»Na, du bildest dir aber was ein!«
»Ich denke mir die Sache anzusehen. Wenn ich hier glücklich heraus bin, gehe ich, vermutlich mit einer Gesellschafterin, auf Reisen. Spanien und Portugal nehme ich mir besonders vor.«
»Wie willst du als junges Mädchen denn durchkommen? Schon die Sprache!«
»Meine Muttersprache ist Portugiesisch!«
»Du hast längst alles vergessen.«
»Ich kann schon noch etwas.«
»Sprich mal!«
Lola blies Rauch aus dem Fenster. Die Tür ward geöffnet, und Ernestes Stimme sagte französisch:
»Ein Besuch, meine Damen.«
Süßes Parfüm drang herein, und eine schöne Dame, schwarz und sehr elegant, noch jung, mit glänzend weißem Gesicht und glänzend schwarzen Haarbandeaus, trat rasch in den Kreis der jungen Mädchen, die aufstanden. Sie erhob das Lorgnon und sah umher.
»Da ist sie«, sagte Erneste und zeigte auf Lola. Die Dame ließ das Lorgnon los; vom Anblick Lolas schien sie betroffen.
»Die Kinder werden groß«, bemerkte Erneste. Die Dame lächelte. Lola, die erblasst war, murmelte zitternd:
»Mai?«
Die Dame sprach, ganz schnell, etwas Unverständliches; Lola konnte, mit stockender Stimme, nichts erwidern als »Mai, Mai«; und beide standen, die Arme unschlüssig ein Stück erhoben, einander gegenüber. Erneste sagte in ihrem korrekten Französisch:
»Ist das seltsam, gnädige Frau! Als Ihre Tochter ehemals in dieses Haus eintrat, konnte sie nicht mit mir sprechen – und jetzt nicht mit Ihnen.«
Mit glänzend glatten Bandeaus und einem rohseidenen Schlafrock, creme und pfauenblau, kam Frau Gabriel ins Zimmer und fragte:
»Sind die Sachen da?«
Lola las, hing dabei aus dem Fenster und hörte nicht. Ermattet seufzend lehnte Frau Gabriel sich in einen Sessel.
Lolas schlanker, kräftiger Nacken dahinten lag pflaumig blond im Licht. Um ihr Haar her war ein goldiges Geflimmer. Die ungeheure blaue und durchgoldete Weite trug Lolas Schattenriss in sich, bereit, ihn dahinzuraffen, aufzuzehren. Drei Palmenblätter nickten mit ihren Spitzen über den Fensterrahmen hinweg. Die Hotelglocke ging. Nun schnaubte ein Dampfer. Von Gesprächen, Musik und Gelächter flatterten Bruchstücke durch Wind und Sonne herbei.
Frau Gabriel saß und polierte mit dem Taschentuch ihre Nägel. Lola sah sich plötzlich um und fuhr zusammen.
»Sind die Sachen da?« fragte Mai geduldig.
»Da stehen sie doch!«
Nicht einmal den Kopf konnte Mai wenden; lieber saß sie eine halbe Stunde und wartete. Wenn jemand aber auch gar keine Nerven hatte! Lola stellte die geöffneten Schachteln dicht neben Mai hin.
