Kitabı oku: «Witterung – Lauf so schnell du kannst», sayfa 6
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Die Bad Arolser Pension Einkehr entpuppte sich als kleines Juwel. Das Zimmer war sauber und die Matratze bequem. Der Blick auf die Wälder hatte etwas Beruhigendes, und die frische Luft klärte den Geist.
Heute Morgen hatte Heribert Botho angerufen.
Sie waren nochmals verschiedene Sicherheitsvorkehrungen durchgegangen, die Botho und Ayumi unbedingt einhalten mussten, wenn Heribert unterwegs und nicht bei ihnen war, um sie zu schützen. Diese gingen über abzuschließende Außentüren bis zu dem Punkt, dass die Umgebung, in der man sich bewegte, genaustens vorher inspiziert werden musste.
Botho berichtete ihm von dem Vorfall vor seinem Geschäft, wo er in der Spiegelung des Schaufensters eine Person entdeckt hatte. Doch sie war plötzlich fort gewesen, als er sie hatte stellen wollen. Dass er sich daraufhin einen zweiten Revolver zugelegt hatte, zeigte, wie sehr er sich sorgte – wie sehr ihn die ganze Sache mitnahm. Botho war Schütze und kannte die Regeln, wie er eine Waffe aufzubewahren hatte – Munition und Waffe mussten separat voneinander verwahrt werden. Dass er und Ayumi sich vermutlich nicht an diese Regeln halten würden angesichts der besonderen Umstände konnte Heribert nachvollziehen. Denn war Lemm tatsächlich im Haus, würde er wohl kaum warten, bis Botho seine Waffe und seine Munition aus den verschiedenen Behältern geholt und den Revolver geladen hatte. Es war eine Binsenweisheit, dass mehr als nur der Umgang mit einer Waffe erforderlich war, um sich vor einer potenziellen Gefahr zu schützen, und Heribert hoffte inständig, dass Botho mental stark blieb und die Kontrolle über diese für ihn schwierige Situation behielt.
Als Botho auf die Frauenleiche zu sprechen kam, die man aufgefunden hatte, hielt Heribert sich zurück. Botho musste nicht jedes Detail erfahren.
Heribert war mit Witzbold übereingekommen, dass er ihn bei seinen Ermittlungen unterstützte und dafür im Gegenzug an Informationen herankam – Informationen, die für Bothos und Ayumis Sicherheit relevant waren. Das beinhaltete aber nicht, dass sein Freund jedes Detail der Mordermittlungen kennen musste.
„Weiß man schon Näheres zum Schließfach?“, hatte Botho plötzlich wissen wollen.
„Noch nichts“, hatte Heribert geantwortet und sich gewundert, dass sich sein Freund dafür interessierte.
„Ich meine ja nur, wegen des abgeschnittenen Fingers und so“, hatte Botho auf Heriberts Nachfrage erklärt.
Wieder große Verwunderung! Woher zum Teufel wusste Botho von dem Finger?
„Na, woher wohl, es stand doch in der Zeitung“, hatte Botho auf Heriberts Nachfrage geantwortet.
Verdammt, Heribert ärgerte sich. Diese Fuzzis von Schreiberlingen machten genau das, was Lemm sich erhoffte – Aufmerksamkeit! Heribert beschloss, diesen Umstand demnächst bei Witzbold ansprechen. Die Menschen mussten zwar gewarnt werden, sie brauchten aber keine Details der Tathergänge zu wissen.
Er schnappte sich sein Portemonnaie und ging nach unten. Nach dem Frühstück würde er zum Markusstein wandern und den Tatort genau inspizieren. Doch es begann heftig zu regnen. Frau Bödiker, die Inhaberin der Pension, war eine gepflegte ältere Dame um die achtzig und sehr rüstig. Dass sie Sport trieb, sah man ihr an. Ihre Körperhaltung war erstaunlich gerade, und ihr Gang glich eher dem einer jungen Frau.
„Herr Falk, wir haben hier ein sehr schönes Lesezimmer mit ausgesuchter Literatur, und der Blick auf die Felder und angrenzenden Wälder ist auch nicht zu verachten.“
Er bedankte sich – vielleicht würde er tatsächlich von dem Angebot Gebrauch machen. Wer hatte schon Lust, durch den Regen zu einem Tatort zu wandern? Doch als er mit dem Frühstück fertig war, kam die Sonne heraus.
