Kitabı oku: «Der Ebrugh-Mythos», sayfa 2

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Dieses Gefühl

Der folgende Eintrag wurde am 27.06.2015 von einem unbekannten Hacker auf der Webseite der Stadt Berlin gepostet und nach wenigen Minuten von den Betreibern der Seite wieder gelöscht. Ob ein Scherz dahinter steckt oder etwas Anderes, sollte dabei jeder selbst mit sich ausmachen, doch deckt er sich mit gewissen anderen Zeitungsberichten aus diesen Tagen.

Mein Name tut nichts zur Sache und es ist vermutlich besser, wenn er nie im Zusammenhang mit den Ereignissen gebracht wird, die ich hier niederschreibe. Es ist wichtig, dass niemand, aber auch wirklich niemand je wieder in jene Räumlichkeiten der Tamseler Straße zieht, denn ich vermute, dass es dort angefangen hat. Sicher kann ich mir natürlich nicht sein, jedoch glaube ich, dass in jenem Haus etwas vorgefallen sein muss, das von den meisten Menschen als gefährlich eingestuft würde. Da ich meinen Namen nicht nennen kann, werden meine Worte vermutlich wenig Gehör finden, jedoch hoffe ich, dass die Abschrift der Sprachnachrichten, die ich hier anfügen werde, für sich selbst sprechen und jedem klarmachen werden, dass das Haus unter keinen Umständen neu bezogen werden darf!

Die Medien berichteten letzte Woche nur am Rande von diesem Fall, allerdings ging er unter dem großen politischen Gepolter im Juni des Jahres 2015 unter, weshalb ihm vermutlich niemand Beachtung schenkte. Es folgen nun also die Abschriften der verstörenden Sprachnachrichten meines guten Freundes, dessen Name ja bekannt sein sollte. Hoffentlich wird diese Warnung gesehen und auch ernst genommen!

Als ich heute das erste Mal in meine neue Wohnung eintrat, schien alles in bester Ordnung zu sein. Mein neues Zuhause liegt im ersten Stock eines alten Ziegelsteinhauses neben dem großen Stadtpark, den ich wegen meines stressigen Berufs wohl oft zu Erholungszwecken besuchen werde. Mein Arzt hat mir viel Ruhe und frische Luft verschrieben, weil ich als Marketingleiter einer namhaften Firma arbeite und sich langsam bei mir die ersten Anzeichen eines Burnouts anbahnen. Diese scheiß Kopfschmerzen!

Ich habe mich also hurtig nach einer neuen Bleibe umgesehen und schnellstmöglich den Umzug in die Wege geleitet, damit meine Arbeit nicht weiter unter meinem zunehmenden Mangel an Konzentration leiden muss.

Die Wohngegend, die den Park umrahmt, ist ja bekanntlich begehrt und so ist es fast ein Wunder, dass ich hier eine geräumige Wohnung mit vier Zimmern, einer voll ausgestatteten Küche und einem herrlichen Badezimmer mitsamt einer Wellnesswanne erwerben konnte. Die werde ich vermutlich in nächster Zeit oft benutzen… Der Umzug kostete mich keine zwei Tage und so habe ich mich schließlich nach einem Glas Wein und einem guten Essen aufgemacht, meine erste Nacht in meinem neuen Schlafzimmer zu nächtigen.

Ich habe die letzten zehn Minuten damit verbracht, aus dem Fenster zu schauen und einen Überblick über die riesige Grünanlage zu bekommen, die nun ein Zufluchtsort der Ruhe für mich werden soll. Im Schein des abnehmenden Mondes schienen mir die gewaltigen Bäume aber seltsam fremd und bedrohlich zu wirken und auch der schwarze Teich wirkte tief und gierig. Ich habe es nicht lange ausgehalten und daher beschlossen, mich in mein neues Bett zu legen, um langsam meinen Schlaf zu finden. Morgen habe ich eine wichtige Präsentation und da steht einiges auf dem Spiel. Ach verdammt, eigentlich mache ich sowas ja nicht, so ein seltsames Sprachtagebuch führen. Aber… ich habe… so ein komisches Gefühl bekommen. Grade, als ich nach draußen sah, in die Büsche. Dieses Gefühl… als wenn da etwas zurückstarrt. Als wenn mich etwas beobachtet, als wenn mich etwas direkt aus der Dunkelheit… anblickt. Irgendwie ist das auch lächerlich, vermutlich nur das Burnout, aber trotzdem…

