Hilferuf aus dem Folterkeller

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Hilferuf aus dem Folterkeller
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Heinrich Thies

Hilferuf aus

dem Folterkeller

Die Hamburger Säurefassmorde

Eine Spurensuche


© 2014 zu Klampen Verlag · Röse 21 · 31832 Springe

www.zuklampen.de

Umschlaggestaltung: HildenDesign, www.hildendesign.de

Umschlagmotiv: © HildenDesign/​shutterstock.com

Satz: thielenverlagsbuero · Hannover

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

ISBN 9783866743625

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Die dunkle Seite des Pelzhändlers

I Die Spur der Vermissten

II Soko 924

III Der Prozess

IV Nachspiel

V Briefe aus Santa Fu

VI »Die Angst hat eine kalte Hand« – Der Fall wird zum Film

Die Lust am Bösen – Sadomasochismus: Das Spiel mit dem Feuer

»Das Wichtigste ist das Machterleben« – Interview mit dem Sexualwissenschaftler Prof. Wolfgang Berner

Nachwort

Anhang

Verwendete Literatur

Danksagung

Über den Autor

Heinrich Thies bei zu Klampen!

Die dunkle Seite des Pelzhändlers

I Die Spur der Vermissten

1.

Es war der 6. September 1991. Ein Freitag. Als am Abend gegen acht Uhr das Telefon klingelte, hatte Karla Sommer ihre Arbeit eigentlich längst hinter sich gelassen. Das Wochenende stand bevor, im Haus war manches liegen geblieben, und weil es schön werden sollte, wollte sie endlich mal wieder einen ausgedehnten Lauf machen. Daraus aber wurde nichts. Der Anruf kam von ihrem Dienstvorgesetzten aus dem Polizeipräsidium am Berliner Tor: Eine Frau war entführt worden. Die 53-jährige Verwaltungsangestellte Christa S. war am Morgen nicht an ihrem Arbeitsplatz im Krankenhaus erschienen, am späten Nachmittag hatte ihr Lebensgefährte Kurt Kloeßer einen Anruf von einer vermeintlichen Rechtsanwältin bekommen. »Wir haben Ihre Lebensgefährtin«, teilte die Anruferin mit. »Wenn Sie möchten, dass sie lebend zurückkehrt, müssen Sie 300 000 D-Mark zahlen.« Fragen des früheren Pelzhändlers wehrte die Unbekannte ab – auffällig oft mit den Worten »okay, okay«. Merkwürdig war, dass die Entführte sich zuvor selbst an ihrem Arbeitsplatz gemeldet hatte. Eine von vielen Merkwürdigkeiten. Auch beim Sohn der verwitweten Frau war ein Anruf eingegangen. Aber für Nachfragen blieb keine Zeit. Eine sogenannte Verhandlungsgruppe wurde zusammengestellt, und Karla Sommer war für die Angehörigenbetreuung vorgesehen. Schon am nächsten Morgen um acht Uhr hatte sie sich beim Lebensgefährten der Entführten einzufinden, um gemeinsam mit einem Kollegen vierundzwanzig Stunden im Haus des älteren Herrn im Stadtteil Poppenbüttel zu verbringen. Am Sonntagmorgen sollte sie von einem zweiten Team abgelöst werden. Klar, dass sie danach hundemüde sein würde und an einen Sonntagsausflug nicht mehr zu denken war.

Da die Umstände der Entführung und Lösegeldforderung mysteriös und undurchsichtig waren, wurde sie aufgefordert, bei ihrer Angehörigenbetreuung vorsorglich eine Waffe mitzuführen. Selbstverständlich diskret.

Die meisten Hamburger schlafen noch, als die 44 Jahre alte Kriminalbeamtin am nächsten Morgen ihre Sig Sauer P 6 ins Holster schiebt und in Richtung Poppenbüttel fährt. Wie ihre Kollegen hat sie die Anweisung erhalten, ihr Auto einige hundert Meter entfernt von dem weißen Bungalow des Kürschnermeisters zu parken. Denkbar, dass der Entführer das Haus in der Ulzburger Straße überwacht und den Besuch der Kriminalbeamten bemerkt. Das könnte Komplikationen geben – und gefährlich für das Entführungsopfer werden. Immerhin darf Karla Sommer den Vordereingang benutzen. Die übrigen Kollegen sollen sich dem Haus durch eine hintere Gartenpforte nähern und einen Nebeneingang nehmen.