»Grade habe ich sie noch bezahlen können. Aber es war fast das Letzte.«
»Schreibe doch an Nene.«
»Das sagst du immer. Oh! Wäre ich erst ausgebildet und selbstständig! … Weißt du, wie viel wir schon voraus haben? Die Zinsen eines halben Jahres.«
»Nene verdient aber auch; er wird mit uns teilen.«
»Er hat schon mit uns geteilt. Mir ist’s sonderbar genug, dass dort drüben ein junger Mann für mich arbeitet, den ich kaum kenne.«
»Versündige dich nicht, er ist dein Bruder.«
»Erinnerst du dich, wie ich anfangs, nachdem du herübergekommen warst, nicht wusste, wer Paolo war? Als Kind hatte ich nie gehört, dass er Paolo hieß und dass Nene nur Baby bedeutet.«
»Der gute Nene.«
»Wir lassen ihn also für uns verdienen; nur dürfen wir ihn nicht zugrunde richten. Hörst du?«
»Ihr werdet das schon zusammen ausmachen, ihr seid klüger als ich. Ach, unsere jetzigen Verlegenheiten hat Paolo mir vorausgesagt. Er wollte mich durchaus nicht reisen lassen.«
»Zum Glück scheint er energisch; sonst könnte es schlimm enden. Ich selbst vergesse mich manchmal. Zum Beispiel war’s sehr unnötig, dass wir hierher kamen. Wir sind genug hinter der Branzilla her gereist. Da sie nun in der Nervenheilanstalt sitzt und für meine Stimmbildung nichts mehr tun kann, hätten wir in Paris bleiben sollen.«
»Paris war schön!«
»Unser Leben in Paris kostete schließlich weniger: wir saßen doch manchen Abend zu Hause. Hier lässt man uns nicht.«
»Du hast recht, es ist schrecklich; nun, Gott wird helfen. Kann ich jetzt die Sachen sehen?«
»Aber – sie liegen dir doch vor der Nase!«
»Muss ich sie selbst herausnehmen?«
Frau Gabriel lächelte zaghaft; die Lippe mit dem Leberfleck im Winkel kräuselte sich und zerstörte die reine Linie der graden Nase; die Augen baten; in das gelassene Madonnengesicht kamen Furcht und Unbeholfenheit eines Schulmädchens. Um ihren guten Willen zu beweisen, tauchte sie eine ihrer kleinen, weichen, ungeübten Hände in die Schachtel. Gerührt hob Lola die Kostüme heraus, sah ein wenig von oben herab zu, wie Mai sie bewunderte, fasste selbst Teilnahme – und bald waren sie im Verein ganz hingegeben an diese Stoffe, an die neuen Erfindungen dieser Töne, dieser Schnitte, die ihnen versprachen, ihre Schönheit umzutauschen und ihnen eine noch nicht gekostete Form von Leben und von Glück zu vermitteln. Zum Schluss verriet Frau Gabriel, welche Züge ihr Glück heute trug; denn sie fragte:
»Meinst du, dass der Herzog von Fingado mich liebt?«
Ihre Stimme und ihr Blick waren voll kindlicher Erwartung. Lola sagte tröstend:
»Gewiss, Mai.«
»Tatsache ist, dass er neulich auf der Garden-Party sich fast nur um mich kümmerte. Die Bricheau versicherte mir, seine Verlobung sei ins Wanken gekommen. Das wäre mir wahrhaft unangenehm.«
Aber es klang stolz. Dann, behutsam:
»Sage mir eins, mein liebes Kind: gibt dir der Herzog kein Gefühl ein? … Du brauchst es nur zu sagen.«
»Nicht das geringste … obwohl ich ihn sympathisch finde«, setzte Lola höflich hinzu. Und Mai, zitternd:
»Ich würde seine Liebe nicht wollen, wenn du sie wolltest. Gott ist mein Zeuge, dass dein Glück mir höher steht als meins.«
»Gute Mai, mache dir keine Sorgen!«
Lola wollte sich entfernen; Mai hielt sie, tränenden Auges, am Rock fest.
»Ich würde mich dir opfern, weißt du … Also du liebst ihn nicht? Schwöre es mir!«
»Ich schwöre es«; und Lola lächelte nachsichtig. Man musste ein Kind sein wie Mai, um sich in den Titel dieses kümmerlichen Jünglings zu verlieben.
»Aber auf dem Heimwege«, bemerkte Mai, »ist er mit dir gegangen. Ihr habt euch sogar abgesondert.«
»Er wollte mir aus der Ferne seine Yacht zeigen – auf der er nicht fahren kann, weil er seekrank wird.«
»Wovon spracht ihr noch?«
»Von Karl dem Zweiten.«
»Wer ist das?«
»Ein König von Spanien – es ist lange her, es würde dich nicht interessieren. Mich interessiert’s auch nur manchmal. Aber mit Fingado weiß ich nichts anderes zu reden.«
»Wirklich nicht?«
»Tatsächlich.«
Mai nickte beruhigt. Mit einem unaufhaltsamen Lächeln des Triumphes:
»Mit mir redet er anderes!«
»Würdest du ihn heiraten, Mai?« fragte Lola, kniete neben ihrer Mutter hin und strich ihr schmeichelnd über Hals und Arm.
»Ich sehe meine Mai schon als Herzogin, in ihrem Schloss in der Sierra; sie geht auf die Jagd nach Wölfen, Adlern und ähnlichen Wappentieren.«
Mai hatte ernsthaft nachgedacht.
