Kitabı oku: «Vernichten», sayfa 6
Der Countdown stand bei 2:47:23 als Vanya fluchend aufsprang.
»So funktioniert das nicht!«, rief er wütend.
Sein Bruder beschrieb das Problem. Die Rechenleistung des Monsters betrug nicht viel mehr als das Doppelte ihres eigenen schnellen Servers. So müssten sie hundert Jahre rechnen, um eine starke Verschlüsselung zu knacken. Andrei riss sich von seinem Computerspiel los, las den Countdown-Zähler des Todes laut ab und sagte:
»Visel, sieh mal nach.«
Seine Arbeit am Trojaner war zwar noch nicht erledigt, aber das Problem mit dem Monster hatte Priorität. Sie mussten es unter allen Umständen rasch lösen, sonst konnten sie einpacken. Die Bildschirme der Melnikovs glichen den Monitoren früher PCs: Shell Scripts mit kryptischen Befehlen ans Betriebssystem, endlose Logfiles mit den Antworten des Monsters und Zahlenfriedhöfe. Er benötigte einige Minuten, um zu begreifen, was Vanya dermaßen ärgerte.
»Gibt es keine Auswertung über die Auslastung der Prozessoren?«, fragte er.
Fedor deutete stumm auf das kleine Fenster mit der Ausgabe des ›top‹ Befehls, der Übersicht über die wichtigsten Durchsatzzahlen des Monsters. Vladimir schüttelte den Kopf.
»Das meine ich nicht. Ich brauche die genaue Auswertung über den Grad der Parallelverarbeitung. Wie viele Prozessoren waren aktiv in welcher Phase des Tests – so etwas.«
Die Brüder Melnikov sahen sich ratlos an. Wie sich bald herausstellte, wusste niemand im Bunker, wie man eine solche Auswertung aus dem Monster herauskitzelte.
»Das darf doch nicht wahr sein«, rief er aus. »Ohne diese Statistik fliegen wir im Blindflug.«
»Zwei Stunden«, meldete Andrei, nicht eben hilfreich.
»Statt auf die tickende Zeitbombe zu starren, solltest du besser deine Freunde bei der glorreichen Armee anrufen«, fuhr Vanya ihn an.
»Es sind nicht meine Freunde«, gab Andrei mürrisch zurück und bequemte sich endlich, sich aus dem Sessel zu erheben und zu ihnen ans Pult zu treten.
»Wo liegt das Problem?«
Vladimir antwortete, um Vanya Gelegenheit zu geben, sich zu beruhigen.
»Ich will wissen, auf wie viele Prozessoren die Rechenarbeit unseres Testprogramms verteilt wird. Das ist ja wohl das Mindeste, was man von einem Supercomputer verlangen kann.«
Unsicher, ob Andrei sein Anliegen überhaupt verstanden hatte, verfolgte er skeptisch, wie Andrei sich hartnäckig durchfragte, bis er endlich die richtige Person am Draht hatte.
»Moment«, sagte er und gab ihm den Hörer.
Die Person am andern Ende der Verbindung erwies sich als kompetente Frau. Sekunden später erfuhren sie die erschütternde Tatsache: Ihr Testprogramm war von einem einzigen Prozessor ausgeführt worden, keine Spur von Parallelverarbeitung. Die Frau am Draht gab gleich den entscheidenden Hinweis dazu:
»Sie sollten die Option ›openmp‹ nicht vergessen, wenn Sie mehr Rechenleistung benötigen.«
Er dankte und legte auf.
»Wir sind Idioten«, murmelte er, passte den Ausführungsbefehl fürs Testprogramm an und startete es erneut.
»49 Minuten«, verkündete Andrei.
Dann schwieg auch er. Alle warteten angespannt auf das Ende der Verarbeitung. Fedor brach schließlich das Schweigen:
»Es hat längst terminiert.«
Vladimir traute seinen Augen nicht, glaubte zuerst an einen Fehler. Erst nach eingehender Kontrolle entspannte er sich. Das Monster hatte keine Minute gebraucht, um den aufwendigen Test auszuführen.
»37 Minuten«, verkündete Vanya lachend.