Kürschnermeister Kloeßer, der bis vor wenigen Jahren noch ein eigenes Pelzgeschäft betrieben hat, wirkt unruhig und übermüdet, ist aber gleichwohl elegant gekleidet – mit Seidenhemd, Jackett und Halstuch. Karla Sommer erläutert, dass sie bereit ist, sich in dieser schweren Zeit um den Haushalt zu kümmern: einkaufen, putzen, kochen. »Außerdem stehen wir Ihnen natürlich auch zur Verfügung, wenn noch mal so ein Anruf kommen sollte.«

»Danke, das ist sehr freundlich.« Kloeßer ist anzusehen, wie er darum ringt, die Fassung zu wahren. Nervös knetet der alte Herr die Hände, zuckt mit den Augenlidern, presst immer wieder die Lippen zusammen. Als alle technisch-praktischen Fragen geklärt sind, lässt er sich in einen Sessel sinken und beginnt zu erzählen, wie ihn die Ereignisse dieses Tages aufgewühlt haben.

Der Anruf lässt ihm keine Ruhe. Die Stimme dieser Rechtsanwältin sei ihm irgendwie bekannt vorgekommen, sagt er. »Wenn ich bloß wüsste, woher.«

Sowie sich der Entführungsverdacht konkretisiert hatte, ließ die Polizei das Telefon anzapfen. Zum Glück. Immer wieder lässt Kloeßer die Aufnahme abspielen, kommt aber nicht darauf, woher er die Stimme kennt. Auch er selbst ist bei der Aufnahme zu hören. Mit zittriger Stimme weist er darauf hin, dass er krank sei, wieder mal von einem heftigen Herzrasen geschüttelt werde, fragt, ob man ihn »totkriegen« wolle. Daraufhin redet die Anruferin besänftigend auf ihn ein. »Okay, okay …« Frau S. werde nichts passieren, wenn er die 300 000 Mark zahle. »Keine Angst. Da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.«

Diese Stimme. Immer wieder fragt Kloeßer sich, woher er die Stimme kennt, kommt aber zu keinem Ergebnis. Wie die Polizei zweifelt der frühere Pelzhändler daran, dass es sich bei der Anruferin wirklich um eine Rechtsanwältin gehandelt hat. Denn vermutlich würde sich keine Anwältin der Welt auf so plumpe Weise für ein solches Verbrechen einspannen lassen und sich dann auch noch als Anwältin zu erkennen geben.

Kloeßer betont, dass er alles tun will, damit seine Lebensgefährtin heil zurückkehrt. Wirklich alles. »Ich krieg das Geld schon zusammen, keine Sorge. Wichtig ist, dass Christa nichts passiert.«

Der Kürschnermeister hat schließlich schon einmal eine Frau verloren: seine Ehefrau Hildegard. Fünf Jahre ist das erst her. Völlig unerwartet war Hilde aus seinem Leben verschwunden. Von einem Tag auf den anderen nicht mehr auffindbar. Eine seltsame Sache. Und ebenso beunruhigend wie die merkwürdige Lösegeldforderung jetzt ist für Kloeßer, dass diese vermeintliche Rechtsanwältin davon weiß. Einige Tage vor der Entführung von Christa S. nämlich hat sie sich bereits gemeldet und ihn an den schmerzlichen Verlust erinnert »Ich vertrete Ihre Frau Hilde«, hat die Anruferin gesagt. »Die möchte jetzt endlich die Scheidung.«

Außerdem habe die angebliche Anwältin ihn gebeten, mit einer Person seines Vertrauens sprechen zu können, erzählt Kloeßer den Polizisten. Daraufhin habe er Christa genannt. Die sei mal Anwaltsgehilfin gewesen und wisse, wie man aufdringlichen Leuten den Marsch blase. Aber wahrscheinlich sei das ein Fehler gewesen. Ein großer Fehler.