Er marschierte am Schlossteich vorbei und dachte kurz an Anita, mit der er ebenfalls hier entlanggeschlendert war. Dann ging er zügig weiter, die dichte Spendelallee hinunter, durchquerte das Bicketal, lief durch ein kleines Waldstück einen Hang hinauf, überquerte Eisenbahngleise und erreichte die Himmelswiese. Das Gras war feucht, und an einigen Stellen befanden sich Moosanhäufungen, die mit Feuchtigkeit vollgesogen waren und ein schmatzendes Geräusch von sich gaben, wenn man darauf trat.
Heribert drehte sich um. Von hier aus hatte man einen fantastischen Fernblick auf den hinteren Teil der barocken Bad Arolser Schlossanlage, die nach dem Vorbild des Versailler Schlosses Anfang des achtzehnten Jahrhunderts von Julius Ludwig Rothweil geplant worden war.
Gerade war es mucksmäuschenstill. Keine Vögel waren aus dem dichten Wald, der sich an der Himmelswiese entlangzog, zu hören.
Auf der Spendelallee waren ihm noch vereinzelte Spaziergänger begegnet, doch hier war keine Menschenseele. Überall schwirrten Insekten herum. Ein Schmetterling ließ sich auf der Blüte einer Sumpfdotterblume nieder. Auf dem gesamten Wiesenstück blühten diese gelben Pflanzen und jede Menge violettes Wiesenschaumkraut, das sich unter die gelbe Fülle mischte.
Er überlegte, er war jetzt eine knappe halbe Stunde unterwegs und noch nicht vor Ort. Wenn es von irgendwoher eine Zufahrt gab, dann war es unmöglich hierherzukommen, ohne dass Spuren hinterlassen wurden. Doch bisher hatte er nichts entdeckt. Der Boden schien völlig unberührt. Er dachte an das Foto vom Tatort und grübelte. Hatten sich Täter und Opfer auch in diesem Fall vielleicht gekannt?
Er blieb stehen. Irgendwann musste doch die Abzweigung kommen – ein Weg, der nach rechts in den Wald hineinführte. Er hatte es sich von Frau Bödiker beschreiben lassen und es sich zur Sicherheit noch mal auf der Karte angeschaut.
Plötzlich fühlte er sich beobachtet. Er blickte sich um. Doch er konnte nichts entdecken, vermutlich bildete er es sich nur ein. Eine innere Stimme warnte ihn jedoch, dass er sich über seine Instinkte nicht hinwegsetzen sollte, denn das konnte gefährlich werden. Ein Eichelhäher krächzte plötzlich und flog davon. Als er ihm hinterherblickte, entdeckte er weiter oben die Abzweigung, die in den Wald führte.
Dort angekommen, bog er ab und freute sich über das frische Grün an den Laubbäumen, während er aufmerksam die Gegend studierte. Dann blieb er abrupt stehen. Da war er! Ein riesiger Fels, der eigentlich aussah, als bestünde er aus zwei Felsen, die aneinandergelehnt waren und über und über mit Moos und oben auf dem Felsplateau mit Büschen und kleinen Bäumen bewachsen waren. Eine steinerne Treppe schlängelte sich am Fels entlang und endete in einem Nirgendwo. Plötzlich hörte er das Hämmern eines Spechtes.
Heribert blickte nach oben. Die Äste der umherstehenden Bäume berührten sich und bildeten eine Art Kuppel, wie in einer Kathedrale. Das Licht der Sonne drang nur gedämpft hindurch. Ein paar kleinere Felsen standen in einigem Abstand um den Markusstein herum.
Heribert holte die Fotos aus seinem Rucksack und marschierte zu dem Baum, an dem die gefesselte Frauenleiche aufgefunden worden war. Hier waren keine Spuren mehr zu entdecken. Gott sei Dank hatte es am Tag des Mordes nicht geregnet, auch danach nicht, und man hatte Fußspuren sichern können. Doch inzwischen hatte der Regen alles weggespült. Wieso hatte der Täter die Frau genau hier getötet? Warum nicht in einer Abgeschiedenheit, die man leichter erreichen konnte? Und wie hatte er es geschafft, die Frau hierherzubekommen? War auch dies die Tat von Lemm? Man musste die Ergebnisse der Spurensicherung abwarten. Wieder musste er daran denken, wie schnell Abraxas sich von einem freundlichen, fast harmlos wirkenden Typen in eine völlig andere Person verwandeln konnte. Er war ein Psychopath, und Heribert erinnerte sich mit Schaudern an Lemms verzerrtes Gesicht, als man ihn verhaftet hatte. Und sofort dachte er an die vielen Opfer, die dieses entstellte Gesicht als Letztes vor ihrem Tod zu sehen bekommen hatten – eine gemeine Fratze. Doch es gab auch Täter, die kühl blieben, egal welch schreckliche Dinge sie anderen Menschen antaten.