»Alles wohl überlegt«, sagte sie, »hat auch Herr Aguirre seine Vorzüge. Er ist Abgeordneter, sehr einflussreich, und Spanien wird vielleicht Republik werden.«
»Wie weit du denkst, Mai! Aguirre, dies ungesund rosige Baby, denkt nur an das Nächste: er will unser Geld, das Geld, das er uns zutraut. Zu viel Ehre!«
»Du siehst zu trübe, Lola. Und ferner ist er in gesetztem Alter, und ich bin, ach, nicht mehr ganz jung.«
»Im Gegenteil«; dabei herzte Lola ihre Mutter eifriger; »du bist so jung, dass ich mich neben dir meines Alters schäme. Schon als du mich aus der Pension abholtest, war ich, glaub’ ich, weiter im Leben als du. Die zwei Jahre aber, die wir in der Welt umhergereist sind, haben meinem Alter zehn hinzugefügt. Ich fange sogar an, hässlich zu werden.«
»Das ist nicht wahr! Du bist die Frische selbst. Dein Alter bildest du dir ein, weil du zu viel denkst. Das könnte deine Stirn falten; gib acht! Du bist zerstreut bei der Toilette, und gerade sie verlangt unsere ganze Geisteskraft. Dann hättest du dir nicht die Stirnhaare abgebrannt und wärest jetzt nicht so schwer zu frisieren.«
Lola griff seufzend nach den krausen Härchen.
»Ich habe schließlich doch meinen Beruf verfehlt. Oft komme ich mir vor wie ein verkleideter Mann.«
»Das wird vergehen, wenn du heiratest. Findest du es noch nicht an der Zeit? Welche schönen Gelegenheiten hast du vorübergehen lassen! Ich weiß nicht: du bist doch so klug; aber eine Schwarze hat mehr Geschick, sich einen Mann einzufangen. Halt, gefällt dir etwa Herr Aguirre? Er scheint mich zu lieben. Meinst du nicht?«
»Gewiss, Mai.«
»Tatsache ist, dass er während der Regatta nicht von meiner Seite wich. Wenn du ihm aber irgendein Gefühl entgegenbringst …«
Mais Stimme bebte schon wieder; Mai war schon wieder zu einem Opfer bereit und ängstigte sich davor. Lola wehrte ab; sie lachte befangen, tat ein paar Schritte; dann, ernsthaft, mit verhaltenem Zorn:
»Du sprachst von meiner Verheiratung, und doch verlierst du sie zu oft aus dem Auge. Die Tochter einer Mutter, die sich zu gut unterhält, wird nicht leicht einen Mann finden.«
Mai sah tief erschrocken aus; Lola schloss verzeihend:
»Ich weiß, du verdienst keinen ernsten Tadel. Erinnere dich nur, bitte, wie leicht man sich unschuldig kompromittiert, und verspäte dich abends mit keinem der Herren mehr!«
»Du bist streng wie dein Vater«, sagte Mai und erschauerte. »Weißt du wohl, dass ich ihn wiedergesehen habe? Ja, gerade in der Nacht, von der du sprichst, erschien er mir.«
Demütig bittend:
»Willst du nicht sein Bild in dein Zimmer nehmen?«
»Das geht nicht, Mai: es würde ihn noch mehr erzürnen.«
Lola ging ans Fenster und sah hinaus. Frau Gabriel murmelte vor sich hin und seufzte. Eine junge Männerstimme kam von unten:
»Fräulein Lola, ich habe alles, was Sie wünschten.«
»Gut«, antwortete Lola.
»Sie bestehen im Ernst darauf?«
»Ohne Zweifel. Wann kommen Sie?«
»Sehr bald. In einer Stunde werden die beiden Kavaliere Ihrer Mama dasein. Empfehlen Sie mich ihr!«
»Auf Wiedersehen!«
»In einer Stunde – und ich bin nicht angezogen!« rief Frau Gabriel und sprang auf. »Lola, beeile dich! Welch Glück, dass wir frisiert sind.«
Bei der Tür kehrte sie um.
»Was denkst du über unsern Landsmann?«
»Da Silva Dolenha?« – und Lola fühlte sich unfrei.