Am Vorabend der Entführung habe die merkwürdige Rechtsanwältin noch einmal angerufen und mit Christa S. gesprochen. »Der Pass von Frau Kloeßer ist abgelaufen«, teilte die Anruferin mit. »Der muss dringend verlängert werden, Frau Kloeßer will ins Ausland reisen.« Als Christa S. nach einem Lebenszeichen oder einer Vollmacht der Vermissten fragte, habe die Anruferin sofort aufgehängt.

Karla Sommer horcht auf und hakt nach: »Wie war denn das damals mit Ihrer Frau? Hat die sich tatsächlich nie mehr gemeldet?«

Kloeßer schüttelt den Kopf und erzählt.

2.

Alles begann am 12. März 1986. Kurt Kloeßer war gerade mit seiner Frau Hildegard von einer gemeinsamen Urlaubsreise aus Fuerteventura zurückgekehrt, da geschah das Unbegreifliche: Als der Pelzhändler am Abend nach Hause kam, war seine Frau verschwunden. Auch Dackel Donald war nicht mehr da. Auf dem Esszimmertisch fand der Kürschnermeister eine Art Abschiedsbrief – eine knappe Nachricht in der Schrift Hildegards:

 

»Hab Arbeiten satt

ich will nicht mehr Arbeiten

Vill nur noch Leben. im Urlaub ist mir klar geworden.«

Auf der Rückseite stand:

»Brief Folkt.«

Kloeßer verstand die Welt nicht mehr. Bisher hatte seine Frau nie Andeutungen in dieser Richtung gemacht. Sie schien sich wohl zu fühlen an der Seite ihres Mannes, dessen Pelzhandel dem Ehepaar ein sorgenfreies Leben bescherte – zumindest in materieller Hinsicht. Natürlich hatte es immer wieder mal Streit gegeben. Aber wo gab es das nicht? Das war doch normal. Kein Grund jedenfalls, so Knall auf Fall das Weite zu suchen. Nach 32 Ehejahren!

Und dann dieser Brief. Eigentlich war es gar nicht Hildes Art zu schreiben. Sonst rief sie immer an, wenn sie unterwegs war.

Aber zwei Tage später kam ein weiterer Brief in Hildes Handschrift. Das Schreiben hatte die gleiche Stoßrichtung wie das erste, war nur noch viel ausführlicher.

»Lieber Kurti

Ich habe dich jahrelang gebeten, das Geschäft aufzugeben oder zu verkaufen. Aber du suchst immer neue ausreden um bei deinen Pelzen zu bleiben. Das wurde mir jetzt im Urlaub erst richtig klar. Nur 14 Tage im warmen, das ist mir zu wenig … Ich will und kann nicht mehr arbeiten […]. Ich gebe dir noch eine möglichkeit benehme dich wie ein Mann, laufe nicht gleich zur Polizei, denn die kennt meine neue Adresse nicht. Bitte bleibe ganz ruhig und denke darüber nach […]. Verhalte Dich ruhig, dan könnte es sein das meine Sachen mit mir plötzlich wieder im Hause sind …«

Eindringlich wurde Kloeßer in diesem in Hamburg abgestempelten Brief vor allem ermahnt, sich keinesfalls an die Presse zu wenden oder etwa Detektive einzuschalten.

Am selben Tag ging auch bei der Hamburger Polizei ein Brief in der Schrift Hildegard Kloeßers ein. »Ich bin keine Vermisste«, stand darin. Es mache daher keinerlei Sinn, nach ihr zu suchen.

Einen Brief mit ähnlichem Inhalt bekam auch Hildes Schwester. Sie möge ihren Schwager doch bitte dazu bringen, endlich vernünftig zu werden:

»Wenn Er die Polizei verrückt macht bitte beruhige ihn.«

Auch Kurt Kloeßer erhielt wieder Post von seiner Frau.

