Kitabı oku: «Tatort Nordsee», sayfa 3
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Der Abend war schnell da, und August zog seine Fleecejacke über den dicken Wollpullover, den Henrike ihm vor vielen Jahren gestrickt hatte (das war in der Zeit gewesen, als sie noch keine Kinder hatten), um zu Wiard Lüpkes zu gehen, wie am Vormittag vereinbart. Er wollte den Weg zu Fuß zurücklegen, es würde knapp 20 Minuten dauern, und der Abend war für diese Jahreszeit noch recht lau. Es war zwar Oktober, aber der würde zusammen mit den Herbstgefährten November und, zu fast drei Vierteln, Dezember wahrscheinlich wieder so grau in grau dahinwabern, und richtig kalt würde es erst im Januar werden. Wenn überhaupt. Henrike wollte ihn ein Stück begleiten, sie war an diesem Tag wenig rausgekommen, hatte Berge von Wäsche gewaschen, gebügelt und wegsortiert und benötigte unbedingt noch frische Luft. Sich wenigstens ein bisschen die kühle Brise, die von der See her kam, gemischt mit der gesunden, ostfriesischen Landluft, um die Nase wehen lassen. Gero schlief schon, Wienke und Karina hatten ihre Schlafanzüge an und waren von Henrike und August darauf hingewiesen worden, dass jetzt Schluss sei mit jeglichem Spielen, und erst recht mit Ärgern, und dass sie zwar noch lesen oder ein wenig Kassette hören könnten, spätestens um halb neun aber überall das Licht aus sein müsse, schließlich sei morgen wieder Schule und Kindergarten, und da müssten sie genug schlafen. Meistens konnten sich die beiden darauf verlassen, dass ihre Kinder dies auch so einhielten, immerhin waren sie ja in der Regel nach einem langen Tag, der morgens um halb sieben begann, ziemlich müde. Ansonsten wussten die Kinder, dass sie sich im Fall der Fälle auch an die Großeltern wenden konnten, die im Nebenhaus wohnten, worum August und Henrike von Freunden, die auch Kinder, aber nicht so komfortable Betreuungsmöglichkeiten hatten, oft beneidet wurden. Freerk, der Größte, ging mittlerweile meistens nach eigenem Gutdünken ins Bett, es wurde manchmal schon elf, was Henrike missbilligte. August sah das gelassen, und Freerk ließ sich zwar noch etwas sagen, aber nur, wenn er es einsah, und das war nicht immer der Fall. Wie das bei dem immerwährenden Generationenkonflikt eben so ist.
Als August und Henrike die etwa 300 Meter lange Hofzufahrt hinter sich gelassen hatten, bogen sie auf die Hauptstraße, die den ganzen Polder durchzog und an der links und rechts entweder Haus- und Hofzufahrten abgingen oder die ein oder andere Straße. Hauptstraße hieß indes nur, dass hier zwei Pkws oder Trecker aneinander vorbeifahren konnten, ohne dass einer gleich die Straße verlassen musste. Das Straßennetz des Polders war weitgehend rechtwinklig angelegt, wie an der Hutschnur lagen die Häuser und Höfe an den Straßen aufgereiht, dazwischen war jeweils ausreichend Platz für Weiden, Getreideäcker oder andere Flächen. Es gab so etwas wie ein Zentrum, wo eine Grundschule, ein Laden, ein Landmaschinenhändler sowie die Kirche waren. Hier standen die Häuser etwas dichter. Die Grundversorgung im Polder war somit gesichert, zumal es bei Martens, so wurde das Einkaufsgeschäft nach seinem Eigentümer, der es in der dritten Generation führte, genannt, einfach alles gab.
»Ob Schraube, Hammer, Genever, Käse, Bosselkugeln oder ’n neejen Unnerbüx – bei Martens gibt’s nichts, was es nicht gibt«, pflegte August zu sagen, wenn er den Laden des Polders mit einer Mischung aus Hoch- und Plattdeutsch beschrieb. Eigentlich wiederholte er aber damit nur die Selbstdarstellung des alten Martens.
Henrike begleitete ihren Mann bis vor die Hauseinfahrt von Wiard Lüpkes’ Anwesen. Sie hatten sich über die Kinder, anstehende Probleme am Hof, aber dann vor allem über Wiard und dessen Kopfverletzung unterhalten. Beide hatten keine Ahnung, wie es dazu gekommen sein konnte.
»Wiard hat in Rätseln gesprochen«, erzählte August seiner Frau, »aber irgendetwas liegt ihm ganz schön auf dem Herzen, irgendwas will er mir dringend sagen«.