Wieso rede ich eigentlich hier mit meinem Smartphone? Ich bin doch kein Kind mehr und so ein verschissener Schizo erst recht nicht…

Aber… das Zimmer, es sieht so fremd aus. Lächerlich, nicht wahr? Aber ich meine nicht, dass ich es nicht kenne, natürlich kenne ich es nicht – ich bin ja heute erst eingezogen – aber es sieht im Mondlicht einfach abartig aus. Übertreibe ich? Ja, vermutlich. Ich übertreibe, oder? Keine Ahnung, Scheiße, das kann doch nicht sein! Ich bin ein rational denkender Mensch und das hier ist nur ein blödes Zimmer. Da ist nur ein Schrank, da ist nur ein Schreibtisch und der alte Schreibtischstuhl mit meinem Jackett drauf. Nichts Besonderes. Das Teil trage ich nun auch schon mehr als fünf Jahre, wird Zeit für ein Neues…

Aber… schaut mich da nicht etwas an? Sieht nicht etwas durch das Fenster? Nein, Blödsinn, natürlich nicht, beruhige dich!

Wenn das hier jemand findet, lacht der sich bestimmt kaputt…

Doch, da, ich fühle das doch, irgendein absonderlicher Blick ruht auf mir! Aber was kann das sein?

(Es ist ein Klicken zu hören)

Ich habe das Licht angemacht, und da ist gar nichts. Was bin ich nur für ein Idiot? Natürlich nicht. Trotzdem sollte ich die Rollläden vielleicht herunterlassen, auch wenn ich es wie die Pest hasse, mit verdecktem Fenster zu schlafen. Aber was soll’s.

(Ein Rascheln und Poltern ist zu hören, dann wieder ein Klicken)

So, nun sind sie zu! Sehr gut. Das Licht ist auch wieder aus. Dann will ich mal schlafen. Aber… Was ist das? Da ist es wieder, dieses Gefühl in der Magengegend, das langsam meine Gedärme verkrampfen lässt. Ist hier vielleicht etwas drin? Irgendein Ding? Natürlich nicht, natürlich nicht, sei nicht so dumm. Okay, alles ist gut. Ich brauche mehr Ruhe ich… - Da ist doch was! Als wenn mich jemand anstarrt, da aus der Ecke. HALLO? IST DA WER? Klar, keine Antwort. Die Nachbarn halten mich bestimmt für gestört, wenn sie das gehört haben. Haben sie aber hoffentlich nicht. Was ist da? Ich muss… das Licht anmachen. Dann seh‘ ich es vielleicht. Was auch immer hier gerade bei mir ist. Es hört ja sowieso gerade mit, wenn etwas da sein sollte. Also egal.

(Ein erneutes lautes Klicken ist zu hören, gefolgt von einem anderen).

Herrgott, natürlich war da nichts, bin ich nun blöd? Genug mit dem Schwachsinn, Zeit zu schlafen.

***

Hallo? Ich habe gestern lange nicht einschlafen können. Immer wieder musste ich nachsehen, ich musste einfach. Ich war mir SO SICHER, dass da etwas war, das mich anstarrte, angierte, wie so ein beschissener Stalker. Ich hatte mal eine Stalkerin, Marle, lange her… Aber die ist in Amerika und was auch immer das war, es war so… unmenschlich, irgendwie. Dämlich, oder? Aber so war es, irgendwie fremd, weder Mann noch Frau. Was soll es sonst gewesen sein? Ich habe mir gerade vom Arzt ein Medikament verschreiben lassen, gegen den Stress. Hoffe, es hört nun auf. Bin gerade auf dem Weg zu meiner Präsentation, hoffentlich kann ich denen mein Zeug andrehen, wäre viel Kohle…

Zum Glück ist gestern schon alles fertig gewesen. Alles nochmal im Kopf durchzugehen, war ja nicht mehr möglich, bei meinem komischen Anfall…

Ich laufe einen Umweg durch den Park, schnappe frische Luft und hoffe, mich zu beruhigen. Ich nehme das hier nur weiter auf, weil der Arzt sagte, dass es mir helfen könnte, ein wenig besser klarzukommen. Lächerlich, einfach lächerlich. Das war irgend‘ne Episode oder so, aber die ist vorbei. Was soll mich schon beobachten, was…

Scheiße, ist da was in den Büschen? HALLO? Nun rufe ich schon wieder dumm in die Gegend und die da kucken schon!

