Kitabı oku: «In Bed with Buddha», sayfa 2

Yazı tipi:

Tante Clara sitzt in der Falle

IMMER, WENN WIR TANTE CLARA besuchten, sagte meine Mutter gleich nach der Begrüßung, dass man hier erst einmal ein bisschen Ordnung in die Küche bringen müsse. Tante Clara wehrte sich nur lustlos, pro forma sagte sie etwas wie »Ach, lass nur, Marianne, ich mach das doch schon«, aber sie wusste ebenso gut wie ich, dass es sinnlos war. Also deckte sie stattdessen den Kaffeetisch und ging ganz auf in dieser Tätigkeit. Wie ein überdimensionierter Nachtfalter schwirrte sie herum, flatternd und brummend und torkelnd, und brachte bald die Tassen, bald den Kuchen und für mich den Kakao herein. Derweil hörte man es aus der Küche klirren und scheppern, und aus dem Wohnzimmerfenster sah ich, wie meine Mutter mit großen Einkaufstüten zu unserem Auto ging und diese dort einlud. Der Vorgang war so normal, dass ich niemals fragte, wozu dieses Ritual eigentlich diente. Ich hasste diese Besuche, die Stimmung war niemals gut, und Tante Clara ging mir auf die Nerven, weil sie immer ganz aufgeregt war und ständig alles Mögliche von mir wissen wollte. Natürlich nie etwas Interessantes. Nie fragte sie mich danach, ob die Erdkröten schon wieder in den Tümpeln eingetroffen wären oder welcher Wombel der Klügste sei, sondern sie wollte immer nur wissen, was wir denn in der Schule durchnähmen und ob ich schon »eine kleine Freundin« hätte. Vor allem letztere Frage empfand ich auch im Grundschulalter schon als unangemessene Einmischung. Was ging denn das die Tante an? Aber sie ließ sich nicht abschrecken, immer wieder versuchte sie, eine begeisterte Unterhaltung zu initiieren, während ich einfach in Ruhe spielen wollte und hoffte, dass meine Mutter schnell wieder auftauchte, weil sie dann Tante Claras Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde. Außerdem quälte mich die Sorge, dass die Prozedur sich zu lange hinziehen könnte und wir nicht rechtzeitig zur »Biene Maja« zurück sein würden.