»Ja. Hältst du es für unmöglich, dass er eine von uns liebt? Er kommt täglich.«
Da Lola schwieg:
»Anzeichen gäbe es wohl, dass ich es bin, die er liebt.«
Lola kam plötzlich in Bewegung.
»Nein, Mai, diesmal irrst du. Sei versichert, der denkt nicht an dich!«
»Ach«; Mai war gekränkt; »wie kannst du das beurteilen. Du bist in solchen Dingen ein Kind.«
»Mag sein. In diesem Fall aber weiß ich, wen Da Silva liebt. Wir sind Freunde, und er hat es mir gesagt.«
»Wen denn? Mein Gott!«
Mai stammelte, heftig enttäuscht. Lola, überlegen:
»Das verrät man nicht unter Freunden.«
»Freunde: was ist denn das?«
»Du wirst es sehen. Geh, Mai, zieh dich an! Du wirst es sehen.«
Dann rief sie nochmals:
»Mai! … Glaubst du wohl, dass ich leidenschaftlich bin?«
»Du? Warum, Kind?«
»Ich meine, weil wir von solchen Dingen sprechen … Nein, ich weiß gewiss, ich bin es nicht.«
»Wie sonderbar du bist!«
Lolas bewegte Miene blieb noch auf die Tür gerichtet, die sich geschlossen hatte. Allmählich ward ihr Blick sinnend, und sie setzte sich auf einen Koffer. Mais Mädchen trat ein und holte die Sachen ihrer Herrin. Lolas eigene lagen auf Bett und Stühlen verstreut, mit Büchern und Notenblättern dazwischen. Ein Glas mit Rosen war umgefallen; Lola erhob sich unbewusst und richtete es auf. Dann sah sie sich nach einem freien Sitz um, fand keinen und kehrte auf den Koffer zurück.
»Mai hat’s gut«, sann Lola. »Täglich andere Kleider, und merkt nicht, dass es eigentlich alles eins ist. So hat sie auch alle Tage eine neue Liebe; und wem immer sie gelten mag: dass es Liebe, richtige Liebe ist, daran zweifelt sie nie. Wenn ich wüsste, ob ich Da Silva liebe! Manchmal ist’s nur zu klar. Kurz darauf komme ich nach Haus und denke an etwas anderes. Aber das Manchmal ist schlimm genug, es ist beschämend. Ich werde dann melancholisch, wie in der Pensionszeit, als die dicke Jenny mir gewisse Aufschlüsse gegeben hatte … Ich glaube, nur äußerlich halte ich mich fester; innerlich bin ich viel lockerer als Mai. Ich glaube jetzt, sie ist die bei Weitem Unschuldigere. Anfangs habe ich sie ungerecht beurteilt; es war verzeihlich. Aus der anständigen Welt Ernestes plötzlich heraus – an diese südlichen Allerweltsplätze, in ein erhitzendes Durcheinander flüchtiger Begierden. Jeden Tag, den ich mich nicht amüsierte, sah ich als verloren an; nur der Ehrgeiz, durch meine so plötzlich entdeckte Stimme groß zu werden, erhob mich noch, und auch er schwindet schon, und ich will mit dem Singen heute fast nichts mehr erreichen als meine Unabhängigkeit … Und nun die Frau neben mir, die ebensolch taumelndes Instinktwesen war wie die anderen, ohne die Würde eines Geistes, das war meine Beschützerin, meine Freundin, meine ganze Familie, das war Mai, die schöne Mai, die ich in allen meinen Kindheitserinnerungen so poetisch in ihrer Hängematte liegen sah! Der einzige Mensch, an den ich geglaubt hatte! Ich weiß noch, wie empört ich war. Davon also hatte sie geträumt in ihrer Hängematte! Kaum ist Pai tot, stürzt sie sich, ihrer Freiheit froh, in die dümmste Unenthaltsamkeit! Um Pais willen war ich empört und bereit, sie zu hassen. Wie argwöhnisch solch ganz junges, unerfahrenes Mädchen das Leben einer Frau durchspürt – das Leben der Mutter! Als ich damals in Trouville meiner Sache endlich ganz sicher zu sein glaubte: welche Katastrophe! Mai hat einen Geliebten! In dem Gedanken saß ich wie in einem betäubenden Getöse, wie in einem Weltuntergang. Das Furchtbare, sagte ich mir, ist, dass auch ich das in mir habe und so werden muss! Was wusste ich damals? Heute habe ich fast einen Geliebten, könnte ihn jeden Augenblick haben, und wundere mich alle Morgen beim Erwachen, dass es noch nicht eingetreten ist.
