten.«

Sie zeigte es ihm, sorgsam darauf bedacht, ihn auf Abstand zu halten. Der Junge war flink wie ein Wiesel.

»Warum?«

»Ich muss das Stroh auseinandernehmen und dann zerkleinern.«

»Warum?«

»Unsere kleinen Tierchen im Labor können Strohschnipsel besser essen.«

»Die Tierchen im Fernsehen?«

»Ja, die Bakterien, die ich dir auf dem Computerbildschirm gezeigt habe.«

»Die essen das?«

Er kaute auf einem Halm und spuckte ihn angewidert aus.

»Die Bakterien machen aus dem Stroh wertvolle Sachen – wie Rumpelstilzchen.«

Der Vergleich war ihr ungewollt entschlüpft. Statt weiterarbeiten zu können, besaß sie jetzt seine volle Aufmerksamkeit.

»Wer ist Rummelpilzchen?«

»Rumpelstilzchen«, korrigierte Emma lachend.

Julians Mutter trat auf sie zu und drückte beide an die Brust. Maria entschuldigte sich:

»Tut mir leid, Schatz, ich hätte das Märchen nicht erwähnen sollen, zu brutal für Julian.«

Emma lachte sie aus. »Papperlapapp, Julian liebt Märchen, stimmt‘s?«

»Ja – Rummelpilzchen, Rummelpilzchen!«, rief der Kleine und tanzte auf dem Stroh herum wie Rumpelstilzchen vor der Hütte im Wald.

»Da siehst du‘s«, grinste Emma. »Jetzt musst du ihm die Geschichte erzählen. Du hast keine Wahl.«

Tante Maria als Märchentante. Natürlich fehlte ihr die Zeit dazu. Sie wollte aufbegehren, doch Julians große Augen hingen so erwartungsvoll an ihren Lippen, dass sie nur einen Seufzer zustande brachte.

»Also komm her, Großer, setz dich auf meine Knie.«

Während er die bequemste Haltung suchte, lud sie Grimms Märchen vom Rumpelstilzchen vom Internet auf den Handy Bildschirm. Sie erinnerte sich nur an den Kern der Geschichte. Ein Junge wie Julian aber brauchte alle Einzelheiten. Emma schien sich köstlich zu amüsieren.

»Ich bin oben in der Wohnung«, sagte sie mit gemeinem Grinsen auf den Stockzähnen und verschwand.

Nach einem weiteren Seufzer begann Maria zu erzählen:

»Es war einmal ein Müller, der war arm, aber er hatte eine schöne Tochter …«

Das Märchen vom Wicht, der aus Stroh Gold spinnen konnte, wäre schnell erzählt gewesen, hätte Julian einfach zugehört. Für den Kleinen war alles neu. Nach hundert Exkursen ins Handwerk des Müllers, den Sinn von Spinnrädern und den Wert des Goldes vermochte er immerhin den Zungenbrecher Rumpelstilzchen korrekt auszusprechen. Die Vorlesung dauerte so lange, bis Emma aus der Wohnung zurückkehrte und Julian zum Aufbruch drängte. Die beiden wohnten nicht bei ihr – leider. Andererseits hatte die räumliche Trennung durchaus ihre Vorteile, wenn sie an die Arbeit dachte, die liegengeblieben war. Bevor er ging, sah ihr der Junge tief in die Augen und fragte:

»Kannst du auch aus Stroh Gold machen?«

So klein er war, er hatte den Zweck des Unternehmens ›Herzog Green Chemicals‹ in vier Wörtern zusammengefasst: Aus Stroh Gold machen. Sie konnte die Frage nur mit einem klaren Ja beantworten.

»Dann bist du Rumpelstilzchen!«, rief er und rannte davon.

Emma wollte ihn einfangen, doch sie hielt ihre Lebensgefährtin zurück.

»Warte, Julian geht schon nicht verloren. Wir müssen uns mal ernsthaft unterhalten.«

»Tun wir doch die ganze Zeit.«

»Du weichst aus. Ich merke doch, dass etwas nicht stimmt. Dich bedrückt etwas. Warum sprichst du nicht mit mir?«

Mit mir ist alles in Ordnung – mit uns – glaub mir.

»Hat es mit deiner Arbeit zu tun, mit der Nacht, als du weg warst?«

Emma zögerte. Auf Julians Ruf wandte sie sich ab.

»Wir müssen jetzt … Mach dir keine Sorgen«, sagte sie und ging.

Maria konnte den Spruch nicht mehr hören. Jedes Mal, wenn Emma das sagte, kletterte ihr Sorgenbarometer einige Stufen höher.

Felix saß an seinem Computer, als sie ins Haus zurückkehrte.

»Wie sieht es aus?«, fragte sie.