»Heißt das …«
Weiter brauchte Andrei nicht zu fragen. Fisik klärte ihn auf:
»Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass unser Monster sich wahrscheinlich für das Codeknacken eignet.«
Fedor, der Architektor, fasste den Stand der Arbeiten anhand seiner Systemskizze zusammen. Alle Komponenten, die sie für den Angriff brauchten, lagen nun bereit – bis auf seinen Trojaner, das wichtigste Stück Software. Der Countdown stand bei 21 Minuten. Er würde es nicht schaffen, die Konfiguration und alle notwendigen Tests in der verbleibenden Zeit durchzuführen. Andererseits wusste nur er das, und er erwartete keine Überraschungen mehr, also gab er grünes Licht. Die Machbarkeit des Auftrags war erwiesen. Niemand im Bunker zweifelte mehr daran. Der namenlose Unbekannte konnte kommen.
Er erschrak, als Fisik sich von hinten über ihn beugte.
»Kannst du das bitte in korrektes Englisch übersetzen?«, hauchte sie, wobei die Lippen sein Ohr berührten, dass 100‘000 Volt stracks in seinen Schritt fuhren. »Dein Englisch ist viel besser als meins.«
Sie presste die Daumen in seinen Nacken, bevor sie sich abstieß, um zu Andrei hinüber zu schweben. Ein stilles Gewitter entlud sich unter seinem Schreibtisch, während er ihren Zettel las. Er enthielt die knappe aber präzise Anweisung an den unbekannten Helfer vor Ort, was mit den intelligenten Steckern zu tun sei.
Berlin
Chris hatte es wieder nicht geschafft, Jamie die Freudenbotschaft zu überbringen. Der falsche Zeitpunkt, die falsche Stimmung: Ausreden gab es genug. Es blieb ja noch etwas Zeit, bis er es merken musste, tröstete sie sich und hob den Hörer ab. KHK Monika Weber vom LKA war am Apparat.
»Ich wollte Ihnen nur mitteilen, dass wir die Ermittlungen einstellen.« Nach kurzer Pause fügte sie hinzu: »Einstellen mussten.«
Chris hatte so etwas erwartet. Sie verstand Monika Webers Vorgesetzte sogar ein Stück weit. Man wollte den tragischen verdeckten Einsatz in Sankt Petersburg möglichst schnell vom Tisch haben und gab sich mit der fragwürdigen Erklärung der russischen Behörden zufrieden. Das deutsche Ehepaar Meier war zwischen die Fronten zweier Banden von Kinderhändlern geraten und hatte das leider mit dem Leben bezahlt. Klappe zu. Es war nicht die erste Vertuschungsaktion, der sie in ihrer Zeit beim BKA begegnete. Sie zweifelte keinen Augenblick daran, dass die Akte zum Doppelmord auch in Sankt Petersburg längst geschlossen worden war. Zwecklos, beim russischen Innenministerium nachzuhaken. In dieser Beziehung herrschte für einmal Einigkeit mit Staatsanwältin Winter. Für die war der Fall, der so gefährlich heikel begonnen hatte, schon fast vergessen, während die Bilder und Berichte über misshandelte und missbrauchte Kinder noch frisch in ihrem Kopf herumgeisterten. Leere Augen ohne Hoffnung in Kindergesichtern, Jungen und Mädchen, die ihr Gesicht in den Händen verbargen, als hätten sie keins, bildgewordene seelische Grausamkeit, schlimmer als offene Wunden.
»Verstehe«, sagte sie wie zu sich selbst. »Hat die Spur zum Galeristen Matulis etwas gebracht?«
»Nicht wirklich. Die Mordwaffe ist zwar wahrscheinlich sein Revolver, aber es besteht kein Grund, an seiner Geschichte zu zweifeln. Der Revolver ist ihm bei einem Raub russischer Ikonen gestohlen worden. Es ist also durchaus plausibel, dass die Waffe jetzt in Sankt Petersburg auftaucht. Na ja – jedenfalls nicht ausgeschlossen.«
Sie musste ihr zustimmen. Warum sollte eine Bande von Kinderhändlern nicht auch Verbindungen zur Kunstmafia haben? Die Tentakel der Russenmafia reichten weit. Aus einem Bauchgefühl heraus sagte sie:
»Ich wäre Ihnen dankbar für die Unterlagen zu Lukas Matulis, falls es keine Umstände macht.«
Monika Weber lachte bitter auf. »Viel ist es leider nicht. Wir haben versucht, seine Geschäftsreisen und die Art der Geschäfte nachzuvollziehen, stoßen aber überall ins Leere. Der Mann scheint ein unbeschriebenes Blatt zu sein, und jetzt ist die Akte geschlossen.«
Das Dossier, das sie kurz nach dem Gespräch per E-Mail erhielt, verdiente diesen Namen tatsächlich nicht. Sie leitete es an den Kollegen Haase weiter. Wenn jemand in nützlicher Frist einen Menschen wie Lukas Matulis durchleuchten konnte, dann er.