Seitdem muss ich Mai wohl milder beurteilen. Sie ist ein Kind und wird über die gefährlichen Stellen immer nur spielend hinhuschen. Geht sie einen Schritt zu weit, erscheint ihr alsbald der tote Pai; und ich bestärke sie in ihren Gesichten. Warum eigentlich? Doch nicht mehr um Pais willen. Auch nicht, weil Mais Aufführung mich hindern könnte, einen Mann zu finden. Das ist mir gleich. Aber ich weiß wohl, warum: ich selbst bin in Gefahr und brauche Reinheit um mich her … Bin ich in Gefahr? Sobald ich’s ausdenke, glaube ich’s nicht mehr. Ich! Ich bin doch eine ganz andere! Auf Wesen wie die arme Mai blicke ich doch, deucht mir, ein gutes Stück hinab!
Jedenfalls hab’ ich sie gern. Wir sind grade im richtigen Verhältnis: dem von einem Paar Schwestern, die einander eifersüchtig schmeicheln. Ob wir uns schwer entbehren würden, ist nicht sicher. Wie schwärmte Mai die erste Zeit von Nene! Jetzt erwähnt sie ihn gemächlich und fast nur, wenn von Geld die Rede ist. Jetzt bin ich daran, die Mutterliebe zu genießen. Es tut doch wohl, wenn spät abends, nachdem man sich gekämmt hat und die Decke über sich gezogen hat, eine Mutter hereinkommt und einen küsst. Sie herzt mich lange; mir wird ganz kindlich und weich zu Sinn; dann spricht sie mir mit kleiner süßer, entzückter Stimme von ihren Erfolgen, fragt mich nach meinen, und wir sind wie zwei Kleine unterm Weihnachtsbaum.
Nein, für Pai nehme ich nicht mehr Partei. Ich stehe, wenn ich’s bedenke, sogar entschlossen auf Mais Seite. Erstens wohl, weil ich fühle, dass auch mit mir, wie ich geworden bin, Pai nicht sehr einverstanden wäre. Hauptsächlich aber, weil er ein Mann war und Mai unterdrückt hat. Und schließlich, mein Gott, haben die Lebenden recht. Wenn einer stirbt, versäumt er das Weitere und darf nicht mehr dreinreden. Käme Pai wieder, er fände gar keine Anknüpfung mehr mit uns, glaube ich. Mai ließe sich nicht mehr so leicht in die Hängematte legen; und ich – ach, ich bin wohl auch nicht sein rechtes Kind: wie hätten wir sonst, kaum dass er tot war, den ganzen bürgerlichen Boden unter den Füßen verlieren können! Denn das taten wir doch …«
Lola sah sich im Zimmer um.
»So sieht’s überall aus, wo wir kampieren. Und ich sitze auf einem Koffer. Nie kommen die Koffer aus den Zimmern, und sind immer nur halb ausgepackt. Die Jahreszeit wird staubig, der Liebhaber fade. Fort von hier! Wohin am Ende? Dort stehen die Ansichten von zu Hause, die Mai mitgebracht hat. Zu Hause! Wenn wir Lust bekämen, einen Ausflug dorthin zu machen, würde ich vor dem Blick auf Rio denken, dass er tatsächlich unvergleichlich schöner ist als der auf Neapel; würde von einem Hotel, wo alles wäre wie in diesem hier, auf Sehenswürdigkeiten ausgehen, die Hitze unerträglich finden und gelassenen Abschied nehmen. Etwas anderes wäre es vielleicht mit der Großen Insel; aber die Pflanzung ist verkauft … Wohin also am Ende? Danach frage ich, scheint mir, zum ersten Mal. Fange ich etwa an zu ermüden. Mais Kindernerven hab’ ich nicht grade. Aber das Ende bekommt wohl nur Interesse für mich, weil ich wissen möchte, wo das enden soll, was ich jetzt erlebe.