Heribert ging zur Treppe und blickte sich nochmals um. Der Baum, an dem die Frau stranguliert worden war, stand in einer Entfernung von ungefähr fünfzehn Metern zum Felsen. Er machte ein Foto, dann schritt er die uralte Treppe langsam hinauf, die jäh endete. Ein kleines Stück weiter oben, wurde ein schmaler Trampelpfad sichtbar, der weiter steil nach oben führte. Er folgte der Spur und staunte nicht schlecht, als er plötzlich vor dem Eingang einer kleinen versteckten Höhle stand. Doch dann erinnerte er sich, dass ein Einsiedler hier in Vorzeiten gelebt haben sollte.
Die Höhle war klein, heimelig und bot Platz für mehrere Personen. Der Innenraum war uneben, und Heribert stellte sich vor, wie man die Gesteinsspalten in Vorzeiten als Aufbewahrungsorte für Gegenstände genutzt hatte. In einem halben Meter Höhe war das Gestein zu einer kreisförmigen Sitzgelegenheit bearbeitet worden, auf die man vermutlich früher Felle gelegt und so das bearbeitete Gestein auch als Schlafstätte genutzt hatte.
Heribert blickte nach unten. Von hier oben hatte man einen guten Blick auf die nahe Umgebung – insbesondere auf jenen Baum, an dem die Frau gefesselt gewesen war. Hatte das der Täter vielleicht bezweckt – sich an der Angst der Frau ergötzt, bevor er sie getötet hatte? Heribert machte wieder Fotos, und jetzt war es keine Einbildung – das Knacken war deutlich. Er lehnte sich zurück und spähte wieder nach unten. Er lauschte. Sein Herz begann zu hämmern. Verdammt, seinen Revolver hatte er bereits abgegeben und sich noch keinen neuen besorgt.
Wer auch immer unterwegs war, Heribert war – was die Sicht betraf – eindeutig im Vorteil. Er wartete … da, wieder.
Plötzlich vernahm er ein Grunzen, und augenblicklich trappelten einige größere und kleinere Wildschweine den kleinen Abhang hinauf.
Als die Schweine außer Sicht waren, atmete er erleichtert auf und wollte gerade die Treppe hinunter. Diesmal war es kein Geräusch, das ihn aufmerken ließ. Eine Gestalt schob sich durch die unteren Büsche. Heribert drückte sich, so weit es ging, ins Innere der Höhle zurück, ohne dass er in seiner Sicht beeinträchtigt war.
Er schätzte das Alter des Mannes auf Ende fünfzig. Er schulterte ein Gewehr. In der Annahme, dass es sich um einen Jäger handelte, wollte Heribert sich schon bemerkbar machen, doch die Person ging gezielt zu jenem Baum, wo man die Frauenleiche gefunden hatte, und verharrte dort. Was hatte das zu bedeuten? Dann suchte er die Umgebung ab. Heribert machte ein Foto. Als der Mann abrupt in seine Richtung blickte, fühlte er sich entdeckt. Doch der Mann wandte sich wieder ab und fuhr fort, die Stelle abzusuchen. Nach einer Weile schlug er dieselbe Richtung ein, die die Wildschweinhorde zuvor genommen hatte, und verschwand.
Als er fort war, wartete Heribert eine ganze Weile, bevor er den Pfad nach unten nahm. Doch zuvor machte er noch Fotos von den Einkerbungen im Inneren der Höhle. Neben sehr alt anmutenden „Verewigungen“ fiel sein Blick auf ein eingeritztes großes Herz mit den Ziffern 07.06.1956. Wie so oft durchbohrte Amors Pfeil beide Hälften.