Beim nächsten Stopp an seiner Kaffeemaschine war das Dossier immerhin schon auf zwanzig Seiten angewachsen. Der Galerist wohnte in einer zur Festung ausgebauten Villa in Charlottenburg. Zwei Bodyguards, ein Mann und eine Frau, wichen seit Jahren nicht von seiner Seite. Die meiste Zeit befand er sich allerdings auf Geschäftsreisen, über die Haase bisher nichts herausgefunden hatte. Matulis besaß ein Flugzeug, eine Turbo-Prop-Maschine, die er oft selbst pilotierte. Ohne richterlichen Beschluss gab es deshalb keine Möglichkeit, ein genaues Bewegungsprofil zu erstellen. Es blieb nur die Vermutung, Matulis betreibe Geschäfte in ganz Europa, inklusive Oststaaten und Russland. Für die Tatzeit in Sankt Petersburg hatte ihm die Tochter Roze ein hieb- und stichfestes Alibi verschafft. Matulis blieb ein – zwar undurchsichtiger – Geschäftsmann.
»Etwas ist seltsam«, sagte Haase, während sie die Nase der Arabica-Bohnen prüfte wie bei einem teuren Whisky. »Die Geschichte des Herrn Matulis und seiner Tochter lässt sich fast lückenlos etwa zwanzig Jahre zurückverfolgen, doch dann verliert sie sich im Nebel, als hätte es ihn vorher nicht gegeben.«
»Er stammt aus dem ehemaligen Ostblock«, erwiderte sie, »der Eiserne Vorhang … Die damaligen Behörden waren nicht gerade für ihre offene Informationspolitik bekannt.«
»Stimmt, aber der Eiserne Vorhang und die Abschottung des Ostens endeten 1989, einige Jahre früher. Warum finde ich keine Hinweise auf Matulis aus jener Zeit? Auch nicht in Litauen, notabene.«
»Weil unsere Datenbanken Löcher aufweisen?«
Haase lachte. »Oh ja, Sie sagen es, klaffende Lücken. Falls Matulis doch in pädophile Aktivitäten verstrickt ist, haben wir ohnehin Pech.«
»Wie darf ich das verstehen?«
Haase war nicht nur ein wandelndes Lexikon, wenn es um Polizeiarbeit ging. Er recherchierte auch überaus gründlich und hatte sich in kürzester Zeit mit den Themen Menschenhandel und Pädophilie vertraut gemacht, die eher die Sitte zu interessieren hatten als ihre Abteilung.
»Die professionellen Kinderhändler operieren natürlich international«, erklärte er. »Unsere nationale INPOL-Datenbank nützt da wenig bis gar nichts, da sie kaum Informationen über Beziehungen, Strohmänner, Scheinfirmen etc. über die Landesgrenzen hinaus enthält. Es ist nahezu unmöglich, Personen oder Organisationen miteinander in Verbindung zu bringen, die in verschiedenen Ländern unter verschiedenen Namen operieren. Manchmal gelingt es über die Spur der Opfer, aber das ist eher Glückssache.«
»Warum erstaunt mich das alles nicht?«, fragte sie die Kaffeetasse.
»Das ist bekannt, ich weiß, aber es gibt neue Hoffnung – oder vielmehr: Es gab sie. Ich meine das neue Informationssystem von Europol in Den Haag. Das IS ist zwar immer noch im Aufbau, aber es hat schon im Testbetrieb wertvolle Dienste geleistet beim Aufdecken von Verknüpfungen zwischen Daten und Personen. Das IS umfasst verschiedene Datenbanken, und jetzt wird‘s interessant.«
Er wartete, bis sie ihren zweiten Ristretto in der Tasse hatte, dann fuhr er fort:
»Diese Woche hätte eine neue Datenbank aufgeschaltet werden müssen. Seit zehn Jahren läuft das Geheimprojekt. Offiziell gibt es keine Information darüber, aber die Spatzen pfeifen es von den einschlägigen Dächern. Der Codename der neuen Datenbank lautet PD-27. Fragen Sie mich nicht, wie ich an die Information gelangt bin.«
Sie lachte. »Ich will es nicht wissen.«
»Also – PD-27 fasst zum ersten Mal alle Falldaten in den Bereichen Menschenhandel, Kinderhandel insbesondere, Kinderprostitution, Kindesmisshandlung und Pädophilie europaweit zusammen.«
»Und dafür brauchen die bei Europol zehn Jahre?«
»So ist es. Der Grund ist einfach. PD-27 ist nicht nur eine Sammlung von AWFs …«
»AWF?«
»Analysis Work Files, Analysedaten zu den Fällen, wie sie in den bei Europol angeschlossenen Ländern anfallen. PD-27 ist viel mehr. Zu jedem Fall, zu jedem AWF sind Unmengen von standardisierten sogenannten Tags erfasst worden, die es nur auf dieser Datenbank gibt. Erst durch diese in mühsamer Handarbeit erfassten Tags werden die Falldaten überhaupt maschinell verwertbar. Sie ermöglichen es, Muster zu erkennen und Verbindungen aufzuzeigen, die bisher verborgen blieben.«
»Werden es ermöglichen«, korrigierte sie.