Er studierte die Zahlenreihen und Grafiken, die das Spektrometer ausgespuckt hatte. Die Runzeln auf seiner Stirn bedeuteten nichts Gutes. Er zeigte auf eine Falte in der Proteinstruktur.

»Die war vorher nicht so ausgeprägt«, murmelte er. »Da stimmt etwas nicht. Ich dachte erst an ein Artefakt oder einen Messfehler, aber die zweite Probe zeigt die gleiche Anomalie.«

Es sah nicht allzu gut aus für ihren mühsam synthetisierten Katalysator.

»Aber die Endsequenzen mit den neuen Doppelbindungen sind in Ordnung?«, fragte sie.

Er nickte.

»Also, dann lohnt sich ein Versuch.«

Biochemie war eine Wissenschaft, die mindestens zur Hälfte auf der Methode ›Versuch und Irrtum‹ gründete. Man brauchte mitunter eine Engelsgeduld, bis alle Bedingungen für einen Erfolg versprechenden Versuch erfüllt waren.

»Der Reaktor ist vorbereitet«, sagte sie mit aufmunterndem Lächeln. »Nichts wie rein mit dem Enzym. Diesmal schaffen wir die fünfzig Prozent. So nah dran waren wir noch nie.«

Fünfzig Prozent Ausbeute an reiner Bernsteinsäure aus dem Bioreaktor: Damit wäre der Durchbruch geschafft, der Schritt zur industriellen Produktion realistisch.

»Das wäre die Sensation an der Pressekonferenz, was meinst du? Die erste echte Bioraffinerie in unserem bescheidenen Labor in Wollmatingen!«

Er saß gedankenverloren am Computer und starrte am Bildschirm vorbei ins Leere. Sie klopfte ihm auf die Schulter.

»Hallo, Dr. Buchmacher, jemand zu Hause?«

Er schreckte auf. »Wie – was ist los?«

»Das frage ich mich auch gerade. Hast du überhaupt zugehört?«

»Du – willst den Versuch trotzdem wagen?«

»Ja klar, und die Pressekonferenz wird ein Erfolg, habe ich noch gesagt. Die Anleger werden uns die Bude einrennen. Jeder will sich noch günstige Anteile sichern vor dem Gang an die Börse, du wirst sehen.«

Er blickte durch sie hindurch. Begeisterung sah anders aus.

»Bist du krank?«

Im Zeitlupentempo kehrte er zu ihr zurück und murmelte:

»Ja, vielleicht.« Unvermittelt grinste er, leicht errötend. »Eine Art Krankheit – du hast wahrscheinlich recht. Es fühlt sich ziemlich ungesund an.«

Es dauerte ein paar Sekunden, bis der Groschen fiel. Die Diagnose war so offensichtlich wie unerwartet für einen Nerd wie Felix.

»Du bist verliebt!«, rief sie lachend.

Er brauchte nicht zu antworten. Sein Gesichtsausdruck sprach Bände.

»Unsern Felix hat‘s erwischt – ich fasse es nicht.«

Soweit sie sich erinnerte, war dies sein erstes Mal trotz der 27 Jahre.

»Wer ist die Glückliche, wie heißt sie, gibt‘s ein Foto?«

»Du nervst. Ich weiß, wie sie heißt.«

»Sag mal! Aber mir willst du den Namen nicht verraten?«

»Du kennst sie nicht.«

»Wer weiß. Du hast sie an der Uni kennengelernt, stimmt‘s? Klar, wo denn sonst.«

»Wir kennen uns eigentlich gar nicht«, entgegnete er mürrisch. »Sie passt einfach nicht zu den Typen, mit denen sie verkehrt, so ganz Grüne und Soziale im Schlabberlook mit total flachen Schuhen und großer Klappe.«

»Sie trägt Schlabberlook?«

»Nein, eben nicht. Sie ist – nett.«

Dabei schwankte sein Gesichtsausdruck zwischen keuscher Freude und Kummer.

»Warum hängt sie denn mit diesen Typen herum?«

»Sie hängt nicht herum – und überhaupt: Dazu müsste ich sie zuerst fragen.«

Er wich ihrem Blick aus. Es dauerte einen Wimpernschlag, bis sie begriff, was es bedeutete. Sie lachte laut auf.

»Ach so – du hast sie noch gar nicht angesprochen?«

»Du verstehst das nicht. Lass mich in Ruhe.«

Er begann, eifrig auf die Tastatur einzudreschen. Plötzlich hielt er inne und sagte:

»Ich muss morgen früh noch mal an die Uni. Vielleicht habe ich die Lösung für unser Problem.«

Du meinst die Lösung für dein Problem, dachte sie und machte sich kopfschüttelnd auf den Weg ins Labor.

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Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
Hacim:
451 s. 2 illüstrasyon
ISBN:
9783967526967
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