»Wenn Du mein Verschwinden weiter überall erzählst, komme Ich gar nicht mehr nach Hause. (Das ist unsere Sache) …«

Kloeßer war wie vor den Kopf geschlagen – zumal auch Kleidungs- und Schmuckstücke seiner Frau verschwunden waren. Außerdem – und das gab schon sehr zu denken – fehlten zwanzigtausend Mark. Das Geld war hinter einem Spiegelschrank im Badezimmer versteckt gewesen. Jemand hatte den Spiegelschrank regelrecht aus der Wand gerissen, um an das Geld zu kommen. Unvorstellbar, dass Hilde das gemacht haben könnte. Völlig undenkbar!

Rätselhaft war auch, warum seine Frau ihre Pelzmäntel mitgenommen haben sollte, obwohl sie, wie sie schrieb, ein neues Leben im sonnigen Süden beginnen wollte. Zur Bestätigung schickte sie Ende Mai 1986 ihrem Mann und ihrer Schwester Urlaubsgrüße von der Insel Teneriffa – aufgegeben an ihrem Geburtstag:

»Es geht mir gut. Mach Dir keine sorgen.

[…] Kann endlich wieder lachen.

Viele Grüße von Donald und Hilde.«

Oft hatte Kloeßer gemeint, alles sei nur ein böser Traum. Aber es war Realität. Ein nicht enden wollender Alptraum. Mochten seine Angehörigen noch so besänftigend auf ihn einreden, er kam einfach nicht zur Ruhe. Monatelang suchte der Pelzhändler nach seiner Frau – zuerst in Hamburg, dann gemeinsam mit seinem Dekorateur auch auf Teneriffa. Es war alles vergebens.

Am 8. September ging er schließlich verzagt zur Polizei und erstattete Vermisstenanzeige, doch besonders ernst genommen fühlte er sich nicht. Die Beamten versicherten ihm zwar routinemäßig ihr Mitgefühl, als er aber von den Briefen seiner Frau erzählte, schüttelten sie den Kopf und rollten vielsagend mit den Augen. Gerade so, als hielten sie ihn für einen der vielen vertrottelten Ehemänner, die nicht begreifen können, dass ihre Frauen genug von ihnen haben und alles auf eine neue Karte setzen wollen. Zusätzliche Sorgen machte ihm, dass seine Schwägerin einen Abwesenheitspfleger für ihre vermisste Schwester einsetzen ließ, um deren Vermögen zu sichern. Unter anderem ein Mehrfamilienhaus, das er seiner Frau überschrieben hatte. Für die Kosten des Abwesenheitspflegers hatte Kloeßer aufzukommen.

Zu allem Überfluss wandten sich nach und nach auch noch viele Berufskollegen von ihm ab. Es ging das Gerücht, er habe seine Frau selbst irgendwie beiseite geschafft. Verzweifelt mühte er sich, das Gerede zu entkräften. Aber er kam nicht dagegen an, und so wurde es immer einsamer um den einstigen Innungsvorsitzenden. Kloeßer verlor allen Lebensmut, gab sein Pelzgeschäft auf, wurde herzkrank und musste sich im Krankenhaus behandeln lassen.

Dort lernte er Christa S. kennen. Die Krankenhausangestellte kam gerade darauf zu, als er auf dem Flur eine neue Herzattacke erlitt. Und sie half ihm auch dabei, über den Verlust seiner Frau hinwegzukommen. Schließlich wurden die beiden ein Paar.

3.

Und nun ist auch Christa verschwunden.

Kloeßer sitzt zusammengesunken in seinem Sessel und grübelt weiter über den merkwürdigen Anruf nach. »Mein Gott, diese Stimme. Woher kenn ich bloß die Stimme?«

Die Polizistin schenkt ihrem Gegenüber eine Tasse Tee ein. »Darüber sollten Sie sich jetzt nicht mehr das Gehirn zermartern, dafür ist es zu spät. Das wird Ihnen bestimmt noch einfallen.«

Die Chancen dafür stehen nicht schlecht. Denn das Telefongespräch ist von der Polizei aufgezeichnet worden. Schon am nächsten Tag wird die Aufnahme einem Stimmensachverständigen des Bundeskriminalamts zugeleitet. Der Befund: Frauenstimme, ca. fünfzig Jahre, vermutlich Raucherin.