»Dann sieh zu, dass du es erfährst«, meinte Henrike nur und blieb stehen. »Ich geh jetzt zurück.«
Ein Kuss, ein kurzes »Tschüss« und noch ein »Trinkt nicht zu viel Bier, du musst morgen melken«, dann machte sich Henrike auf den Heimweg, während August zur Haustür ging und klingelte.
Wiard öffnete erstaunlich schnell, er schien bereits gewartet zu haben.
»Moin, häng dich auf.« Er verschwand in seiner kleinen Küche. »Schon gegessen?«
»Ja, ich bin satt, danke. Wie geht’s deinem Kopf?«
»Genever?«, meldete Wiard sich zurück, ohne auf die Frage einzugehen.
»Bist du verrückt? Bloß nicht, keinen Alkohol heute und schon gar nicht Genever. Ich hab noch das letzte Feuerwehrfest in unguter Erinnerung. Holl mi up.«
An besagtem Abend hatte August allzu viel von dem Hochprozentigen getrunken und war mit einem ziemlich dicken Kopf am nächsten Morgen aufgewacht, wobei ihm nicht gleich einfiel, wie er eigentlich dorthin gekommen war, mit oder ohne Fahrrad, mit dem er auf jeden Fall hingefahren war.
»Pass auf, dass deine Kühe nicht duhn werden«, hatte ihm sein Vater beim morgendlichen Melken in Anspielung auf seine Fahne zugeraunt. Das Aspirin, das er gleich nach dem kurzen Frühstück eingeworfen hatte, half auch nicht viel.
»Ich glaube, meine Kopfverletzung hat durchaus mit der Feuerwehr zu tun, vielmehr mit dem letzten Feuerwehrfest. Ein Pils?«, fragte Wiard aus seiner kleinen Küche.
»Na ja, ein Bier kann wohl nicht schaden.«
»Nee, keinesfalls, ist ja kein Alkohol, sondern flüssiges Brot«, ergänzte Wiard und fügte hinzu: »Deshalb können auch mehrere nicht schaden.«
»Sag mal, ansonsten ist alles in Ordnung mit dir? Ich versteh nur Bahnhof. Wieso soll das Fest mit deiner Verletzung zu tun haben? Beides liegt drei Wochen auseinander. Also für mich ergibt das keinen Sinn.«
Wiard kam mit zwei Flaschen Jever Pils wieder herein und setzte sich an den Tisch, an dem August schon Platz genommen hatte. In seinem Wohnzimmer herrschte eine bemerkenswerte Unordnung, er selbst nannte es ›das organisierte Chaos‹. In jedem Chaos gäbe es schließlich eine gewisse Ordnung, zumindest behaupteten das doch die Wissenschaftler. Wiard fand sich jedenfalls darin zurecht, und – was viel wichtiger war – er fühlte sich wohl. August staunte immer wieder, wie man es länger als zwei Tage in diesem Haus aushalten konnte, er liebte eine gewisse, nicht übertriebene, aber doch sichtbare Ordnung und konnte rasch nervös werden, wenn er Dinge, die er suchte, nicht gleich fand. Immer wieder kam es vor, dass er ein bestimmtes Werkzeug suchte und sich dieses nicht am dafür vorgesehenen Platz befand – meistens hatte eines seiner Kinder es dann benutzt und nicht wieder zurückgelegt. Er hatte sich zwar abgewöhnt, sich über so etwas aufzuregen, gleichwohl fragte er sich immer wieder, ob es nicht erlernbar wäre, die Sachen zurück an ihren Platz zu bringen, wenn man sie nicht mehr brauchte. Bislang hatte aber weder Freerk, schon gar nicht den kleinen Gero davon überzeugen können. Bei Gero war das noch egal, bei Freerk hingegen machte er sich langsam Sorgen – schließlich dauerte es nicht mehr lange, und er würde allein im Leben zurechtkommen müssen, da war ein bisschen Ordnung halten doch wohl mehr als angebracht. Manchmal dachte August dann aber auch, er würde nun doch älter, denn er erinnerte sich an ähnliche Diskussionen und manchen Ärger mit seinem Vater wegen solcher Dinge. Aber wer sollte das vermitteln, wenn nicht er oder Henrike?