Er verließ die Höhle und folgte neugierig dem Pfad. Oberhalb des Felsplateaus entdeckte er einen verwitterten Hufabdruck im Tuffgestein. Der Sage nach sollte es sich um den Hufabdruck jenes Pferdes handeln, welches vor dem Abgrund gescheut und so seinen Herrn vor dem sicheren Absturz in die Tiefe bewahrt hatte. Heribert schoss ein paar Fotos, dann machte er sich auf den Heimweg.
Den ganzen Weg bis in die Pension hielt er immer wieder an und scannte seine Umgebung – nur für den Fall, dass ihn jemand ins Visier nahm.
Er ging ins Tischleindeckdich und bestellte sich etwas zu essen. Doch wie war er erstaunt, als sich der Wirt dieser Lokalität als der Mann entpuppte, den er zuvor am Markusstein beobachtet hatte.
Wild stand auf der Speisekarte, und Wild bestellte Heribert; um genau zu sein: Wildschwein, Knödel und Kraut. Dann stellte er sich mit seinem Bier an die Theke und versuchte, mit Rainer Moltge, dem Wirt, ins Gespräch zu kommen. Von wem er das Wild beziehe, fragte Heribert und kannte eigentlich die Antwort.
Moltge blickte erstaunt auf und lachte. „Von wem ich das Wild beziehe? Ich habe einen Jagdschein, und mein Revier ist hier in den fürstlichen Wäldern.“
„Ist wohl viel Arbeit.“
„Och, es geht – ist mein Ausgleich. Ich gehe gern auf die Pirsch. Manchmal schieße ich, und manchmal beobachte ich bloß – und schieße dann auch.“ Er deutete auf eine Kamera, die hinter ihm auf einem Bord lag.
„Heute war ich sehr früh, schon weit vor Sonnenaufgang, auf dem Weg zum Ansitz. Wissen Sie, ich bevorzuge die Jagd vom Hochsitz. Da kann man das Wild gut beobachten, und der Schuss sitzt in der Regel.“
„Und hatten Sie Glück?“
„Glück? Bei der Jagd vom Hochsitz braucht man doch kein Glück. Das Schwarzwild läuft einem direkt vor die Flinte. Treffen muss man allerdings schon.“
Er lachte wieder. Heribert grinste.
„Und ich vermute, das können Sie?“
„Und ob!“
Der Wirt griff nach einer Flasche und schenkte sich und Heribert einen Kräuterschnaps ein. Er prostete Heribert zu und grinste vielsagend. „Zielwasser, verstehen Sie?“ Dann kippte er den Schnaps hinunter.
Heribert tat es ihm gleich und grinste zurück. „Verstehe! Und Ihr Revier, ist das weit weg von hier?“
Moltge stutzte, bevor er antwortete: „Na, Sie wollen es aber ganz genau wissen, was?“
Er schenkte Heribert und sich nach.
„Mein Lieblingsansitz ist in der Nähe des Markussteins, falls Ihnen das was sagt.“
„Das sagt mir was.“
Heribert beugte sich mit einer vertraulichen Geste vor und sprach sehr leise weiter: „Ist da nicht ’ne Frauenleiche gefunden worden?“
Der Wirt stutzte erneut.
„Habe ich auch heute Morgen in der Zeitung gelesen – schreckliche Sache. Wurde ermordet.“
„Ach! Ermordet? Das habe ich wohl überlesen.“
Heribert gab sich ganz harmlos und ließ sich nichts anmerken – tatsächlich hatte diese Information nicht in der Zeitung gestanden. Das Blatt hatte lediglich darüber informiert, dass eine tote Frau aufgefunden worden war und man den Obduktionsbericht abwarten müsse. Heribert hatte die zurückhaltende Berichterstattung begrüßt. Vermutlich war man dem Wunsch der Stadtverwaltung oder des Fremdenverkehrsamts nachgekommen. Bad Arolsen lebte vom Fremdenverkehr, und der Markusstein wurde unter den Ausflugsorten als Highlight für Wanderer angepriesen.
Der Wirt eierte herum. „Vielleicht stand das auch nicht in der Zeitung, vielleicht bin ich automatisch davon ausgegangen, dass es sich, wenn man eine tote Frau an einem so abgelegenen Ort, noch dazu unbekleidet, auffindet, nur um Mord handeln kann.“
Dass die Frau unbekleidet gewesen war, auch davon hatte nichts in der Zeitung gestanden. Heribert war alarmiert – er würde gleich Witzbold anrufen und ihm vorschlagen, dass man den Wirt verhörte, auf der Stelle. Denn dass er etwas mit der Sache zu tun hatte, war gut möglich.