»Wie bitte?«
»Sie sagten doch, PD-27 sei noch nicht im Einsatz.«
»Ach so, ja, aber das soll sich jetzt rasch ändern. Allerdings …«
»Ich höre.«
»Im Moment ist sogar der Zugang zu unseren eigenen Daten im IS blockiert.«
»Wieso denn das?«
»Eine Vorsichtsmaßnahme. Europol vermutet einen Hackerangriff und hat alle Zugänge dichtgemacht. Sie haben das EC3 eingeschaltet.«
»Das European Cybercrime Center in Den Haag? Ist das überhaupt schon in Betrieb?«
»Schon seit mehr als zwei Jahren. Allerdings glaube ich nicht, dass die Kollegen vom EC3 viel ausrichten können – mit vierzig Mitarbeitern und einem Budget, das gerade mal einem Prozent von unserem entspricht.«
»Keine Konkurrenz für die NSA«, bemerkte sie lachend. »Vielleicht sollte Europol die Amis einschalten.«
Staatsanwältin Winter ging am Büro vorbei und schnappte ihre Bemerkung auf.
»Was sollen die Amis?«
Sie wiegelte ab: »Kleiner Scherz«, und ging an ihren Arbeitsplatz zurück, nicht ohne vorher Haase zuzurufen: »Schicken Sie mir die Daten für den Schlussbericht bitte bis Mittag.«
»Gute Arbeit«, bemerkte Winter mit dem seltenen Anflug eines Lächelns.
Chris beneidete die Staatsanwältin manchmal für ihr schnörkelloses Weltbild. Es bestand im Wesentlichen aus geschlossenen Akten. Für sie selbst sorgte Haases Bemerkung über die Cyberattacke kurz vor der Aufschaltung der so wichtigen neuen Datenbank zur Bekämpfung von Kindesmissbrauch im großen Stil für eine gewisse Unruhe. Sie musste wissen, was dahinter steckte und rief den IT-Guru an, den sie in Wiesbaden kennengelernt hatte.
Es war schwierig, Uwe Wolf ans Telefon zu bekommen, schon immer gewesen. Der IT-Experte war ebenso verschlossen wie genial, zeigte autistische Züge. Erst als sie die Kollegin am andern Ende bat, ihn vom Zopf zu grüßen, nahm er den Anruf entgegen.
»Chris Hegel, wir kennen uns«, sagte er.
Normalerweise grüßte er gar nicht, erinnerte sie sich. Sie verzichtete auf die Richtigstellung des Namens und kam gleich zur Sache:
»Ja, ist schon eine Weile her. Uwe, ich habe nur eine kurze Frage. Der Zugriff aufs Europol IS scheint unterbrochen zu sein. Wissen Sie etwas über die Hintergründe?«
»Die offizielle Version …«
»Nicht die offizielle Version bitte«, unterbrach sie. »Ich will die Wahrheit.«
»Inkompetenz.«
Diese Antwort fand selbst sie allzu sparsam formuliert.
»Wie muss ich das verstehen?«
»Letzte Nacht hat sich ein remote User in den IS-Cluster eingeloggt, der schon seit zwei Monaten gesperrt sein müsste. Der ehemalige Mitarbeiter, dem der Account gehörte, befand sich zu der Zeit nachweislich im Flugzeug nach Tokio.«
»Jemand hat seine Identität gestohlen?«
»Ja. Der Zugriff ist übrigens nur zufällig entdeckt worden, weil ein Servicetechniker, der den Ex-Mitarbeiter kannte, im System unterwegs war.«
»Weiß man, woher der Angriff kam?«
»Eben nicht. Die Verantwortlichen haben sofort alle remote Logins gesperrt, und das, bevor man den Angreifer lokalisieren konnte. Inkompetenz, wie gesagt.«
»Was hat der Eindringling gewollt?«
»Er hat sich offenbar für die Systemkonfiguration interessiert.«
»Für die Datenbanken?«
»Auch.«
Sie überlegte sich, die Frage nach PD-27 zu stellen, verzichtete jedoch darauf. Stattdessen fragte sie nach den Konsequenzen für die Arbeit mit dem IS.