Einmal nämlich trug ich ein schweres Trauma davon. Ausgerechnet die Folge »Flip sitzt in der Falle«. Die Fernsehzeitung hatte ein Szenenbild abgedruckt, das den Grashüpfer Flip in einer Venusfliegenfalle zeigte, die er mit allen sechs Beinen auseinanderstemmte, und sein Ge­sichtsausdruck ließ eindeutig erkennen, dass es eine große Kraftanstrengung erforderte und er nicht mehr lange durchhalten würde. Ich war schon Tage vorher aufgeregt und fieberte der Sendung entgegen. Meine Mutter versprach, dass wir rechtzeitig zurück sein würden, aber ich blieb unruhig an diesem Nachmittag, als ahnte ich schon etwas. Noch als wir bei Tanta Clara losfuhren, versicherte sie mir, es wäre kein Problem, wir kämen rechtzeitig zurück. Dann hielt sie wie immer an den Glascontainern, weil sie die Tüten eben noch aus dem Auto haben wollte, als überraschend Frau Reiter auf dem Fahrrad vorbeifuhr, während meine Mutter die Flaschen fast sanft in die Öffnungen geleitete. Frau Reiter hielt und wollte vom Rad absteigen, meiner Mutter schien das nicht recht zu sein, sie eilte ihr zum Straßenrand entgegen, um ein lebhaftes Gespräch mit ihr zu beginnen. Ich war verunsichert. Sie hatte gesagt, wir wären locker pünktlich zurück, ich zermarterte mir den Kopf, wie lange ein Grashüpfer so eine fleischfressende Pflanze wohl aufgesperrt halten könnte, die beiden Frauen bewegten sich in Richtung des Mietshauses, wo wollten die hin, wir mussten doch weiter!? Entsetzt beobachtete ich, wie sie in einem Hauseingang verschwanden. Aber sie wusste doch, dass wir um 18.20 Uhr daheim sein mussten! Im Auto gab es keine Uhr, ich schwankte zwischen Vertrauen und Zweifel, sie hatte es doch versprochen! Endlich tauchten sie wieder auf, verabschiedeten sich, meine Mutter schob hastig die letzten Flaschen ein, dann fuhren wir los. Ich war sehr erleichtert. Während sie die Haustür aufschloss, riet sie mir, schnell zum Fernseher zu laufen, damit ich die letzten fünf Minuten noch sehen könnte. Mich traf es wie ein Schlag. Ich wollte es nicht glauben, aber tatsächlich, Kurt der Mistkäfer, der so gerne ein Rosenkäfer gewesen wäre, saß mit Willy, Flip und Maja herum, und alle wirkten sehr glücklich und freuten sich, es war eindeutig, sie hatten es geschafft, und mir war dieses Abenteuer entgangen. Ich fing an zu schreien. Aber statt mich zu trösten und ein schlechtes Gewissen angesichts dieses fundamen­talen Vertrauensbruchs zu zeigen, brüllte meine Mutter mich an, ich solle mich wegen der Scheißsendung nicht so aufregen, das wäre doch völlig egal, fast hätte Frau Reiter gesehen, wie sie die ganzen Schnapsflaschen von Clara weggeworfen hätte, was soll die denn bloß denken, und ob ich glaubte, ihr würde das Spaß machen! Dann brach sie in Tränen aus, was ich noch schockierender fand als die entgangene Rettungsaktion für Flip. Ich spürte eine lähmende Hilflosigkeit. Sie riss sich schnell wieder zusammen, versuchte mich jetzt doch zu trösten, aber ich verstand gar nicht, was passiert war, wieso durfte Frau Reiter nicht wissen, dass sie die Flaschen von Tante Clara wegwarf, das machte sie doch jede Woche, das war doch nichts Besonderes?!

Der Vorfall trug nicht dazu bei, dass ich den Tantenbesuchen mehr Begeisterung entgegenbrachte. Ab da fuhren wir auf dem Rückweg auch immer einen größeren Schlenker zu einem anderen Glascontainer, in Wolbeck, wo wir niemand kannten. Dafür lag auf dem Rückweg eine Eisdiele, an der wir danach hielten, was mich noch eine Weile mit den Clara-Ausflügen versöhnte, aber bald schon gab meine Mutter auf, mich mitzunehmen, und zunehmend fuhr sie selbst immer seltener. Tante Clara begegnete mir dann fast nur noch am Telefon. Meistens sehr spät abends, zu einer Zeit, zu der niemand sonst anrief. Mein Vater verdrehte die Augen und sagte zu meiner Mutter: »Geh du mal ran, das ist doch sowieso die Clara.«

Als ich etwas älter wurde, erweiterte sich der Kreis der potenziellen abendlichen Anrufer exponentiell, sodass meist ich ans Telefon ging, aber wenn ich Pech hatte, erwischte ich die Tante. Sie klang meist sehr merkwürdig, ich ahnte, dass sie betrunken sein musste, und versuchte, sie so schnell wie möglich an meine Mutter weiter zu vermitteln, was nicht immer leicht war, denn Clara war entzückt, mich zu sprechen, hatte aber ihr Repertoire an Gesprächsthemen in den vergangenen Jahren nicht erweitert. Inzwischen berührte mich allerdings die Frage, ob ich denn nun »eine kleine Freundin« hätte, noch erheblich unangenehmer. Einmal waren meine Eltern abends unterwegs, und ich hatte Clara am Ohr und keine Chance, sie unauffällig schnell loszuwerden.