Nur… was ist in dem Busch? Was sieht mich da an? Meine Nerven! Sind da irgendwelche Kinder, die mich verarschen wollen? Nun raschelt er. Bilde ich mir das ein? Bitte, bitte, bitte, lass mich in Ruhe! Lass mich… VERDAMMTE HACKE! Nur so‘ne verschissene Katze! MANN! ICH KÖNNTE KOTZEN! Ja, lacht ihr nur, lacht, mir egal! Keine Zeit mehr für so ein Zeug, schnell zur Firma, die Präsentation halten, ganz normal…

***

(Die Audiodatei beginnt mit einem Schluchzen)

Ich... Ich kann nicht mehr, ich drehe durch! Was ist das für eine kranke Nummer? Verflucht, wo sind meine Pillen? Da! Erstmal beruhigen, alles gut, alles gut…

Wie konnte so etwas passieren? Wie? Das Meeting lief doch gut, die Präsentation habe ich doch super hingekriegt! Dann fragte ich nach ihrer Meinung und alle… alle schwiegen nur! Warum? Ich war verwirrt, komplett aus dem Konzept gebracht! Warum haben sie nichts gesagt? Nur ihre Blicke, diese durchbohrenden, gierigen Blicke, die mich schweigend durchlöcherten und in meine Seele zu stechen schienen. Sie starrten nur, einfach so! Einfach so! Starrten und starrten und starrten… Waren das überhaupt Menschen? Die Augen waren echt seltsam, so trüb und von einem echt… schrecklichen Glanz! Ich bin einfach gerannt. Einfach weggerannt. Auf die Straße…

ABER ES HÖRTE NICHT AUF! Alle standen sie nur da, gafften, stierten mich an, ohne Wort, ohne alles! Die Autos standen, die Straßenbahnen, alle nur am Gaffen, aus den Fenstern der Hochhäuser, überall weg, alle starrten sie nur! Und mir wurde schlecht, ich habe… ja ich habe gekotzt, mitten auf den Gehweg, erbärmlich! Scheiße…

(Erneutes Weinen für eine gute halbe Minute)

Und dann war da noch etwas Anderes, ich weiß es! Ich habe es gespürt, seinen Blick! Dieses schreckliche Gefühl, dieser siebte Sinn!

Und ich bin mir nun sicher, dass da etwas ist. Etwas... unweltliches… Ich habe meine Waffe aus dem Waffenschrank geholt. Wenn ich es sehe, dann werde ich ihm das Gehirn rausblasen! SEIN SCHEISS GEHIRN! Aber, wenn es keines hat? WENN ES KEINES HAT?

Nein, Schwachsinn, reiß dich zusammen, das ist doch nicht dein Ernst!

Ruhig Blut, ruhig Blut… Da ist doch nichts. Das Gefühl ist doch jetzt weg! Alles ist wieder gut. Vielleicht… vielleicht war es ja nur ein schlechter Burger oder so. Das kennt man ja… Ruhig jetzt…

(Nur ruhiges Atmen ist zu hören)

So. Nun ist es wieder gut… Alles ist in…

WAS… WAS BIST DU? WAS ZUR HÖLLE… OH GOTT, OH GOTT! WAS SIND DAS FÜR AUGEN, DIE MICH DA ANSTARREN? OHNE KÖRPER, EINFACH DA! IHR GOTTESLÄSTERLICHEN SCHEUSALE! WIE KANN DAS SEIN?

Augen zu… Augen zu… dann sind sie weg, dann sind sie…

NEIN, NEIN, BITTE! SIE SIND IMMER NOCH DA, STARREN, IN MEINEN KOPF, IN MEINEN GEIST, IN MEINE SEELE, MEINE EXISTENZ! ES GIBT NUR EINE LÖSUNG…

(Ein rasselndes, unmenschliches Geräusch ist zu hören. Dann ein einzelner Schuss)

Die Galle der Erde

Die folgenden Aufzeichnungen wurden 1968 auf dem Dachboden einer alten Villa in Warley nahe London gefunden. Die Aufzeichnungen selbst sind auf den Herbst 1876 datiert.

I.