»So, was ist nun? Halt mich nicht länger hin!«, leitete August das Gespräch ein. Wiard war erstaunlich lang mit dem Öffnen der Bierflaschen und der Suche nach Bierdeckeln beschäftigt, die er unter die Flaschen schob. Das war angesichts seines ansonsten nicht so ausgeprägten Ordnungssinnes erstaunlich, aber Bierdeckel gab es bei Wiard immer, er sammelte sie, sagte er, allerdings lagen sie alle in einer Schublade, ohne dass er jemals dazu kam, sie anzusehen oder anderen zu zeigen. Mehrfach vorhandene bekamen Gäste unter ihre Flasche oder das Glas geschoben, allerdings wusste er nicht immer, welche er mehrfach besaß. Wiard murmelte »Gläser lass’ ich mal weg.« Dann setzte er deutlicher fort:
»Ja, weißt du, das ist nicht ganz leicht zu erklären. Ursprünglich war es nur eine Vermutung, die ich da hatte. Nun aber stehen die Dinge anders, jetzt nach dem Anschlag …«
»Anschlag?«
»Ja, ich nenne das einen Anschlag. Übrigens – um dir klarzumachen, dass es ein Anschlag war –, wenn Jan Peters wegen seiner Sauflust nicht reingekommen wäre, hätte ich laut den Ärzten im Kreiskrankenhaus gut und gerne hier in meiner Hütte verbluten können. Dann säßen wir hier jetzt nicht mehr so schön zusammen, August. Ich wäre mausetot!«
»Wiard, du musst schon der Reihe nach erzählen. Mausetot? Gott bewahre … Aber wieso denn nur?«
»Hast ja recht. Ich versuch’s mal eins nach dem anderen. – Also, du weißt doch, dass ich während des Deichbaus bei dieser Zeitarbeitsfirma angestellt war.«
»Ja, klar, hast mir ja einige Male davon erzählt.«
»Ich hatte da mehr so einen Handlangerjob, hier mal helfen, da mal helfen, Schubkarre hierhin, Steine dorthin, graben, Soden im Heller stechen, ausbessern, was weiß ich nicht alles. Schöne Arbeit, körperlich anstrengend, aber ich hatte viel Zeit, nachzudenken, frische Luft und abends war ich völlig fertig – da konnte ich schlafen wie ein Bär, was sonst nicht immer der Fall ist.«
»Und?«, bohrte August.
»Ich bin kein Deichbauer, ich habe während der Monate immer genau gesagt bekommen, was ich tun soll. Das war ganz schön, wie gesagt, man kann dann während der Arbeit über andere Dinge nachdenken. Aber ich bin nun mal auch nicht ganz blöd, und ich habe allerlei mitbekommen, von dem andere meinten, dass es mich entweder nicht interessierte oder ich es nicht verstand.«
»Das hört sich ja geheimnisvoll an.«
»Ja, um Geheimnisse ging es dabei auch, und wenn ich nicht vor einigen Tagen eine interessante Beobachtung am Deich gemacht hätte – du weißt doch, gleich nach dem Sturm, war ja der erste Herbststurm dieses Jahres und das Wasser stand hoch –, dann hätte ich das Ganze vielleicht längst vergessen. Aber nun sind mir einige Erlebnisse während meiner Arbeit wieder ganz präsent, und ich brauche jemanden, dem ich mal davon erzählen kann. Weißt du, August, du bist einer der wenigen hier im Polder, die mich für richtig voll nehmen.«
»Du, beim Feuerwehrfest neulich, da haben dich aber viele für voll genommen, aber so richtig. Voll wie ein Amtmann eben.«
Wiard machte eine Pause und sah August mit einem Blick an, der deutlich machte, dass er Augusts Witz zwar zur Kenntnis genommen hatte, aber in dieser Situation für unangebracht hielt. »Ach, sei jetzt mal ernst. Erinnerst du dich an den Typen an der Theke, mit dem ich eine ganze Zeit gesprochen habe, der vom Amt?«
»Ja, ganz dunkel, Georg Redenius, ich habe ihn erst dort kennengelernt. Wieso war der eigentlich auf unserem Feuerwehrfest?«
»Wahrscheinlich über Hanne Friesenga, weißt doch, deren Schwester ist verschwägert mit … ach, wie heißt der noch, jedenfalls ist der wieder irgendwie verwandt mit Redenius.«
»Was du so alles weißt.«
»Ja, aber das ist egal jetzt. Ich hätte mich fast mit ihm geschlagen … Oder vielmehr, er mit mir, ich schlage mich nicht. Jedenfalls hat er mir gedroht!«
»Dir? Nee, dir doch nicht!«
»Er wollte mir eins auf die Nuss geben. Doch. Ich war zwar duhn as’n Hex, aber so weit habe ich es noch in Erinnerung. Ist ja zum Glück nicht so weit gekommen. Aber es ist trotzdem wichtig – auch wegen des Anschlages. Aber ich erzähl mal der Reihe nach. Ich hatte bisher die Befürchtung, dass, wenn ich das, was ich dir jetzt erzähle, anderen erzählte, die sagen würden: ›Ach Wiard, lass man gut sein, mach dir keine Gedanken, du siehst Gespenster.‹« Wiard liebte Pausen, er wartete dabei sehr konzentriert die Reaktionen seines Gegenübers ab.