»Ich muss weg, Tante Clara«, versuchte ich es. Sie hörte es gar nicht. »Weißt du, ich habe ja immer alles nur geschluckt, ich habe ja nie was gesagt.«

»Tante Clara, ich bin verabredet, ich muss gleich los.«

»Aber das hat jetzt ein Ende, weißt du, Junge? Man muss auch mal was sagen, weißt du? Man darf sich nicht alles gefallen lassen.«

»Ja, Tante Clara, sicher. Lass dir nichts gefallen. Ich muss jetzt aber weg.«

»Ja, und immer wollen sie nur was von einem, immer heißt es nur: Clara, mach hier, Clara, mach da.«

»Ja, Tante Clara, das solltest du dir nicht gefallen lassen. Ich muss jetzt aber ...«

»Was habt ihr eigentlich in der Schule, Junge?«

»Tante Clara, wirklich, ich muss jetzt ...«

»Wir sprechen so selten miteinander. Da kannst du doch wohl mal sagen, was ihr so gerade in der Schule habt! Da kann man der Tante doch mal kurz was erzählen! Das ist doch nicht zu viel verlangt!«

»Ja, also, gut, wir haben Dreisatz und den Schimmelreiter.«

Schweigen am anderen Ende.

»Tante Clara?«

»Man darf sich nicht alles gefallen lassen, Junge.«

»Ja, Tante Clara. So, jetzt muss ich aber ...«

»Hast du denn inzwischen eigentlich eine kleine Freundin?«

»Tante Clara!«

»Kannst du deiner alten Tante doch sagen, Junge! Du musst doch mal eine kleine Freundin haben, das ist so wichtig, Junge. Man darf sich nicht alles gefallen lassen. Immer nur: Clara hier, Clara da!«

»Ja, Tante Clara, lass dir nichts gefallen. Wir sehen uns sicher bald. Ich muss jetzt Schluss machen.«

»Was habt ihr denn gerade in der ...«

Ich legte auf und fühlte mich sehr schlecht.

Ich sah sie nie wieder. Ihre Oesophagus-Varizen hatten nicht dicht gehalten, kurz bevor ich mein Abitur machte. Wir fuhren hin, und als wir in ihre Straße einbogen, wurde mir klar, wie lange ich schon nicht mehr dort gewesen war. Ich dachte an Flips verzweifelten Gesichtsausdruck, als er in der Falle saß. Im Haus erwartete uns eine ziemliche Sauerei. »Dann lass uns mal als Erstes die Schnapsflaschen hier raus schaffen«, sagte meine Mutter nach erster Sichtung der Lage. Es wurde eine ganze Wagenladung voll. »Ich glaube, ich versuche jetzt mal, die Blutspritzer von der Tapete zu waschen. Vielleicht kannst du ja schon mal zum Container fahren.« Ich nickte und fuhr los.

Ich kam mir sehr merkwürdig vor, als ich in Wolbeck die Tüten aus dem Auto lud.

Startschwierigkeiten

ES IST NICHT UNBEDINGT FÜR JEDEN LEICHT, den allgemeinen und vor allem den eigenen Anforderungen an die sexuelle Entwicklung zu entsprechen. »Du wirst jetzt bald ein Mann!«, vertraute mein Vater mir eines Tages an, und mir schwante Furchtbares, denn ich war zwar noch unerfahren, aber doch längst aufgeklärt und hatte nicht die geringste Lust, dieses delikate und verwirrende Thema ausgerechnet mit ihm zu erörtern. Den Versuch unterließ er dann aber auch dankenswerterweise und drückte mir nur eine kleine Aufklärungsfibel in die Hand, in der zwar absolut nichts Neues stand, deren nüchterne anatomische Zeichnungen mir aber dennoch eine ganze Weile als Masturbationsvorlagen dienten – es gab damals ja noch kein Internet.