»Dank der Inkompetenz der Betreiber wird es wohl keine Konsequenzen geben. Sie werden das System in Kürze wieder öffnen und hoffen, den nächsten Angriff zufällig zu entdecken.«
»Das klingt ziemlich resigniert, Uwe. So kenne ich Sie gar nicht.«
»Inkompetenz kann ich nicht ausstehen. Ich bin nicht für das IS verantwortlich, aber ich habe einen Trap installiert, damit der nächste Angriff wenigstens rechtzeitig registriert wird.«
»Wie – installiert – ich denke, die Zugänge zum System sind blockiert.«
»Nicht alle.« Nach kurzer Pause fügte er hinzu: »Ich fürchte, die Angreifer wissen das auch, falls es ernstzunehmende Hacker sind.«
Kapitel 3
Scheveningen, Den Haag, Niederlande
Jan der Unfehlbare wartete am selben Platz wie bei jedem Besuch mit leidender Miene, Baskenmütze vor sich auf dem Tisch. Danny Willems steuerte lustlos auf seinen älteren Bruder zu, argwöhnisch beobachtet von den zwei Wachen an der Tür des Besucherraums. Die meisten andern Tische blieben leer. Er sah den Tag kommen, an dem es mehr Wachpersonal als Insassen geben würde in Scheveningen, aus Mangel an geeigneten Delinquenten. So gesehen mussten die Betreiber des ›Hague Hilton‹ geradezu froh sein um Bagatellfälle wie ihn. Jan sprang auf, um ihn mit einer Umarmung zu begrüßen, was eigentlich nicht erlaubt war. Wie jedes Mal schritt keine der Wachen ein. Der großartige Jan strahlte eine derart überlegene Seriosität aus, dass ihm niemand eine krumme Tour zutraute. Leider stimmte das. Nicht einmal ein Smartphone hätte der überkorrekte Bruder hereingeschmuggelt.
»Danny, wie geht es dir?«
Die Frage nervte.
»Wie soll es mir schon gehen, unschuldig im Knast?«
»Danny, das hatten wir doch schon. Du hast Scheiße gebaut, deshalb sitzt du hier. So einfach ist das. Es sind ja nur noch zwei Nächte.«
Danny zuckte unwillkürlich zusammen, als Timmy Bos hereingeführt wurde. Timmy setzte sich zu einer Rothaarigen an den Tisch, der man ansah, dass sie vorwiegend nachts und im Dunkeln arbeitete. Alle nannten ihn den smarten Timmy. Er führte sich zwar auf wie ein cleverer Geschäftsmann, konnte aber so smart nicht sein. Säße er sonst in diesem Knast? Der Typ war ihm nicht geheuer. Er hatte sich schon ein paar Mal an ihn herangemacht, auch in der Dusche. Sonderbar, dass er dennoch hoch im Kurs stand bei den Knackis.
»Ist was?«, fragte sein Bruder misstrauisch.
Er schüttelte den Kopf. »Hast du wenigstens Zigaretten dabei?«
»Ich werde dir doch keine Zigaretten besorgen. Du hast noch nie geraucht, Danny Boy.«
»Du sollst mich nicht so nennen! Wie schlägt man denn sonst die Zeit tot in diesem Loch? Nicht mal den Computer haben sie mir in der Zelle gelassen.«
»Mir kommen gleich die Tränen. Hast du erwartet, sie besorgten ausgerechnet einem Hacker wie dir einen Computer, wenn möglich mit Internet-Anschluss, damit du weiter alte Leute abzocken kannst?«
»Der da hat auch einen Computer«, brummte er ärgerlich, den Blick auf Timmy Bos geheftet.