Ich möchte mich zunächst einmal vorstellen: Mein Name ist Edward Pines. Schon seit fast zehn Jahren leite ich die respektable Anwaltskanzlei Pines & Partners, die ich von meinem Vater übernommen habe. Beruflich hatte ich daher eigentlich nie Kummer, allerdings sah es privat ein wenig anders aus. Genau wie ich den Fleiß meines Vaters geerbt habe, ist meine kleine Schwester Lucy mit seinem Unternehmensgeist beschenkt worden. Das mag sich zunächst nicht problematisch anhören, jedoch übertrieb sie es oft maßlos und drohte mit ihren flüchtigen Partnerschaften und den langen Reisen ins Nirgendwo, den Ruf unserer Familie in den Schmutz zu ziehen. Ich möchte trotz dieses vielleicht recht harten Urteils betonen, dass ich meine Schwester immer über alles lieben werde, dennoch bereiteten mir ihre Eskapaden großes Kopfzerbrechen.

Die ganze Situation nahm jedoch eine unheilvolle Wendung zum Schlimmerem und wegen genau jener Vorfälle habe ich mich entschieden, diese Zeilen zu verfassen. Ich hoffe, dass die Offenlegung in der Öffentlichkeit die Wogen ein wenig glättet und den ungeziemen Tratsch im Keime erstickt, der vermutlich in jeder Gosse anschwellen wird.

Die merkwürdige Wandlung meiner Schwester und die damit zusammenhängenden Ereignisse, welche bei gewissen Leuten so viel Interesse geweckt hatten, dass sie nicht davon ablassen konnten, wirre Gerüchte in die Welt zu setzen, begann vor ungefähr vier Wochen. Ich hatte gerade den Benfordprozess gewonnen, der dem Leser vielleicht bekannt ist, und wartete auf die Rückkehr meiner Schwester aus China. Sie war mit ihrem damaligen Liebhaber Benjamin Drumpsman auf jene Reise in die fernen Gebiete Asiens aufgebrochen; zurückgekehrt war sie allerdings alleine, wie ich zunächst mit einiger Genugtuung feststellen musste.

Schon als ich Lucy mit einer Droschke am Londoner Hafen abholte, fiel mir ihre ungewöhnliche Distanz und Verwirrtheit auf. Ich möchte nicht behaupten, dass wir uns immer gut verstanden (eher war das Gegenteil der Fall), doch herrschte stets ein gewisses Vertrauen zwischen uns, welches uns sonst immer irgendwie verbunden hatte. Nun jedoch wirkte sie kalt und fremd, fast, als wäre sie nicht gänzlich wieder nach England zurückgekehrt. Meine Frage nach dem Verbleib von Mr. Drumpsman ignorierte sie und wandte sich stattdessen der Welt außerhalb unserer Droschke zu. In dem kurzen Gespräch, zu dem ich sie bewegen konnte, fand ich weder etwas über ihre Reise, noch über ihren Zustand heraus, bis auf den Umstand, dass sie einige ihrer Erinnerungen verloren zu haben schien. Somit beließ ich es erst einmal dabei und überließ sie ihren eigenen Gedanken. Als wir schließlich nach einer bedrückenden Fahrt an unserer Villa ankamen, verzog sich Lucy schnell auf ihr Zimmer und blieb für die nächsten zwei Tage dort.

Ich bat unser Hausmädchen, sich um sie zu kümmern, doch außer einer kleinen Mahlzeit am Tag wollte meine Schwester nichts zu sich nehmen.

Als mich am dritten Tag die Sorge übermannte und ich schließlich vorsichtig an ihre Tür klopfte, konnte ich ein leises Schluchzen vernehmen, welches mich bestärkte, das Damenzimmer zu betreten. Ich fand Lucy auf ihrem Bett sitzend, kreidebleich und zitternd. Als sie mein Eindringen bemerkte, versteckte sie etwas unter der Bettdecke, allerdings konnte ich nicht ausmachen, um was für einen Gegenstand es sich dabei handelte. Als sie meinen neugierigen Blick bemerkte, beeilte Lucy sich, mir zu versichern, dass es sich nur um eine alte Tonscherbe handelte, die sie gefunden hatte. Zwar glaubte ich diese Geschichte nicht, wollte sie in ihrem labilen Zustand aber auch nicht als Lügnerin beschimpfen.

Lucy wechselte sofort das Thema und bat mich, abends einige ihr bekannte Gesichter einzuladen. Dies schien mir anfangs zwar keine gute Idee zu sein, aber nachdem sie mich regelrecht angefleht hatte, gab ich nach. So machten meine Schwester und ich mich auf, einige gute Freunde der Familie zu uns zu bestellen und ich wies unser Hausmädchen sogleich an, alles für ein üppiges Essen und guten Trunk in die Wege zu leiten.