Der Wunsch jedoch, das theoretische Wissen ersten Praxistests zu unterziehen, wuchs. Eine ganze Weile schon hatte ich mich in Tanja verguckt, die mit mir bei der Schülerzeitung mitmachte. AIDS war in den frühen 80er-Jahren zum Thema geworden, Schüler unserer bischöflichen Schule aber waren nach Meinung des Kollegiums wohl immun; erst spät begann so etwas wie eine Erörterung – im Religionsunterricht, mit dem Slogan des Kohlschen Gesundheitsministeriums »Treue ist der beste Schutz«. Das war uns dann doch zu realitätsfremd, und so schrieben wir einen kleinen Artikel dazu, die AIDS-Hilfe sponsorte eine Kiste Kondome, und wir konnten jedem Heft eines beilegen. Die Aktion führte zu einem raschen Ausverkauf der Zeitschrift und einer ebenso schnellen Einbestellung beim Direktor. Tanja und ich mussten uns verantworten, und Tanja argumentierte, dass die meisten Schüler heutzutage ihre ersten sexuellen Erfahrungen nun einmal viel früher machten. Ich hatte bislang erst eine Freundin gehabt, das war Tina in der vierten Klasse, und ich hatte sie einmal auf die Wange geküsst. Und nun saß meine Lieblingsfantasie Tanja neben mir, zwinkerte mir zu und sagte dann dem Direx ins Gesicht: »Wissen Sie, in unserem Alter haben doch längst alle ihre Erfahrungen. Die Jugendlichen heute sind da viel lockerer.« Ich nickte, verkrampft wie selten.

Immerhin folgte bald darauf so etwas wie ein erstes Erlebnis. Bei einer Feier, wir experimentierten damals einleitend mit der Wirkung von Alkohol, landete ich irgendwie neben ihr. Nachdem wir eine ganze Weile nebeneinander gesessen hatten, nahm ich irgendwann allen Mut zusammen und berührte sie vorsichtig und wie zufällig mit der Hand. Sie rückte nicht weg. Ich war verblüfft. Trotzdem traute ich mich nicht, sie anzusehen, und starrte angestrengt mit unbewegter Miene geradeaus, biss die Zähne zusammen und schob meine Finger Millimeter um Millimeter weiter. Sie krochen langsam, zeitlupenartig, auf ihren Rücken, bald lag dort die ganze Hand, sie krochen immer weiter, ich war wie in Trance, nichts passierte, ich meine, Tanja explodierte nicht oder so, sie schrie auch nicht auf, sie blieb einfach ruhig sitzen, während meine Finger weiter tasteten, noch ein Zentimeter und noch einer, irgendwann an der anderen Seite ihres Körpers ankamen, nicht recht weiter wussten, der Linie folgten, bis sie irgendwann irritiert innehielten. Ich bekam einen Riesenschreck, als mir schlagartig klar wurde, was passiert war: Ich hatte meinen Arm ganz um sie gelegt, und die Hand war mitten auf ihrer linken Brust zum Ruhen gekommen, ganz deutlich spürte ich jetzt die Rundung. Ich war wie gelähmt. Ich hatte keine Ahnung, wie ich weitermachen sollte. Die Hand wegnehmen ging natürlich aber auch nicht, das hätte sie womöglich falsch interpretiert und mir alle Chancen versaut. Also verfiel ich einfach in Schreckstarre und traute mich kaum noch zu atmen. Keine Ahnung, wie lang wir da so saßen. Ich nahm nichts mehr wahr – mir war nicht einmal klar, was für ein merkwürdiges Bild wir für die anderen im Zimmer abgeben mussten, wie wir so dasaßen: stocksteif, bewegungslos, mein Arm um sie geschlungen, die Hand mitten auf ihrem Busen, kein Wort redend, stier und mit leeren Augen geradeaus guckend. Plötzlich bewegte sie sich, eine ungeahnte Glückswelle schwappte in mir hoch, ich wähnte mich am Ziel, als sie plötzlich ihren Kopf an meine Schulter anlehnte, bis mir klar wurde, dass die Mischung aus Untätigkeit und Alkohol sie einfach hatte einschlafen lassen. Ich wagte immer noch nicht, mich zu bewegen, und erst, als die anderen fahren wollten, raunte Jörg mir zu: »Ich glaube, du kannst jetzt loslassen«, und schüttelte sie wach. Betreten schlich ich den anderen zu unseren Fahrrädern hinterher.