»Er wird ihn nicht bedienen können«, gab Jan lachend zurück. Seine Miene verfinsterte sich sogleich wieder, als er weitersprach: »Weißt du, Danny, ich mache mir ernsthaft Sorgen. In zwei Tagen bist du raus aus dem ›Hague Hilton‹ aber statt den Fehler einzusehen und gebessert herauszukommen, beklagst du dein Schicksal und legst dir ein neues Laster zu. Hast du überhaupt eine Vorstellung, wie es draußen weitergehen soll?«
Gleich kommt die Leier vom guten Beispiel, das er sich am großen Bruder nehmen soll, verantwortungsvoller Posten, Staatspension und so weiter, dachte Danny. Seine Muskeln spannten sich. Er war bereit, beim ersten Ton aufzuspringen und das Gespräch für beendet zu erklären, so wie ungefähr bei jedem zweiten Besuch. Nichts dergleichen geschah. Jan sah ihm nur eine Weile tief in die Augen, dann fragte er leise:
»Brauchst du irgendetwas – außer Zigaretten?«
»Ein paar Scheine wären nicht schlecht.«
Das ›Hague Hilton‹ war zwar kein Hochsicherheitsknast mit borderline Personal, aber Geld konnte man auch hier ganz gut gebrauchen – und sein Bruder verdiente gut. Jan nickte stumm. Viel mehr hatten sie sich nicht zu sagen. Noch achtundvierzig Stunden, dann hätten auch diese Besuche endlich ein Ende.
Jan vergaß die Geldscheine nicht, wie er später beim Griff in die Tasche des Gefängnis-Overalls feststellte. Dumm nur, dass der smarte Timmy ihn beim Geldzählen erwischte.
»Na, Danny Boy, reicht es schon für eine Nutte?«
Er wich einen Schritt zurück. Man konnte nie wissen. Der smarte Timmy besaß leider auch Muskeln, die den seinen überlegen waren und übergroße Hände. Der könnte ihm locker die Eier zerquetschen. Das durfte nicht passieren, so kurz vor der Entlassung. Die Eier würde er noch brauchen, so viel stand fest.
»Was willst du?«, fragte er unsicher.
»Keine Sorge, ich interessiere mich nicht für deinen Zaster. Es sei denn, du willst etwas kaufen. Ich kann dir alles besorgen, auch Nutten.«
Er sagte es mit selbstsicherem Grinsen, wobei sich die Lippen kaum bewegten. Es war das erste Mal, dass Timmy ihn als potentiellen Kunden beachtete. Da gerade kein Wachpersonal zuhörte, fragte er aus reiner Neugier:
»Nutten – wie soll das gehen?«
Timmy zeigte die Zähne, so weiß, dass sie im Dunkeln leuchteten.
»Man hat seine Verbindungen.«
Im Klartext: Er schmierte die Wärter. Womit? Er musste nicht lange auf die Antwort warten. Wie durch ein Wunder erschien ein Briefchen mit schneeweißem Pulver zwischen Timmys Fingern und fand den Weg in seinen Overall.
»Gratismuster von Timmys Supermarkt«, flüsterte er, »unverschnitten, besser als Sex.«
»Wenn du es sagst, und was erwartest du jetzt von mir?«
»Gar nichts, betrachte es als Marketingaktion.«
Das war noch nicht alles. Danny sah es an seinen Augen. Prompt fragte Timmy nach kurzer Pause:
»Du kennst dich doch mit Computern aus?«
Er zuckte die Achseln, ratlos, worauf die Frage zielte.
»Klar doch, du bist der Computerfreak. Das weiß hier jeder.«
»Wieso fragst du dann?«
»Weil du mir ein kleines Problem lösen kannst.«
Daher wehte der Wind. Das Koks war also doch nicht umsonst. Dennoch atmete er auf. Seine Eier schienen für den Augenblick in Sicherheit zu sein.
»Was für ein Problem?«
Timmy wandte sich abrupt ab. Ein Wärter kam vorbei, und er grüßte ihn mit einem unverschämten Grinsen. Bevor er verschwand, sagte er, ohne sich nach ihm umzudrehen:
»Heute Abend im Gym.«
War es doch eine Finte? Zum Fitnessraum im ›Hague Hilton‹ gehörten eine Umkleide und Nasszellen mit jeder Menge dunklen Ecken.
Er lag auf der Hantelbank, als Timmy auf ihn zutrat. Im Vorbeigehen murmelte er zwischen den Zähnen:
»Komm nach, unauffällig.«
Danny folgte ihm zur Umkleide. In einem Nebenraum, für den sich normalerweise weder Personal noch Insassen interessierten, befand sich eine Liege für Notfälle. Er beobachtete, wie Timmy hineinging, und wollte folgen, als ihn zwei Typen in die Zange nahmen, denen die Anabolika aus den Ohren trieften.