Der Abend verlief zunächst ohne Probleme; zwar waren alle neugierig auf den Reisebericht von Lucy, aber nachdem sie ihr Unbehagen im Zusammenhang mit jenem Thema spürten, ließen sie davon ab. Es war eine lustige Runde und die Verpflegung war hervorragend, so dass bald alle ihre Probleme vergessen hatten. Selbst Lucy schien es etwas besser zu gehen; der Wein gab ihr einige Gesichtsfarbe zurück und die Gesellschaft schien ihr gut zu tun und von ihren Sorgen abzulenken.

Es muss so gegen elf gewesen sein, als die Stimmung plötzlich umschlug, weil meine Schwester nach einem Blick auf ihre Handfläche plötzlich unkontrolliert zu schreien anfing. Erschrocken fuhr ich auf und eilte zu ihr, doch bevor ich sie erreichen konnte, begann sie, ungesund aussehenden grünen Schleim zu husten, der sich wohl aufgrund einer schlimmen Erkältung in ihren Lungen festgesetzt hatte. Ich und unser Hausmädchen beeilten uns selbstverständlich, meine Schwester auf ihr Zimmer zu bringen und die Gäste eiligst aus dem Haus zu bitten. Zwar war mir klar, dass es Getratsche geben würde, doch war mir die Gesundheit meiner Schwester selbstverständlich wichtiger. Ich schickte sofort nach Dr. Manchester, der schon seit langer Zeit der Hausarzt der Familie und ein vertrauenswürdiger Mann war. Lucy war es gar nicht Recht, ihn zu konsultieren, doch hielt ich es für angebracht, mich über ihre Wünsche hinwegzusetzen. Dr. Manchester schaffte es, noch vor der zwölften Stunde bei uns einzutreffen und machte sich sogleich an die gründliche Untersuchung meiner protestierenden Schwester.

Er stellte zu meiner Verwunderung keine Erkältung oder sonstige Beeinträchtigung der Lunge und Atemwege fest, jedoch bereitete ihm ihre niedrige Körpertemperatur einiges Kopfzerbrechen. Auch untersuchte Dr. Manchester die Hand meiner Schwester, wo er eine kleine Schnittwunde fand, die seltsam im Licht schimmerte und von einer dünnen, wässrigen Schicht überzogen war. Als er sich bei Lucy danach erkundigte, wo sie sich diese Wunde denn zugezogen habe, japste sie nur kurz auf und begann dann plötzlich so sehr um sich zu schlagen und zu treten, dass sie mittels einer Spritze ruhiggestellt werden musste.

Die Situation begann mich zu überfordern, da weder ich noch Dr. Manchester eine Erklärung für unsere Beobachtungen finden konnten.

In den folgenden Tagen blieb Lucy weiter auf ihrem Zimmer und ich nahm mir frei, um nach ihr sehen zu können. Auch Dr. Manchester besuchte uns zweimal täglich, um ihren Zustand überwachen zu können. Sie wollte immer noch nichts von ihrer Reise berichten und hielt sich auch sonst verschwiegen. Als Lucy langsam anfing, immer mehr zu schwitzen und ständig ihren eitrig grünen Schleim ausspie, bekam ich es mit der Angst zu tun. Doch im Angesicht der Situation war ich so machtlos wie unwissend, so dass ich nur an ihrem Bett sitzen und ihr Beistand leisten konnte. Ich suchte nach dem seltsamen Objekt, dass sie vor mir verborgen hatte, fand allerdings nichts vor. Immer öfter schluchzte sie nur zitternd vor sich hin und betrachtete die Wunde auf ihrer Handfläche, die nun immer verschleimter zu werden schien.