Kurze Zeit später nahm die Sache einen rasanteren Verlauf. Ich stand mit Ines vor dem Hiltruper Kaufhaus, mehr zufällig. Ines war eine, die Freunde aus höheren Klassen hatte. Ich hätte erst gar nicht daran gedacht, mit ihr etwas anfangen zu können; daher ging ich recht unbefangen mit ihr um. Bis sie dort zu mir sagte: »Hey, willst du heute Abend mal bei mir vorbeikommen und meine Titten sehen?« Ich war völlig konsterniert, aber mein Leidensdruck war doch inzwischen groß genug, um mich sofort »ja« sagen zu lassen. »Gut«, sagte sie in siegesgewohnter, dezenter Langeweile, »dann geh da mal rein und klau einen Walkman für mich.« Ich war noch konsternierter.

»Was? Aber das geht doch nicht!«

»Was denn? Biste zu feige?«

»Nein, nein, natürlich nicht!« – natürlich war ich zu feige – »Nein, das ... das wäre nicht richtig.«

Jetzt schaute sie mich konsterniert an. Sie war es offenbar nicht gewohnt, Absagen zu erhalten, wenn sie derartige Angebote machte: »Hey, du kannst sie sogar anfassen!«, legte sie nach. Das konnte ich einerseits unmöglich ausschlagen, traute mich andererseits aber trotzdem nicht. Im Kopf rekapitulierte ich meine Taschengeldreserven und meine bisherigen Erfahrungen – die Abwägung ergab ein klares Bild: »Gut, ich kauf dir einen«, bot ich an. Es blitzte auf in ihren Augen. Sie nahm meine Hand, legte sie auf ihre Brüste, drückte sich ein wenig dagegen und fragte mich: »Und? Gefallen sie dir?«

»Äh, also, ich meine, ja, ja, sicher«, stotterte ich.

Sie stieß mich weg und klebte mir eine dabei: »Was glaubst du? Dass ich käuflich bin?«, schwang sich auf ihr Fahrrad und verschwand. Irgendwie ging die Sache nicht so recht voran.

Bis kurze Zeit darauf ein Kurstreffen in Ottmarsbocholt anstand. Der Mathelehrer hatte geladen, es gab reichlich Bier, und einige machten von dem Angebot Gebrauch, an dem entlegenen Ort in seinem Partykeller zu übernachten. Es war schon dunkel und wir lagen in unseren Schlafsäcken, als Wencke aus dem Bad in den Keller kam, die Tür hinter sich schloss, sich vorsichtig zu mir vortastete und sich neben mich legte. Diese Wendung überraschte mich etwas, nachdem sie den ganzen Abend mit Bernhard herumgeknutscht hatte. Nach einer Weile, als um uns herum die ruhigen Atemgeräusche vermuten ließen, dass die anderen schliefen, rückte sie plötzlich näher heran, ergriff meine Hand, führte sie in ihren Schlafsack und schob sie unter ihr T-Shirt. Zwar war ich wieder sehr erschrocken, aber ich hatte mir geschworen, mich bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit nicht wieder derart bescheuert anzustellen. Also begann ich, sie vorsichtig zu streicheln. Ich konnte es kaum glauben – es klappte. Sie zögerte nicht, sondern schob prompt ihre Hand in meinen Schlafsack, um sich dort recht umstandslos und sehr zielgerichtet ans Werk zu machen. Sie gab ordentlich Stoff, und mir entfleuchte ein Stöhnen. »Psst...« flüsterte sie mir kichernd ins Ohr: »Direkt neben uns liegt Heiko, der merkt sonst noch was.« In dem Moment kam ich. »Hab schon was gemerkt«, flüsterte ich zurück. Schlagartig zog sie ihre Hand zurück, rückte von mir weg und drehte sich auf die Seite. Es war nicht ganz das, was ich mir erhofft hatte, aber das war jetzt auch gleichgültig. Ich lehnte mich noch einmal zu ihr rüber, flüsterte ihr leise ins Ohr: »Mir hat’s Spaß gemacht«, und während sie irgendwas Unverständliches in ihre Isomatte grummelte, wischte ich mich unauffällig an ihrem Schlafsack trocken. Sollte sie doch sehen, wie sie das ihrer Mutter bei der nächsten Wäsche erklären würde.