Sehen wir doch nach. Geht mich der Mensch wirklich so viel an? Wäre er in Venedig noch so unentbehrlich, wie er’s hier in Barcelona ist? Die Grimani hat uns für Juli eingeladen. Oder was meine ich zu Paris? Das ist noch immer das amüsanteste … Ich glaube, es ginge.«
Eine junge Männerstimme ward hörbar. Lola erhob sich hastig.
»Nein, es geht nicht.«
Leicht vorgeneigt, mit fiebrigem Spiel der Finger an der langen Halskette, blickte sie auf die Tür. Es klopfte.
»Gehen Sie in den Salon, bitte. Ich komme gleich.«
Sie machte einige zornige Schritte.
»Warum muss ich auch grübeln! Jedes Mal, wenn ich gegrübelt habe, bin ich schwach und gebe ihm dann Anlass, sich einzubilden, was doch nicht wahr ist … Oh, heute Abend soll er keinen Vorteil davontragen!«
*
Sie hatte sich beruhigt und ging hinüber. Mit offenem Lächeln begrüßte sie den Besucher.
»Gnädiges Fräulein – da ist alles«, und er zeigte nach dem Paket auf dem Klavier. »Der Bote ist gleich mit mir gekommen.«
»Ist alles darin … und wird es mir passen?«
Anstatt nach dem Paket zu sehen, betrachtete sie, und ihr Lächeln ward wider ihren Willen noch glücklicher, sein schönes, groß gemeißeltes, fast bartloses Gesicht, in dem die Brauen sich berührten. Auch er gebrauchte seine Worte nur als einen Vorwand, sie anzusehen.
»Ich bin überzeugt … Es sind genau die Maße, die Sie mir genannt haben.«
Sie bewegte leise, wie verwundert, ihren lächelnden Kopf. Endlich, sich losreißend:
»Es ist gut.«
Rasch ergriff sie das Paket. Er stürzte sich darauf.
»Ich trage es Ihnen hinüber.«
»Doch nicht«; ihr Lächeln ward schlau. »Sie bleiben hier … und …«
Sie legte, unter der Tür, den Finger auf die Lippen.
*
In ihrem Zimmer zog sie die Männerkleider an, die Da Silva mitgebracht hatte. Sie verbarg die Brust in den Falten des weichen Piquéhemdes, das Haar unter der halblangen Jünglingsperücke, setzte den runden Hut auf, hängte das Stöckchen über den Arm und trat vom Spiegel zurück, um sich zu mustern. Da stand im gutsitzenden Abendanzug etwas wie ein eleganter Student, mit duftigen Gesichtsfarben und glänzenden braunen Augen, ein sanft verwegenes Lächeln auf den roten Lippen und die jugendlich raschen Wendungen einer schicken Müdigkeit zuliebe ein wenig verhalten, ein Wesen von beunruhigendem Reiz.
»Aber wie bin ich schön!« sagte Lola einmal übers andere. »Ich bin keine Frau mehr! Jetzt erst sehe ich, wozu meine große Nase gut ist. Die hohe Stirn kommt mir jetzt auch zustatten. Ach, ich kann mir Pais Falte zwischen den Brauen machen. Ob Pai jemals so ausgesehen hat? Nicht ganz so, glaube ich. Der dort im Spiegel erinnert mich an eine Frau; aber nicht sehr lebhaft. Man wird denken: ›Er muss eine hübsche Schwester haben.‹ Für ein verkleidetes Mädchen hält so leicht keiner ihn.«
Sie räusperte sich, führte zwei Finger an den Hutrand und sprach mit tiefer Stimme:
»Sie gehen in den Klub? Ich habe seit gestern Nacht keinen Heller mehr. Nachdem ich alles verspielt hatte, bin ich noch in die Schuld der Gelida gekommen …«
Dies gefiel ihr. Sie lief hinüber, und in der Tür des Salons begann sie sofort dasselbe:
»Sie gehen in den Klub? Ich habe seit gestern Nacht …«
Da Silva hörte sie, ans Klavier gelehnt und die Stirn in Falten, bis zu Ende an. Er ließ sie näher kommen und sich wenden.
»Es ist ziemlich in Ordnung.«
Er warf noch die von Verachtung schweren Worte hin:
»Bis auf die Krawatte natürlich.«
»Also binden Sie sie mir!«
Er machte sich daran.