Es vergingen zwei Wochen, in denen sich die vermutlich bereits bekannten Gerüchte über meine geliebte Schwester in der Gegend verbreiteten und immer wieder neugierige Menschen vor unserem Haus auftauchten, in der Hoffnung, einen Blick auf Lucy zu erhaschen. Ich verjagte das ungehobelte Pack jedes Mal mit meiner Büchse, allerdings schien das nur die Gerüchteküche weiter in Gang zu bringen. Vor vier Tagen schließlich kam es zu jenem Vorfall, der einer meiner Gründe dafür ist, alles niederzuschreiben, so wie es geschehen ist. Es war gegen Morgen, als unser Hausmädchen nach Lucy sehen wollte und sie mit blutenden Handgelenken im Baderaum fand. Ich danke dem Herrn, dass meine Schwester nicht über die nötigen anatomischen Kenntnisse verfügte, sich in Lebensgefahr zu bringen, denn sie hatte ihre Hauptschlagadern knapp verfehlt. Das Hausmädchen kündigte noch zur selben Stunde und all meine Überzeugungsversuche konnten sie nicht zum Bleiben bewegen. Sie nannte meine Schwester ein "hässliches Monstrum" und verließ bald zum letzten Mal das Grundstück unserer Familie. Ich selbst war noch völlig benommen, als schließlich Dr. Manchester, der sofort herbeigekommen war, traurig darauf verwies, dass man meiner Schwester wohl nur in einem Haus für Geisteskrankheit helfen könne. So sah ich gegen Mittag schweren Herzens dabei zu, wie einige Männer sie abholten, um sie ins Waypine Asylum zu bringen, der renommiertesten Institution für geistlich umnachtete Geschöpfe, die ich in London finden konnte.

II.

Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich die verrosteten Tore zu jener alten Klinik aufdrückte, um dort meine arme Schwester zu besuchen, die nun schon zwei Tage im Waypine Asylum untergebracht worden war. Ihr Zustand hatte sich so stark verschlechtert, dass mich nun keine Gewissensbisse mehr quälten, weil ich sie unter lauten Protesten hier eingewiesen hatte.

So schritt ich den matschigen Feldweg entlang auf die Eingangstür zu, während kalter Wind an meiner Kleidung riss. Am Morgen erst hatte ich ein Telegramm mit der Nachricht erhalten, dass meine Schwester nach mir schickte; sie sei des Morgens mit klarem Verstand aufgewacht und habe nur um ein wenig Brot und meine Anwesenheit gebeten. Erleichtert war ich ihrem Aufruf gefolgt und so begab es sich, dass ich schließlich in das kleine Zimmer eintrat, in dem sie die letzten Tage verbracht hatte.

Als ich sie sah, musste ich traurig an die Zeit zurückdenken, in der noch alles in Ordnung gewesen war. Damals war meine Schwester eine hübsche, kräftige, junge Frau gewesen, die trotz ihrer rebellischen Lebensweise immer anständig gekleidet und wohlgepflegt in den angeseheneren Kreisen unserer Kleinstadt verkehrte. Doch das alles war nun einer abgemagerten Gestalt gewichen, die mich aus leeren Augen anstarrte und auf einer Pritsche hockte. Ich umarmte sie zur Begrüßung vorsichtig und war erstaunt, dass sie trotz ihrer schweißnassen, mageren Figur immer noch sehr viel Kraft in den Armen zu besitzen schien und mir die Luft fast aus den Lungen presste.

"Es tut gut, dich zu sehen, nun, da ich wieder klarer denken kann", begann sie.

"Du musst wissen, dass ich nun die Geschehnisse verdaut habe, die ich erlebte - soweit man sie überhaupt verdauen kann. Auch habe ich mich mit meinem Los abgefunden und ich bin bereit für das, was mir blüht."

Ihre Augen leuchteten kurz auf und ich bildete mir ein, Angst dort sehen zu können, wenn auch nur für einen kurzen Moment.

"Was soll dir denn blühen?", fragte ich sorgenvoll.

"Du bist hier doch den Umständen entsprechend gut aufgehoben und in Sicherheit. Also, was soll dir passieren?"

"Keine Sorge, ich werde dir die Erklärung für mein Verhalten und meinen Geisteszustand gleich liefern, da du mir als einziger vielleicht glauben wirst. Also nimm bitte Platz und höre dir meine Geschichte an", bat sie mich schließlich traurig und verwies auf einen kleinen Holzstuhl, der in einer Ecke ihres Zimmers stand.

Nachdem ich meine Schwester noch einmal eindringlich gemustert hatte, gab ich schließlich mit einem tiefen Seufzen nach und ließ mich auf die harte Sitzgelegenheit fallen, gespannt auf ihren Bericht.