»Also, ich verstehe einfach nicht, worauf du eigentlich hinauswillst, Wiard, ich glaube dir gerne, aber was ist denn nun konkret los?« August nahm zwei kräftige Schlucke Bier, kurz hintereinander.
»Hast ja recht, ich komme zum Kern der Sache. Ich selbst war über die Leiharbeiterfirma beschäftigt, die für das Deichbaukonsortium die Arbeitskräfte rekrutiert hat. Dieses Konsortium, das habe ich nie richtig durchblickt. Da waren Firmen aus Oldenburg, Bremen, Hamburg, eine aus Stralsund, auch aus Holland und Polen dabei. Alles verschiedene Firmen, jede auf irgendetwas spezialisiert, aber eben für das Unternehmen Deichbau unter einem Dach zusammengefasst. Das Konsortium hat sich jedenfalls auf die EU-weite Ausschreibung beworben und den Zuschlag erhalten, das war nicht eine einzelne Firma. Etwa sechs Wochen war ich nun im Ostteil tätig, dort, wo der Deich die starke Krümmung hat. Da kamen oft Leute von der Bau- und Abschnittsleitung hin, von daher habe ich allerhand mitbekommen, auch von einigen Baustellen am Deich, auf denen ich selbst nicht war. Aber du kannst mir glauben, ich kannte den alten Deich wie meine Westentasche, und den neuen kenne ich mittlerweile genauso gut.«
»Allerdings«, warf August ein, »so viele Stunden, wie du schon am Deich, im Heller und auf See zugebracht hast, so oft war dort keiner von uns. Ist dein Boot eigentlich wieder in Ordnung?«
»Ja, aber das tut jetzt nichts zur Sache!«, entgegnete Wiard forsch, denn er wollte nicht das Thema wechseln, merkte aber, dass August begann, sich zu langweilen. »Ich liebe den Deich und das Deichvorland. Und genau darum geht es. Ich habe gesehen, wie an allerhand Stellen ganz schön gepfuscht wurde. Du weißt, dass ein ordentlicher Deich aus unterschiedlichen Schichten aufgebaut wird, die jeweils bestimmten Anforderungen an Stabilität, Mächtigkeit, Zusammensetzung des Untergrundes und so weiter genügen müssen. Diesen Anforderungen, um es mal amtlich auszudrücken, ist nicht immer Rechnung getragen worden, und ich weiß auch, warum das so war.«
»Das hört sich aber nach einer ziemlich argen Beschuldigung an – da bin ich mal gespannt.« August nahm erneut zwei kräftige Schlucke Bier, und ihm wurde eben jetzt bewusst, dass er nicht nur eine Flasche Bier an diesem Abend trinken würde.