Er hatte Moltge während des Gespräches ganz genau beobachtet, war sich aber nicht schlüssig. Der Mann wirkte offen, nicht verschlagen. Doch wenn seine Tätigkeit Heribert eins gelehrt hatte, dann, dass viele Täter sich recht gut zu verstellen wussten.
Als der Wirt ihm nochmals einen einschenken wollte, lehnte er ab und bezahlte seine Rechnung. Er verabschiedet sich freundlich, mit dem Wissen, dass ihr nächstes Zusammentreffen ganz sicher unter anderen, weniger erfreulichen Umständen stattfinden würde.
20
Auf dem Weg zur Polizeidienststelle Korbach rief er Anita an. Ihre Zurückhaltung versetzte ihm einen Stich, und er beendete unter Floskeln das Telefonat.
Als er auflegte, rief prompt Witzbold an. „Die DNA-Ergebnisse sind da. Ich wollte dich schnell auf den neuesten Stand bringen.“
„Bist du im Büro?“
„Was denkst du, natürlich!“
„Ich bin gleich da.“
Als Heribert Witzbolds Büro betrat, kippte dieser gerade einen übervollen Aschenbecher über dem Papierkorb aus.
„Vorsicht, nicht dass einer der Stummel noch glimmt.“
Witzbold sah übernächtigt aus und verzog als Antwort nur schlecht gelaunt das Gesicht, während er sich eine Zigarette anzündete.
Heribert ging zum Fenster. „Darf ich?“
Olav nickte und hielt Heribert, der gerade das Fenster öffnete, ungeduldig ein paar DIN-A4-Seiten entgegen. Heribert schnappte sie sich und nahm gegenüber von Olav Platz, während er las.
„Na bitte, da haben wir’s. Und nun?“
Heribert warf den Packen DIN-A4-Seiten auf den Schreibtisch. Sowohl an dem Zigarillo, den er vor Bothos Haus gefunden hatte, als auch an der Frauenleiche war eindeutig Abraxas Lemms DNA nachgewiesen worden.
„Es wird eine Sonderkommission gegründet, und wie erwartet wird mir von Wiesbaden ein Fallanalytiker vor die Nase gesetzt“, erklärte Witzbold und schloss das Fenster.
Dann schenkte er sich Kaffee nach. Als er Heribert fragend die Thermoskanne entgegenhielt, nickte er.
Witzbold schob ihm eine Tasse rüber und fuhr fort: „Er reist heute an und will sich von den Tatorten in Wolfhagen und Bad Arolsen ein Bild machen. Ihm reichen die Fotografien nicht aus.“
„Verständlich.“
„Hast du das mit der tierischen DNA gelesen?“
Heribert blickte Olav fragend an.
„Tierische DNA? Das habe ich wohl gerade überlesen.“
Er griff erneut nach den Papierbögen und studierte sie. Die nachgewiesene DNA war keinem Wildtier zuzuordnen. Heribert musste an die angefressene Hand der toten Frau denken.
„Als das Tier an der Frau rumgebissen hat, lebte sie vermutlich noch,“ erklärte Witzbold, als hätte er Heriberts Gedanken erahnt.
„Das bedeutet, sie wurde nicht zu Tode stranguliert?“
„Doch, aber erst später. Das Ganze muss sich hingezogen haben, offensichtlich hat Lemm sich viel Zeit gelassen.“
Heribert drehte sich augenblicklich der Magen um, während er sich vorstellte, wie Abraxas womöglich von der Höhle aus zugesehen und den Todeskampf der Frau genossen hatte.
„Sie war auch bei Bewusstsein, als ihr die Zunge herausgeschnitten und die Augen zugenäht wurden“, erklärte Witzbold und drückte den Rest seiner aufgerauchten Zigarette aus.
Heribert stoppte sofort den Film, der vor seinem geistigen Auge ablief und den Ablauf der Tat verdeutlichte. Vermutlich ging es Witzbold nicht besser. Heribert nahm einen Schluck von seinem Kaffee und berichtete Olav von seinem Ausflug zum Markusstein und von dem Jäger, der sich merkwürdig verhalten hatte und sich hinterher als Wirt des Tischleindeckdich entpuppt hatte.