„Der Anfang meiner Reise nach China ist nicht sehr ereignisvoll verlaufen und deshalb sollte ich ihn vermutlich lieber weglassen. Ich beginne also zu jenem Zeitpunkt, an dem Benjamin und ich unser Dampfschiff verließen und den Boden jenes alten Landes betraten, das uns mit großer Gastfreundlichkeit und einer blühenden Kultur empfing. Man liest hier in den Zeitungen nicht oft etwas über jene Gebiete und die Leute sind so ungemein anders als unsereins, dass es zu Teilen schon sehr sonderlich ist. Wir bahnten uns also unseren Weg durch enge Gassen, die von alten schiefen Häusern umrahmt waren und stets von einem Geruch seltsamer Gewürze durchtränkt schienen. Es gab viele kecke kleine Läden und auch einige gemütlich anmutende Teehäuser, jedoch fühlte ich mich unter all den fremden Menschen unwohl. Auf meinen Reisen zog ich es normalerweise vor, die Natur für sich selbst sprechen zu lassen und begab mich meist - wenn irgendwie möglich – in eher abgeschiedene Gegenden.“

„Ich hatte dich nicht für einen so… träumerische Persönlichkeit gehalten“, musste ich bei ihren Worten mit einem leichten Schmunzeln auf den Lippen zugeben.

„Nein, du hast dich auch nie wirklich nach meinen Reisen selbst erkundigt. Eher mit wem ich mich durch die Welt schlug, als wo… Aber sei es drum. Wie dir bekannt ist, kann ich nicht ein Wort Chinesisch, doch Benjamin war wenigstens ein bisschen in der Lage mit den Einheimischen zu kommunizieren, sodass wir schnell eine Bleibe für die Nacht fanden und auch einige grobe Erkundungen über die nähere Umgebung einholen konnten. Wir entschieden uns am folgenden Tag, eine Reise in Richtung des Gebietes Xiaowutaishan, welches angeblich eine sehr sehenswerte Landschaft war, anzutreten.

Es dauerte nicht lange, bis wir die felsige Bergregion erreichten, die von unzähligen Seen durchzogen war. Wir fanden schnell in einem kleinen, ländlichen Dorf eine Unterkunft und verbrachten einige sehr angenehme Tage im Schatten der Hügel. Auch die Anwohner begrüßten uns begeistert und wir fühlten uns sofort willkommen, es konnte eigentlich also nicht besser sein…“

„Das klingt doch alles sehr idyllisch. Was also ist das Problem gewesen? Und wo ist Benjamin? Ist er dortgeblieben, weil es ihm so fantastisch gefiel? Oder…“

„Er ist… dortgeblieben. Zumindest, was noch von ihm übrig ist“, fuhr Lucy mir betrübt ins Wort.

„Was von ihm übrig ist? Ist er umgekommen? Hatte er einen Unfall?“, wollte ich erschrocken wissen.

Trotz meiner Abneigung, die ich für jenen Gentleman empfunden hatte, wünschte ich ihm dennoch kein ernstes Leid.

„Ich wollte, es wäre so. Denn das Los, was er gezogen hat, ist ein weitaus schlimmeres. Aber dazu komme ich noch, habe bitte etwas Geduld.

Wir beide waren also bereits einige Tage in jenem alten Dorf, welches wir am Fuße der steinernen Hügel gefunden hatten. Die Hütten dort waren alle aus Holz und unglaublich alt und morsch, sodass wir das eine oder andere Mal fürchteten, uns könnte das Dach über den Köpfen einstürzen, jedoch hatten wir sonst nicht wirklich Sorgen.

Bis wir dann in einer verhängnisvollen Nacht eine Wanderung in die freie Natur antraten, um einen romantischen Platz unter dem Vollmond zu suchen. Wir machten uns mit ein wenig Proviant auf und begaben uns in die Wildnis, wo wir nach einigem Klettern durch ein steiniges Gebiet und über ein moosbewachsenes Plateau schließlich an den Rand eines kleinen Wäldchens gelangten. Die hohen, dichten Laubbäume gaben mir ein ungutes Gefühl und die Flora passte auch nicht recht in die Gegend, da wir bis zu jenem Zeitpunkt nur eine unwirtliche Berglandschaft gesehen hatten. So näherten wir uns langsam den Bäumen, deren große Blätter silbern im Licht des Vollmondes glänzten. Benjamin war von einem unbehaglichen Eifer erfasst und rannte geradezu auf das dichte Geäst zu, aber ich selbst hielt mich eher zurück, da mir jener Ort nicht geheuer war. Schließlich erreichte auch ich das Dickicht, durch das Benjamin bereits verschwunden war und betrat schließlich schaudernd die Dunkelheit des Wäldchens. Es dauerte nicht lange, bis ich nahezu gar nichts mehr sehen konnte, da die Baumkronen meine Sicht verdeckten und ich fühlte mich in die Finsternis hineingesogen. Wie du weißt, bin ich nicht oft verängstigt, aber in dieser erstickenden Atmosphäre schlug mir mein Herz bis zum Hals.