»Bleiben wir mal bei der Krümmung. Sie wird ja auch als Ostkrümmung bezeichnet, so haben wir sie bei der Arbeit auch immer genannt, mittlerweile steht das auch in den Plänen. So kommen irgendwelche Landschaftsobjekte zu ihrem Namen. Hier wurde die Arbeit auf einmal, mir nichts, dir nichts, für drei Tage unterbrochen, und das, obwohl wir ohnehin nicht im Zeitplan waren. Du erinnerst dich sicher an die Presseberichte, in denen schon gemutmaßt worden war, dass der Deich bis zum Herbst gar nicht fertig werden würde und dass der Polder gefährdet wäre, weil die viel zu schnell den alten Deich um die Hälfte abgetragen hätten, um das Material im neuen zu verbauen.«
»Ja, daran erinnere ich mich gut, mir kam das ungeheuerlich vor, schließlich bauten die ja keinen Wall um einen Kindergarten oder so. Die waren eine Zeit lang recht lahm, ich habe mich damals gewundert. Der Deich bedeutet den Leuten hier viel, aber das brauche ich dir nicht zu erzählen. Es hat ja zum Glück noch alles geklappt.«
»Von wegen geklappt!« Wiards Kopf wurde langsam rosafarben, das war immer so, wenn er sich erregte. »Vordergründig hat’s geklappt, oder sagen wir mal für die Öffentlichkeit. Zunächst haben die Medien ordentlich kritisiert, von wegen schlechtes Management und so, und dann haben sie sich schnell mal eben um 180 Grad gewendet – plötzlich lief alles bestens. Und mittlerweile habe ich das Ganze verstanden, hab’s kapiert. Ich dachte ja auch, dass es geklappt hat mit unserem Deich. Nach besagten drei Tagen, in denen wir mal hier, mal da gearbeitet hatten, aber ohne Kontinuität und immer unter dem Eindruck, dass die Bauleitung eigentlich gerade nicht wusste, was sie mit uns anfangen sollte … wir waren ein Trupp von so 15, 20 Leuten …, also nach den drei Tagen ging es plötzlich mit Riesendruck weiter. Sie versprachen uns gutes Geld für Überstunden, und – das habe ich damals überhaupt nicht recht begriffen, es war mir aber auch egal, ich brauchte das Geld dringend – sie ordneten an, dass jegliche Äußerungen über den Deichbau gegenüber Dritten, insbesondere der Presse, von nun an nur noch durch die Bauleitung vorgenommen werden dürfen und wir, bitte schön, eventuell auftauchende Presseleute oder wen auch immer ohne weitere Erläuterungen an die Bauleitung verweisen sollten. Die haben das mit unsachgemäßer Berichterstattung während der kurzzeitigen Einstellung der Arbeiten begründet, in der das Unternehmen schlecht weggekommen war. Aber das ist durch persönlichen Einsatz des Ministerpräsidenten noch mal aufgefangen worden, und dann ging’s eben weiter. War durchaus einleuchtend, das Ganze, und wer will schon seinen Job riskieren, indem er sich der Bauleitung widersetzt? Hinter der Arbeitslosigkeit steckt auch System, aber das tut jetzt nichts zur Sache. So, wie ging das nun weiter? Wir bekamen wohl 100 Schilder ›Betreten der Baustelle verboten, Eltern haften für ihre Kinder‹ an den Deichfuß gelegt mit der Anweisung, diese schnellstens in regelmäßigen Abständen aufzustellen.«
»Und?« August konnte sich keinen Reim machen. »Was ist daran seltsam? Dass nicht jeder über Dinge sprechen soll, von denen er keine Ahnung hat, ist doch normal, und Baustellen sind keine Spielplätze. Und die Gefahr ist doch groß, dass sich die Leute da selbst bedienen. Du weißt, dass ich mir auch ein paar Fuhren geholt habe, der Tipp stammte ja von dir, die Kinder haben’s gedankt – schöner heller Sand für den Sandkasten und als Unterbau für meine neu gepflasterte Fläche hinterm Schuppen.«
»Du kannst nicht sagen, ich hätte keine Ahnung vom Deichbau …« Wiard kam nicht weiter, denn August fiel ihm ins Wort.
»Du hast selbst gesagt, du bist kein Deichbauer, Wiard.«
»Hast ja recht, aber ein bisschen verstehe ich davon schon. Wie gesagt, ich erzähle dir das Ganze erst jetzt, da ich neue Beobachtungen am Deich gemacht habe – bislang habe ich mir bei alldem nichts gedacht und mir selbst auch immer gesagt: Bist nun mal kein Deichbauer, wird wohl alles seine Richtigkeit haben.«
»Nun werde doch endlich mal konkret, Wiard! Und mit deiner Wunde am Kopf und dem Fast-Verbluten bringe ich das schon gar nicht in Übereinstimmung. Ich mein, da hört der Spaß ja auch auf!« August wurde ungeduldig.
»Von wegen Spaß. Also mal ganz einfach und konkret: Die haben gepfuscht, die haben einige Stellen am Deich im Bereich der Ostkrümmung nicht mit den erforderlichen Schichten ausgestattet oder Material gespart, nicht das richtige verwendet und dabei auch noch ziemlich geschludert … eben unter extremem Zeitdruck gearbeitet. Je schneller, desto schlechter. Qualitätsmanagement war in dieser Phase des Deichbaus offenbar in keiner Weise angesagt. Vielleicht sogar untersagt worden, von bestimmten Damen und Herren.«
»Tolle Behauptung, und warum?«, wollte August wissen. Er sah Wiard etwas verächtlich an, merkte das und versuchte, seinen Gesichtsausdruck zu ändern, wusste aber nicht, ob ihm das gelang.