»Hallo Danny Boy, bald wieder bei Mama und Papa?«, sagte der eine, der sprechen konnte.
»Lasst den Scheiß!«
Viel mehr als Worthülsen stand ihm nicht zur Verfügung, eingeklemmt in einen Schraubstock aus Muskeln und eisernen Fäusten. Der ungeschriebene Knast-Code verbot ihm, laut um Hilfe zu rufen. Damit würde er sich selbst zum offiziellen Abschaum erklären. Was das bedeuten konnte, hatte er an einem jungen Junkie demonstriert bekommen. Niemand wusste, ob der Knabe jemals wieder aufwachen würde.
»Danny Boy, du bist doch ein lieber Junge«, fuhr der Sprecher fort. »Dir macht es sicher nichts aus, uns ein paar Dinge zu besorgen, wenn du wieder draußen bist, nicht wahr? Uns besucht sonst keiner, weißt du.«
Da er nicht sofort antwortete, presste ihn der Schraubstock etwas stärker zusammen. Er bekam kaum Luft, und das Blut begann sich in seinen Armen zu stauen.
»Was soll das werden?«, fragte Timmys Stimme hinter seinem Rücken.
Die beiden Muskelprotze lösten sich vor seinen Augen in öligen Dampf auf. Keuchend holte er Luft und rieb sich die Glieder. Bevor er etwas sagen konnte, zog Timmy ihn in den Raum mit der Liege, wobei er bemerkte:
»Dich wird hier niemand mehr belästigen.«
Während er sich noch fragte, ob das auch für seinen Retter gälte, zog dieser ein Smartphone der neusten Generation unter der Liege hervor.
»Der verdammte Scrambler funktioniert nicht. Kannst du da was machen?«
Danny staunte über die Fachwörter, die Timmy kannte, obwohl er sonst keine technologische Leuchte war.
»Du willst einen Zerhacker installieren?«, fragte er, unsicher, ob er richtig verstanden hatte.
Timmy nickte. »Ich kann es mir nicht leisten, dass jedes Arschloch meine Gespräche mithört. Der Scrambler sollte eigentlich schon installiert sein, aber das Scheißding funktioniert nicht. Es ist verdammt wichtig. Der King nimmt nur verschlüsselte Anrufe entgegen. Ohne den Scrambler bin ich tot, verstehst du?«
Allzu viel verstand er im Augenblick nicht, aber er verschob die Fragen auf später und widmete sich der technischen Aufgabe. Sie stellte sich als trivial heraus. Timmys Smartphone war vollständig für verschlüsselte Anrufe vorbereitet. Einzig der Schalter in den Einstellungen stand auf off. Er stellte ihn auf on und gab Timmy das Handy.
»Das ist alles?«
»Versuch‘s.«
Der Zeitpunkt war günstig. Niemand beobachtete sie. Nach einem kurzen Telefongespräch ließ Timmy seine Zähne aufblitzen.
»Genial, Mann«, sagte er mit anerkennendem Nicken. Der King ist begeistert.«
»Der King ist tot.«
Es dauerte einige Sekunden, bis Timmy den Scherz verstand.
»Quatsch, nicht dieser King«, winkte er ab. »Unser King ist eine große Nummer draußen, verstehst du?«
Er wartete auf die Erklärung.
»Mensch, Danny, du musst noch viel lernen. Der King kontrolliert alles: Koks, Weiber, was du willst. Der hat immer Bedarf für Genies wie dich.«
Er erwartete, Timmy würde jeden Augenblick in Gelächter ausbrechen und ihn zum Teufel jagen, doch nichts dergleichen geschah. Der Typ meinte es ernst. Allmählich empfand er fast Sympathie für den smarten Timmy. Endlich einer, der seine Qualitäten zu schätzen wusste. Zum ersten Mal im Leben fühlte er sich seinem Bruder Jan durchaus ebenbürtig.
»Der King besorgt dir einen guten Job«, versicherte Timmy, als hätte er darum gebeten. »Er erwartet dich.« Er kramte einen Papierfetzen aus dem Mülleimer in der Umkleide und kritzelte eine Adresse darauf. »Melde dich da mit einem Gruß von mir, sobald du draußen bist.«
Konsterniert steckte er den Zettel ein. Es ging ihm alles zwei Zacken zu schnell, andererseits – Job hörte sich nach Knete an und nach Unabhängigkeit von Jan. Das war die gute Seite.