Motherfucker

ALS WÄRE NICHT OHNEHIN SCHON ALLES kompliziert genug. Zu den Wirren des Erwachsenwerdens kam das Verwirrspiel mit den bereits Erwachsenen als nicht unerhebliche Hürde dazu. In Südamerika beispielsweise sind tagsüber die Stadtparks bevölkert mit jungen Liebespaaren, die Ruhe vor ihren Familien suchen. In Westfalen aber ist das Wetter zu schlecht, um sich in einen Park zu setzen. Die Münsteraner Jugend war also stets auf der Lauer, dass die Eltern mal nicht daheim waren, und dann musste noch schnell irgendwie das Date unter einem passenden Vorwand organisiert werden, oder wenn die Eltern, was nicht selten war, sich partout weigerten, ihr Haus jemals abends zu verlassen, dann musste alles sehr leise und heimlich vor sich gehen, was bei den quietschenden Federn der typischen in Schränke einklappbaren Jugendzimmerbetten ein sehr umsichtiges Vorgehen verlangte, aber gerade daran mangelte es ja damals erheblich. Es war ein Krampf. Später boten sich Autos als Alternative an. Ein Klassenkamerad berichtete davon, wie er panisch versucht hatte, die Rücksitze des elterlichen Opel Astra zu säubern. Zwar war er erfolgreich, doch traute er sich trotzdem die ganze Nacht nicht nach Hause, weil die Polster einfach nicht trocknen wollten. Die Sache mit dem Sitz fiel zwar nicht auf, aber natürlich tippten die Eltern angesichts des nächtlichen Fernbleibens auf die dann ja doch irgendwie auch richtige Ursache, und es gab einen Riesenärger und zweimaligen Taschengeldentzug. Der Depp. Später allerdings prahlte er vor den Kumpels, die im Wesentlichen über schüchternes Gestreichel noch nicht hinweggekommen waren, dass das Mädchen, mit dem er ging, ihm richtig einen geblasen habe. Alle waren sehr beeindruckt und neidisch. In vertraulicher Runde gestand er uns allerdings später unter dem Einfluss erster Alkoholgaben, sie hätte das lediglich aus Angst vor Verunreinigungen getan, sich dann furchtbar verschluckt, ihm deshalb schlimme Vorwürfe gemacht und sich sofort von ihm getrennt. Als wäre eben nicht alles schon kompliziert genug.

So gesehen hätte ich eigentlich froh sein sollen. Sie wohnte im Emmerbachtal. Die Neubausiedlung, wo die jungen Lehrerfamilien ihre Doppelhäuser aufgestellt hatten. Wo es Bürgerinitativen gab. Wo man, wenn man zu Besuch war, der Mutter, die einem geöffnet hatte, nicht einfach sagen konnte: »Ist die Julia da?«, um sich dann vorbeizudrücken und in ihr Zimmer zu gehen, sondern wo die Eltern sich bemühten, mit der jungen Generation in Kontakt zu bleiben, weshalb man völlig unvermittelt etwas über Atomkraftwerke sagen musste oder die geplante Umgehungsstraße.