»Halten Sie’s so für besser gelungen?«
»Nein, von vorn kann ich’s nicht. Ich kann’s nur, wenn ich die Krawatte grade so halte wie bei mir selbst. So also, wenn Sie gestatten.«
Er trat hinter sie und schob die Arme über ihre Schultern. Seine Arme berührten sie kaum, und doch war sie darin eingeschlossen und spürte einen angstvollen Kitzel. Sie musste auf seine weißen, starken Hände hinabsehen, die gleich unter ihrem Kinn sich bewegten. Wie er den Knoten anzog, streifte seine Wange ihre Schläfe.
»Rascher!« verlangte sie, zwischen den Zähnen.
Er ließ los, ging um sie herum und sah ihr in die Augen. Die seinen hatten wieder das Düstere, Besinnungslose, das sie kannte und das ihr so gefährlich war. Seine Zähne waren in die Unterlippe gedrückt. Da begann er unvermutet weich:
»Ihr Anblick tut mir weh! Nicht zwanzig Stunden sind’s, dass wir in diesem selben Raum beieinander waren, allein wie jetzt, und der Mond schien herein. Wir hatten musiziert, Ihre märchenhaften Alttöne waren verhallt, ich hatte mich in großer Bewegung vom Klavier erhoben, und den Kopf in der Hand betrachtete ich Sie, die Sie, ein Knie auf den Stuhlrand gestützt, das Gesicht nach dem offenen Fenster gewendet hielten. Ich war im Schatten; Ihre Gestalt entlang floss Mondlicht; es rann Ihnen über die Lippen, die sich, Ihnen unbewusst, voneinander lösten; es füllte Ihre Augen – und mit der beglänzten Hand, die Sie mir überließen, zog ich zu mir hin, in mein Dunkel und an mein Herz, die ganze tiefe nächtliche Süßigkeit, die durch Sie atmete, o Lola!«
Der junge Brasilianer hatte beim Sprechen den Hals hin und her gerückt, wie ein vom eigenen Gesang berauschter Vogel. Nun stand er noch und hörte die Tenorarie seiner Sinnlichkeit ausklingen. Lola machte sich von seinem Gesicht los. Sie sah an ihrem Dress hinab – und erleichtert auflachend, warf sie sich ins Sofa.
»Nicht übel, mein Lieber. Etwas kitschig zwar, und auf ein modernes Mädchen werden Sie, fürchte ich, damit nicht wirken … Sehen Sie, die Krawatte muss ich mir nun doch selbst binden!«
In der Tür zeigten sich der Herzog von Fingado und Herr Aguirre. Beim Anblick des Eindringlings blieben sie mit zurückhaltenden Mienen stehen. Lola versuchte ihre feindselig abwartende Haltung nachzuahmen: da platzte sie aus. Die beiden starrten sie an; dann wandte ihr der massige Vierziger mit angewiderter Miene den Rücken. Der unjunge Zwanziger überwand seinen Schrecken und machte, den spitzen, gelblich gefiederten Schädel herausfordernd im Nacken, zwei Schritte gegen den Feind. Lola lachte heftiger, und Da Silva klärte die Herren auf, die in Ratlosigkeit umschlugen und dann in Bewunderung. Aber hinter ihnen rauschte es, und Frau Gabriel brach, kaum dass sie ein wenig gestutzt hatte, in Jammern aus.
»Wie siehst du aus! Wer hat mir mein Kind so verunstaltet? Sie, Herr Da Silva! Ihnen habe ich auch sonst Vorwürfe zu machen! Dazu hat man nun eine hübsche Tochter!«
Die Herren erklärten sich im Gegenteil ganz einverstanden mit Lolas Verwandlung. Fingado hatte einen Gedanken.
»Wenn der künftige Gatte des gnädigen Fräuleins sie so sähe …«
»Was dann?« forschte Da Silva drohend.
Hinter den leeren blauen Augen des Herzogs geschah eine müde, vergebliche Arbeit.
»Ich weiß wirklich nicht«, schloss er, mit einem Lächeln des Verzichtes.