Olav merkte auf und beugte sich interessiert über die Kamera, als Heribert die Bilder durchscrollte.
Heribert deutete auf eins der Fotos, das den Wirt abbildete.
„Den musst du unbedingt einbestellen und verhören. Ich frage mich, in welchem Verhältnis er zu Abraxas steht. Haben wir es unter Umständen mit zwei Tätern zu tun?“
Witzbold zündete sich wieder eine an und inhalierte tief, während er nachzudenken schien und den Qualm langsam ausatmete. „An der Frauenleiche wurden aber keine weiteren Spuren nachgewiesen.“
„Wenn es zwei Täter gibt – vielleicht führt Lemm die Tat aus, während der andere bloß zuschaut? Wie auch immer, du musst den Mann verhören, Olav!“
Heriberts Smartphone summte. Er wollte es ignorieren, doch als er sah, wer anrief, nahm er den Anruf sofort entgegen – Ayumi. Sie klang angespannt.
„Herb, kannst du nach Kassel kommen?“
„Ich kann gerade schlecht weg. Warum?“
„Es geht um eine Bekannte. Ihre Tochter wird seit zwei Stunden vermisst.“
„Aha. Vielleicht ist sie mit Freunden unterwegs. Zwei Stunden sind doch noch nicht besorgniserregend.“
„Das Mädchen ist erst zehn Jahre alt. Ich bitte dich, Herb, die Polizei ist schon da gewesen, Michaela ist völlig aufgelöst.“
„Aber wenn die Polizei bereits informiert ist, was soll ich dann noch tun?“
„Du kennst dich doch mit den Strukturen innerhalb der Ermittlungsbehörden aus … kennst Leute. Und wenn ein Verbrechen vorliegt …"
„WENN ein Verbrechen vorliegt, Ayumi. Vielleicht hat das Mädchen bloß die Zeit vergessen. Das kommt bei Zehnjährigen vor.“
„Was die Sache aber nicht leichter macht!“
„Nein, das wollte ich damit auch nicht sagen.“
Witzbold warf Heribert einen fragenden Blick zu, und der zuckte hilflos mit den Schultern, während Ayumi weitersprach.
„Das Mädchen war die ganze Zeit mit ihrer Mutter zusammen und mit uns, also mit Botho und mir.“
„Ach so? Was war der Anlass?“
„Die Modenschau.“
Heribert verstand nur Bahnhof.
„Welche Modenschau denn?“
„Wir machen einmal im Jahr eine Frühjahrsmodenschau – eine Wohltätigkeitsveranstaltung, wo wir die neue Sommerkollektion vorführen und Geld sammeln.“
„Und die Models sind …?“
„Kinder, natürlich – was sonst? Die Kleine, sie heißt Juna, musste auf die Toilette, seither ist sie verschwunden.“
„Gut, ich mache mich auf den Weg, obwohl ich vermutlich nicht helfen kann.“
Heribert verabschiedete sich von Olav. Es wurde deutlich, wie ungern er ihn ziehen ließ.
„Ich brauche dich hier – dringend. Ich weiß nicht, was mich mit dem Fallanalytiker aus Wiesbaden erwartet. Er heißt Reuther, kennst du den zufällig?“
Heribert verneinte.
„Ich fahre jetzt nach Kassel und komme so schnell wie möglich zurück.“
Er hatte die Polizeibehörde bereits verlassen, als ihm etwas einfiel. Olav blickte erstaunt auf, als Heribert wieder in seinem Büro stand.
„Was gibt’s?“
„Wer hat die Morde eigentlich gemeldet?“
Olav stutzte. „Walter Zeller wurde von seiner Putzfrau aufgefunden, und die Frauenleiche wurde anonym gemeldet.“
„Anonym, aha.“
Heribert wusste, dass Personen das Auffinden einer Leiche manchmal anonym meldeten, aus Sorge, in etwas Unangenehmes hineingezogen zu werden.
„War es eine weibliche oder männliche Person?“
„Kann ich dir nicht genau sagen.“
„Ihr werdet den Anruf doch wohl aufgezeichnet haben?“
Witzbold zuckte mit den Schultern, und Heribert ärgerte sich.
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