Am Tag der Entlassung stand Jans Auto vor dem Portal des ›Hague Hilton‹. Wie könnte es anders sein. Seit dem frühen Unfalltod der Eltern betrachtete sich sein Bruder als Mutter und Vater in einer Person. Er zögerte, überlegte sich, ob er überhaupt einsteigen wollte. Der Blick zurück auf die verhasste Fassade gab ihm den nötigen Schub. Bloß so schnell wie möglich weg von diesem Horror, egal wie.
»Ist doch ein gutes Gefühl, wieder frei zu sein«, sagte Jan zur Begrüßung.
Als wüsste der, was frei sein bedeutete nach dem Knast. Statt zu antworten, brummte er:
»Du kannst mich bei Geert absetzen.«
In Geerts Snackbar gab es wenigstens anständige Portionen fetter Pommes mit Mayo, nicht das wässrige Gemüse aus der Gefängnisküche, das angeblich so wahnsinnig gesund sein sollte. Jan ließ sich nicht beirren in seiner Mutterrolle.
»Ich fahre dich erst mal nach Hause, dann muss ich zurück an die Arbeit.«
»Lass dich nicht aufhalten.«
Er verspürte keine Lust zu reden. Jan ließ ihn in Ruhe, bis sie im Reihenhaus ankamen. Während Jan die Tür aufschloss, stellte er die Frage, die kommen musste:
»Wie geht es jetzt weiter?«
»Das wirst du schon sehen.«
»Hast du so etwas wie einen Job in Aussicht?«
»Vielleicht.«
»Gut, wenn ich dir irgendwie helfen kann …«
Jan der Gute, Jan der Großzügige, Jan der Unfehlbare, Jan, Jan – ihm hing das alles schon jetzt zum Hals heraus. Froh, ihn wegfahren zu hören, verließ auch er das Haus sogleich wieder. Sein Bromfiets stand betriebsbereit und aufgetankt im Schuppen, wo Jan das Werkzeug für den winzigen Garten aufbewahrte. Zu einem richtigen, schweren Motorrad hatte es nie gereicht, aber das würde sich bald ändern. Wenn er Timmy Bos glauben konnte, schwamm der King im Geld, und er würde sich nicht unter Wert verkaufen. Pommes oder King? Er entschied sich für beides, in dieser Reihenfolge.
Der volle Magen nach dem Besuch bei Geert verschaffte ihm die nötige Bodenhaftung, um dem allmächtigen King standfest gegenüberzutreten, glaubte er. Zweifel kamen auf, je näher die Gasse im Rotlichtviertel rückte, die Timmy ihm angegeben hatte. Er hielt bei einer der wenigen Bars an, die zu dieser frühen Stunde geöffnet hatten, bestellte ein Tonicwater und verschwand umgehend auf der Toilette. Zwei Linien aus Timmys Briefchen stellten die verlorene Selbstsicherheit wieder her und versetzten seiner Unternehmungslust den nötigen Schub. Mochte der King drei Meter groß sein und zwei Tonnen wiegen, ihn beeindruckte das nicht mehr.
Der Hauseingang an der Adresse auf Timmys Zettel enttäuschte in zweifacher Hinsicht. Es war der Eingang zu einem der vielen billigen Puffs und er war geschlossen, kein Wunder, kurz nach Mittag. Neben der Tür befand sich eine Klingel mit Gegensprechanlage. Er drückte sie so lange, bis eine schläfrige Frauenstimme ärgerlich antwortete:
»Steck deinen Finger sonst wohin. Wir haben geschlossen.«
»Timmy schickt mich zum King«, sagte er rasch, um keine Zeit zu verlieren.
Der Lautsprecher schwieg lange genug, dass er sich Sorgen machte, die Dame wäre nicht interessiert.
»Wer sind Sie, und was wollen Sie vom King?«, fragte endlich eine Männerstimme.
»Danny Willems. Timmy hat mich dem King empfohlen.«
»Augenblick.«
Wieder zog sich der Augenblick schmerzlich in die Länge, bis die Tür mit einem lauten Klick aufsprang. Ein altes Männlein stand im Flur und winkte ihn hastig herein.
»Kommen Sie.«
Die Männerstimme.
»Ist der King da?«, fragte er unsicher, als ihn das Männlein in die Bar führte, wo die Rammler sonst den Nutten flaschenweise Sekt aus purem Gold bezahlten, den sie dann in die Blumentöpfe kippten. Jetzt herrschte gähnende Leere. In der Luft hingen Reste süßen Parfüms und ein Hauch von Gras. Der Alte schien seine Frage nicht gehört zu haben.