Ich war ziemlich aufgeregt, weil ich eine Verabredung mit Julia ausgehandelt hatte. Wir hatten ein paarmal auf Feten geknutscht, nun hatte sie mich eingeladen. Wir saßen mit ihren Eltern am Abendbrottisch und ich musste erörtern, ob die Rede von Bundestagspräsident Philipp Jenninger antisemitisch gewesen sei oder nicht. Als wir zum Nachtisch den Fruchtjoghurt endlich aufgegessen hatten, sagte Julias Mutter plötzlich: »Du bleibst doch sicher hier über Nacht, oder?« Mich traf es wie ein Schlag. Was zum Teufel sollte ich darauf antworten? »Lass mal, Mama, das sehen wir dann schon«, schaltete sich nun Julia ein, und dann mir zugewandt: »Komm, wir gehen zu mir nach oben.« Julias Mutter nickte, und während wir über die Wendeltreppe ins Obergeschoss gingen, rief sie uns noch freundlich nach: »Aber denkt dran, Kondome zu nehmen, wenn ihr zusammen schlaft!« Also, liberale Eltern, die sich für ihre Kinder interessieren – schön und gut. Aber das hier war mir eindeutig – zu wenig intim. Zu wenig verrucht. Zu selbstverständlich. »Ja, Mama«, rief Julia zurück, und es klang nicht mal genervt.

Julias Familie wohnte in einem dieser typischen Neubaugebietshäuser: unten ein großzügiges kombiniertes Wohn- und Esszimmer sowie die Küche und ein Besucher-WC, oben das Bad, das Elternschlafzimmer und die beiden Zimmer für die Kinder. Die Zweikindfamilie war bauliche Grundvoraussetzung im Emmerbachtal. Und Julias Zimmer lag genau neben dem Schlafzimmer der Eltern. Wenn diese nachts ins Bett gingen, konnten wir hören, wie sie sich vor dem Einschlafen noch eine Weile leise unterhielten. Vermutlich über die geplante Fußgängerzone in Hiltrup-Ost.

Zwar verliefen die weiteren Geschehnisse zunächst durchaus in meinem Sinne, aber dann machte ich eine furchtbare Entdeckung. Julia machte Geräusche. Schon bei einfachem Gestreichel. Sie machte Geräusche, während ihre Eltern nebenan lagen und sozusagen die Erregungskurve ihrer reifenden Tochter akustisch live in ihr Ehebett übertragen bekamen. Ich versuchte, ihr durch leidenschaftliche Küsse den Mund zu stopfen, war aber letztlich nur bedingt erfolgreich.

Und dann der nächste Morgen. Die Eltern hatten den Frühstückstisch schon gedeckt. Dieses wissende, milde Lächeln. Diese dezenten Zweideutigkeiten: »Na, habt ihr gut geschlafen?« oder »Ihr wollt doch sicherlich noch duschen, Papa ist gleich fertig im Bad.« Nach der verwirrenden ersten Nacht mit Julia setzte ihre Mutter uns morgens Frühstücksflocken vor, während der Vater die Münstersche Zeitung las. Ich rührte ratlos in den Corn­flakes herum, als sähe ich so etwas zum ersten Mal. Offenbar spürte die Mutter doch etwas vom Beklemmenden dieser Situation und fragte zur Auflockerung sehr interessiert: »Na, was habt ihr denn gerade in Erdkunde?« »Weimarer Republik?«, erwiderte ich müde, und der Vater sagte mit sanfter Stimme: »Ach, lass mal, Charlotte, die beiden haben gerade was ganz anderes im Kopf.« Ich im nächsten Moment vor allem viel Blut. Alles verfügbare Blut, wie mir schien. »Du brauchst dich doch nicht zu schämen«, sagte die Mutter verständnisvoll, und ich schämte mich noch mehr. Ich hielt das keinen Monat aus und machte Schluss mit Julia. Ich war sehr erleichtert, als das nächste Date im Auto endete.

₺289,11