»Als damals drei Tage lang die Arbeit plötzlich brachlag, stand das Betreiberkonsortium vor dem Aus – das, was in der Presse als Schwierigkeit bezeichnet wurde, die bald behoben sein würde, da sich lokale Vertreter, ja sogar die Landesregierung dafür starkmachten, war im Grunde genommen die Pleite des ganzen Konsortiums. Ich habe all die Zeitungsausschnitte noch hier. Du wirst dich auch erinnern, so lange ist das ja noch gar nicht her. Das hing wohl nicht nur mit dem Deichbau zusammen, sondern mit allerhand weiteren Projekten, in die das Konsortium eingebunden war. Aber den Deich in dieser kurzen Zeit in der erforderlichen Qualität zu bauen, damit hatten sich die Damen und Herren im Vorstand reichlich übernommen.«
»Also hör mal, Projekte dieser Größenordnung werden EU-weit ausgeschrieben, da wird vor- und rückwärts geprüft, da wird doch niemand ausgewählt, der …« Diesmal kam August nicht weiter.
»… der in Zeiten knapper oder leerer öffentlicher Kassen nicht ein finanzierbares Angebot macht. Sag ich doch. Und finanzierbar heißt: zu einem gerade noch erträglichen Preis in der von den Auftraggebern vorgeschriebenen Zeit. Das ist das eine. Was ich aber inzwischen auch herausgefunden habe, ist, dass der Vertrag wohl etwas ungenau definiert gewesen sein muss. Gleichzeitig kam eine Leitzinserhöhung der Weltbank ins Spiel, die den einen oder anderen Subkredit, der vielleicht für den Deichbau vorgesehen war, extrem verteuerte. Die Banken fackeln da nicht lange, und bei allerhand Millionen Euro machen 0,2 Prozent Zinserhöhung schon einen ganzen Batzen aus. Plötzlich fehlte Geld in der Kasse. Sieh mal, ein Kilometer Deich erfordert allein bis zu 200.000 Tonnen Klei – das sind mehr als 20.000 Transportfahrten, wenn man einen 15-Tonner einsetzt. Das kostet natürlich ein paar Euro. Und wenn es da zu Engpässen kommt oder die Zeit wegläuft und dem Unternehmen sowieso schon das Wasser bis zum Hals steht, muss man eben nach Möglichkeiten suchen, wie das Projekt doch zu Ende geführt werden kann. Zunächst wollte die Landesregierung, die natürlich den Löwenanteil der Deichbaukosten trägt, das nun plötzlich fehlende Geld den Privatunternehmen im Konsortium aufbürden. Begründung: Immerhin wären die nicht mit der vereinbarten Summe ausgekommen, und dafür trügen sie die Verantwortung. So leicht war das aufgrund der teilweise rechtlich zweideutigen Vertragsabsprachen aber wohl nicht. Jedenfalls haben sich daraufhin einige Firmen erst einmal vornehmst aus den Arbeiten am Deich zurückgezogen, nach dem Motto: Erst die Kohle, dann die Leistung. Na, mithilfe der Landesregierung ist schließlich ein neuer Kredit vereinbart worden, damit das Projekt zu Ende geführt werden konnte. Jetzt galt plötzlich doch: Der Deich muss stehen, koste es, was es wolle. Es musste schnell gehen, das Ganze von der Aufsichtsbehörde auch noch abgenommen werden. Die Firmen, das Baukonsortium insgesamt, und, noch wichtiger, alle Befürworter, insbesondere die Politiker, sollten am Ende gut dastehen. Und das Ende war für die letzten ein bis zwei Wochen vor der Landtagswahl terminiert – um den Deichbau noch etwas ausschlachten zu können für die Wahl. Nach dem Motto: ›Wir tun was für die Leute und die Region‹ und so.«
Wiard trank gleich mehrere Schlucke Bier. August starrte ihn mit großen Augen verwundert an und dachte in diesem Moment nur: »Mann, kann der reden …«