Hinzu kam, dass Benjamin verschwunden war…“

„Also hast du ihn verloren?“, wollte ich ungläubig, aber auch gespannt wissen.

„Nein, habe ich nicht. Ich habe ihn noch einmal wiedergesehen. Ein einziges Mal… aber der Reihe nach. Wie du dir bestimmt gut vorstellen kannst, habe ich zunächst nach ihm gerufen; doch schienen die Bäume und Büsche um mich herum meine Stimme zu schlucken. Nach wenigen Rufen gab ich bereits auf, teils, weil ich die Hoffnung verlor, teils, weil irgendetwas in mir Angst davor hatte, jemanden… oder etwas…. anzulocken. Aber ich konnte Benjamin schließlich auch nicht zurückgelassen, alleine in der unbekannten Wildnis. So nahm ich meinen Mut zusammen und schritt weiter voran, während ich Ausschau nach meinem Reisegefährten hielt. Hinzu kam der unglückliche Umstand, dass Benjamin unsere einzige Laterne mit sich genommen hatte und somit konnte ich mir nicht einmal mit Beleuchtung behelfen.

Das Unterholz knarzte unter meinen Stiefeln und die Luft wurde immer dichter und muffiger. Schon bald verlor ich die Orientierung und jegliches Zeitgefühl. An ein Umkehren war nun auch nicht mehr zu denken; ich hatte mich hoffnungslos verirrt. Schon geisterten die schlimmsten Vorstellungen durch meinen Geist: Ich sah mich hungernd an einer Baumwurzel lehnen… wahnsinnig durch den Wald laufen, bis meine Beine nachgaben… wie ich Benjamins Skelett in einer Mulde fand oder…

Meine Gedanken wurden schließlich von einem Bündel Mondlicht zum Schweigen gebracht, das vor mir durch das Dickicht schien. Ich bewegte mich also auf diesen neuen Hoffnungsschimmer zu und schließlich brach ich durch zwei große Büsche und stolperte erschöpft auf eine Lichtung, die einsam und erhaben unter dem Sternenhimmel lag. Zunächst bemerkte ich nichts Auffälliges, aber dann wurde ich des steinernen Altars gewahr, der inmitten der Lichtung thronte und mit seinen unzähligen Verzierungen und Farben wie aus einer anderen Welt und völlig fehl am Platz wirkte. Gespannt lief ich darauf zu und bemerkte, dass um den Altar herum seltsame Objekte verstreut waren. Es handelte sich dabei augenscheinlich um Tonscherben, aber ihre metallene Oberflächenstruktur und die akkurat geschnittenen Kanten ließen mich stutzig werden. Ich nahm eine der Scherben in die Hand und dann... schnitt ich mich…“

Sie hielt mir die Wunde hin, die ich nun genauer inspizieren konnte. Der Schnitt war nur klein, viel kleiner als ich es zuerst angenommen hatte. Doch um die verkrustete Wunde herum hatte sich ihre Haut auf unheimliche Weise verändert; sie war glitschig und gelblich geworden und wies ungewöhnliche Riffelungen auf.

Ich zuckte unwillkürlich zurück. Was für eine Infektion hatte Lucy sich nur eingefangen?

„Ich weiß… aber das kam erst später. Nachdem… naja. Ich schnitt mir also in die Hand und ließ die Scherbe fallen… Aber dann tat ich etwas unglaublich Dummes, etwas, das ich nie hätte tun dürfen. Ich hob die Scherbe auf und steckte sie ein. Hätte ich sie doch nur dagelassen, dann wäre mein Leben vielleicht nicht… Aber ich steckte sie ein. Ich dummes Mädchen…“

Sie schluckte.

„Nun, aber das ist jetzt egal. Ich verstaute also die Scherbe in meiner Reisetasche und schritt weiter auf den Altar zu, der mich magisch anzuziehen schien. Die Wunde hatte ich schon wieder vergessen. Als ich näher an jenen Opferstein herantrat, konnte ich plötzlich eine Öffnung im Boden erkennen, die vorher vor meinen Augen verdeckt gewesen war. Es war ein Schlund in der Erde, der ungefähr einen Durchmesser von drei Fuß hatte und in tiefster Finsternis endete. Mir wurde schwindelig bei dem Anblick dieses Höllenlochs und ich hatte das ungute Gefühl, dass sich aus jenen Tiefen der Erde etwas näherte, dem ich nicht begegnen wollte.

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