Indes Frau Gabriel ihren jungen Landsmann mit den Vorwürfen bekannt machte, die er verdiente, widmete der Abgeordnete sich Lola. Er türmte seine fein bekleidete Fettmasse vor sie hin und plauderte, wie er allein es konnte, nur ohne seine gewohnte Unerschütterlichkeit. Seine rosigen Wangen zuckten; die Wulstfinger betasteten unruhig die Hüften; die launigen Augen vergaßen sich bis zu einem verdächtigen Gefunkel, das Aguirre fühlte und durch Unterwürfigkeit gutzumachen suchte. »Ganz wie ein ungesundes Baby!« dachte Lola. Sie hörte Mai sagen:
»Ich beklage mich über Ihren Mangel an Offenheit gegen mich …«
»Das ist wahr, Herr Da Silva: warum sagen Sie Mai nicht, wen Sie lieben?« rief sie hinüber, gekitzelt durch ihre Wirkung, durch das neue Wesen, das sie vorstellte, und die Erwartungen, die man ihm sichtlich entgegenbrachte.
»Sie gehen in den Klub?« begann sie gegen Aguirre. »Ich habe seit gestern Nacht keinen Heller mehr …«
Sie brach ab, drehte sich einmal um sich selbst und sagte in einem Atemzug:
»Pumpen Sie mir was! Wer so viel gestohlen hat wie Sie!«
Der Politiker kroch noch tiefer. Lola lächelte plötzlich zaghaft.
»Gehen wir? Bitte, gehen wir!« verlangte sie hastig. Und man ging.
»Zu Fuß, Mai! Mir zu Gefallen! Wohin? Ganz gleich: eine Irrfahrt.«
Sie atmete tief die matte Luft der Dämmerungsstunde. Zu Da Silva, der mit ihr hinter den anderen zurückblieb, sagte sie:
»Es gibt Gelegenheiten, bei denen ich mich nach – fast hätte ich gesagt: nach Hause sehne, ich meine nach dem reichlich kalten Ort, wo ich erzogen wurde, und dem feuchten Nordostwind, der den Geruch eines nordischen Meeres mitbrachte.«
Und unvermittelt:
»Wie ich die Männer verachte!«
»Sie haben doch noch soeben einen großen Erfolg bei ihnen gehabt«, bemerkte Da Silva mit beißender Stimme, »und ich beglückwünsche Sie. Den Aguirre überlässt man Ihnen; dem Herzog allerdings hat Mistress Job bereits einen Teil seiner Schulden bezahlt, und Sie würden sich mit der Dame auseinanderzusetzen haben.«
»Ich verbiete Ihnen, verstehen Sie, über Frauen schlecht zu reden! Solche Geschichten erfinden die Männer, um für sich Reklame zu machen.«
»Wie Sie gleich aufgebracht sind! Ich spreche doch zu einer Frau, die weniger abhängig von ihrem Geschlecht ist als die anderen – und es heute Abend zeigt.«
»Merken Sie sich: Wer, um mir zu schmeicheln, eine andere Frau herabsetzt, mit dem bin ich schon fertig. Nichts kann kränkender für mich selbst sein.«
»Böse im Ernst?«
»Nein; denn ich will mir den Spaß nicht verderben … Mai! Nicht wahr, wir treffen uns zum Essen bei Durieu? Ich gehe mit Herrn Da Silva einen anderen Weg.«
»Allein mit Herrn –?«
Lola erklärte, in Gesellschaft Mais erkenne man sie. Auch habe sie als Amerikanerin das anerkannte Recht, zu gehen mit wem und wohin sie wolle.
»Und dann siehst du doch, dass ich ein Freund des Herrn Da Silva bin. Ja, Mai, Herr Da Silva und ich, wir sind richtige Freunde.«
»Sind wir Freunde«, sagte Da Silva im Weitergehen, »so müssen Sie mir eine Warnung erlauben. Gestern sind Sie wieder allein ausgegangen. Ich achte Sie zu hoch, um –«
»Ja, früher haben Sie mir wegen solcher Dinge Szenen gemacht! Sie bessern sich.« Und sie wusste: »Er achtet mich höher, seit er mich für seine Braut hält. Ist das echt männlich!«
Er schwieg unzufrieden. Sie richteten sich nach der Musik, die herscholl. Wie sie auf den Platz einbogen, über dessen Palmenhain der Kirchengiebel mächtig ausgriff und der Bronzereiter dahinsprengte, war das Stück zu Ende. Viele fächelnde, die Hüften wiegende junge Frauen mit ihren Mägden und Anbetern, viele prall gekleidete, rauchende junge Männer begannen langsam zu kreisen.