»An der Ostkrümmung habe ich selbst mitgearbeitet, und dabei habe ich Folgendes erlebt: Der ›Rohbau‹ des Deiches war fertig, viel Sand war eingespült, als es zu der Unterbrechung kam. Nur ein paar Tage, aber eben Stillstand für diese Zeit. Dann ging es ebenso plötzlich wieder weiter, und unser Bauleiter teilte uns alle Neuerungen mit und dass wir nun unter extremem Zeitdruck stünden, da der Zeitplan unbedingt einzuhalten sei. Die Arbeiten müssten also so schnell wie nur möglich durchgeführt werden. Außerdem sei beschlossen worden, dass bezüglich der notwendigen Kleischicht und der Besodung sowie bei der Steinsicherung am Deichfuß Änderungen notwendig sind. Das bräuchte uns aber nicht weiter interessieren. Mir war das auch ziemlich egal, ich würde ja eh nur wieder Steine schleppen, Soden legen, Karren schieben, hier graben, da auffüllen. Aber mir fiel auf, dass diejenigen, die die Arbeit beaufsichtigen sollten, ein wenig betreten dreinschauten. Die fühlten sich nicht so richtig wohl in ihrer Haut – das merkt man den meisten Menschen an, ob sie wollen oder nicht. Und aus heutiger Sicht ist mir klar, warum die wegguckten – im wahrsten Sinne des Wortes. An dieser Stelle, und das ist vielleicht nicht die einzige, wurde der Deich nicht so fertiggestellt, wie es bei ordentlicher Berücksichtigung der Richtlinien und Normen und guter ingenieurtechnischer Praxis hätte sein müssen.«
»Wiard, ich weiß nicht«, unterbrach August. »Wenn ich an all die Maschinen denke, die vielen Leute, die Berichte und die Bedeutung des ganzen neuen Deiches, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass gepfuscht wurde, da steht doch viel zu viel auf dem Spiel!«
»Siehst du, genau das habe ich bis gestern auch gedacht, aber nun bin ich anderer Meinung. Ich erinnere mich noch an das Gespräch zwischen zwei Abschnittsleitern, das ich zufällig mitbekommen habe. Der eine sagte – es war mitten im Gespräch, als ich hereinkam –: ›Aber das kann man nicht machen, auch wenn’s hier nicht so wichtig ist wie an exponierteren Stellen, das weicht doch alles auf, wenn da das Wasser drauf steht. Der Sand muss absacken, sich setzen. Und dann der Klei …‹
Und der andere erwiderte so in etwa: ›Sicher, aber die Anordnung kam von oben, das Material ist schlicht im Moment nicht da, und der Zeitplan hat höchste Priorität, also fertig machen, basta!‹ Dann wieder der erste: ›Mir geht das gegen den Strich, aber gehörig!‹, woraufhin sein Gegenüber gestand: ›Mir auch, aber ich kann’s mir im Moment nicht leisten, aufzumucken. Kündigen geht nicht, dann sitze ich finanziell bis zum Hals in der Scheiße, außerdem ist zur Zeit einfach nichts mit Jobs – brauche ich dir ja nicht zu erzählen. Bauingenieure werden zurzeit nicht gerade zu Tausenden gesucht. Wir haben vor zwei Jahren ein Haus gekauft – die Kredite sind zwar zinsmäßig nicht schlecht, aber bezahlt werden müssen sie doch. Ich mach das hier zu Ende, auf jeden Fall. Dann ist meine Firma raus aus dem Konsortium und tritt hoffentlich nie wieder ein. Aber das wird eh nach dem Deichbau aufgelöst. Dann kann wieder jeder machen, was er will. Wenn dieses Scheißprojekt bloß schon zu Ende wäre …‹
Ich stellte den beiden den Tee hin und goss noch für zwei weitere Bauleiter ein. Sie sahen mich kurz erschrocken an, dann wollte der eine wissen: ›Und Sie? Schon lange bei der Firma?‹
›Nee, erst seit gut zwei Monaten.‹
›Aha, wie so viele hier.‹
Damit war das Gespräch beendet. Und nun frage ich dich, August: Ist doch alles etwas komisch, oder?«
»Wenn das wirklich so war, sicher, ist das seltsam, ja, aber vielleicht haben sie über was ganz anderes gesprochen?«
»Nee, denn ich habe die Tage ja selbst gesehen, wie das gemacht wurde. Kennst du den Spruch ›Ein bisschen Blech ein bisschen Lack …‹?«
»›… fertig ist der Hanomag.‹«
»Genau so. Und das war das Prinzip, das an der Ostkrümmung angewandt worden ist. Wobei das Blech die viel zu magere Kleischicht und der Lack die miserable Grasnarbe darüber sind, vom Steindeckwerk am Deichfuß mal ganz abgesehen, und vom Untergrund – alles Matsche, sag ich dir. Der Sand hat sich gar nicht setzen können, einfach reingespült, und fertig. Ist viel zu schnell gegangen. Und die Rasenansaat von absolut minderwertiger Qualität.«
»Und woher weißt du das alles, als einfacher Handlanger, entschuldige, aber das warst du doch.«
»Was heißt entschuldige? Ohne Handlanger läuft gar nichts auf solchen Baustellen! So gesehen kann man recht stolz auf den Handlangerjob sein. Aber, davon ab, ich habe es doch selbst gesehen. Ich war daraufhin in der FH-Bibliothek in Emden. Ich dachte, wo man Seefahrt studieren kann, muss es auch Informationen zum Bau eines Deiches geben. War aber ziemlich mau, muss wohl auch am Sparkurs der Regierung liegen oder daran, dass ich am falschen Standort war. Ich war in der Stadtbücherei, habe im Internet gesurft, habe alles über Deichbau zusammengesucht, was ich finden konnte: Presseberichte, Funk- und Fernseharchive, was weiß ich. Habe mit vielen Leuten gesprochen. Selbst in Norden im Heimatmuseum war ich, übrigens zum ersten Mal, ist wirklich gut gemacht, da kann man allerhand lernen, auch über den Deichbau. Und eines habe ich gelernt: Die Ostkrümmung des neuen Deiches ist nicht ordentlich zu Ende gebracht worden, wenn sie aus Holz wäre, würde ich sagen: Da sitzt schon der Wurm drin, und zwar ganz gewaltig. Ich kann dir einen ganzen Aktenordner geben, anhand dessen sich meine Theorie gut nachvollziehen lässt.«
»Ich kann’s mir nicht vorstellen, Wiard, ich glaube, ein bisschen siehst du doch Gespenster …«
»Wär’ mir lieber, wenn’s so wäre. Noch ein Bier?«
»Ja.«
»Klare Frage, klare Antwort. So. Und vorgestern, ungefähr bei Hochwasser, bin ich zum neuen Deich. Wie gesagt, der erste Herbststurm, Wasserstand anderthalb Meter über normal, das reicht. Erster, kleiner Test für den neuen Deich, nichts Ernstes. Darum bin ich umso betroffener darüber, was ich gesehen habe. Die haben sich die Stellen, die sie nicht so bauen, wie es sich gehört, geschickt ausgesucht. Die Ostkrümmung ist gesperrt für jeglichen Fußgängerverkehr, Beweidung wegen der Nationalparkauflagen auch untersagt – da kommt also so schnell keiner hin. Nun kennst du mich, August, ich gehe immer gerne dorthin, wo sonst keiner hingeht oder hingehen darf. Ich war also an der Ostkrümmung und habe mir den Nordwestwind ordentlich um die Nase wehen lassen. War unheimlich schön, die herannahenden Wolken, dazwischen der Himmel, die aufgewühlte See, der Wind. Am Horizont funkelten die Lichter von Juist. Früher sah man den Leuchtturm von Memmert, aber den gibt es ja schon lange nicht mehr. Aber Borkum blinkt nach wie vor, auch im Zeitalter von GPS. Laaang, kurz, dann eine Weile nichts, laaang, kurz … Ich stand jedenfalls auf dem Deich und war sogar ein bisschen stolz, dass ich dieses Bollwerk mitgebaut hatte.«
»Na bitte«, unterbrach August, dem das zweite Bier bald besser schmeckte als das erste.
»Nix na bitte«, erregte sich Wiard, »es kam erst noch. Als ich mich schließlich entschloss, nach Hause zu gehen, nahm ich keinen der gepflasterten Treppenabgänge, sondern ging einfach an der Deichinnenseite runter. Als ich unten ankam, stapfte ich mitten ins Wasser, was ohne Stiefel ziemlich unangenehm war.«
»Ja und? Es hatte geregnet, und ein bisschen Wasser kann von der Durchfeuchtung her immer am Deichfuß rauskommen – das läuft hinter dem Deichverteidigungsweg in den Schloot, und damit hat sich das, ist doch ganz normal …«, August kam nicht weiter.
»Ja, aber geregnet hatte es viele Stunden zuvor und nicht allzu lange, versuch dich zu erinnern, August, du weißt doch immer genau, wie viele Millimeter Niederschlag wir haben, musst du ja auch, wenn du ein guter Landwirt bist, und das bist du. Nee, das war kein Regenwasser, das war Feuchtigkeit, die aus dem Deich kam. Und du hast recht: Ein bisschen darf das sein – hier kam aber wesentlich mehr als ein bisschen raus. Das kann ich dir versichern!«