Karla Sommer und ihre Kollegen legen dem Kürschnermeister ein Foto nach dem anderen vor – alles Frauen aus dem näheren oder entfernten Umfeld Kloeßers, Raucherinnen, auch Nichtraucherinnen und zum Teil deutlich jünger oder älter als fünfzig. Aber Kloeßer schüttelt immer nur den Kopf.

Unterdessen hat der Geschäftsmann die geforderte Lösegeldsumme bei der Bank bereitstellen lassen. Unklar aber ist immer noch, wie das Geld übergeben werden soll. Die ominöse Rechtsanwältin hat angekündigt, sich wieder zu melden. Doch der erhoffte Anruf bleibt aus – zumindest im Hause Kloeßer. Mehrmals dagegen hat sich die vermeintliche Anwältin beim Sohn der Entführten gemeldet. Dabei war schon mal die Rede davon, dass das Lösegeld auf dem Friedhof Ohlsdorf übergeben werden sollte, nähere Modalitäten sind aber noch nicht erörtert worden.

Karla Sommer müht sich bei ihren Einsätzen in Poppenbüttel, dem besorgten Ehemann zur Seite zu stehen. Sie kauft für Kloeßer ein, versorgt ihn nicht nur mit Lebensmitteln, sondern wie gewünscht auch mit einer Flasche Oldesloer Korn. Sie macht ihm Essen, wischt Staub, räumt auf, hält ihn auf dem Laufenden über die Arbeit der Kollegen. Das zermürbende Warten belastet auch sie. Zur Ablenkung bietet Kloeßer ihr an, einige von den Pelzen anzuprobieren, die er noch in seinem Lager hat: Westen, Stolen, Mäntel. Karla Sommer erinnert sich:

»Und dann haben wir eine kleine Modenschau veranstaltet. Die Sachen standen mir wirklich gut. Er wollte sie mir schenken. Aber das habe ich natürlich abgelehnt. Klar, das geht ja nicht.«

In der übrigen Zeit läuft oft der Fernseher – ein nagelneues Gerät mit Videotext. Karla Sommer und ihr Kollege halten sich während ihrer Vierundzwanzig-Stunden-Schichten mit Kaffee wach. Schlafen ist während der Betreuungsschichten nicht vorgesehen. Allenfalls ein bisschen dösen – im Sessel oder auf der Couch. Besonders lang werden die Nächte. Wenn der Hausherr im Bett liegt und nichts, absolut nichts passiert. Jedes Geräusch lässt die Polizeibeamten während dieser stillen Stunden zusammenzucken – sei es auch nur das Rascheln der Zeitung, die sich der Kollege auf einem Sessel unter die Füße gelegt hat, um sich ein bisschen auszustrecken.

Schließlich kommt es zu einer überraschenden Wende. Zuerst erschrickt Karla Sommer, als am Freitagabend, eine Woche nach der Entführung, der Leiter der Verhandlungsgruppe bei ihr anruft und von einer »dramatischen Entwicklung« spricht. Dann aber atmet sie auf: Die Entführte ist vor der Polizeiwache in Hamburg-Langenhorn auf freien Fuß gesetzt worden. Sie hat sich an der Wache gemeldet und ist wohlauf.

Später am Abend – es ist schon kurz vor Mitternacht – erhält die Polizeibeamtin einen zweiten Anruf von ihrem Dienstvorgesetzten. Sie wird gebeten, ins Polizeipräsidium zu kommen. Christa S. soll von dem Hamburger Gerichtsmediziner Professor Klaus Püschel im Beisein Karla Sommers eingehend untersucht werden.

Wie geplant findet die Untersuchung auch in der Nacht vom 13. auf den 14. September statt. Der Befund ist negativ. Hinweise auf sexuelle Übergriffe und körperliche Misshandlungen finden sich bei der korpulenten Frau nicht. Dies deckt sich mit dem, was die Freigelassene zuvor selbst gesagt hat: »Er hat mich nicht angerührt, jedenfalls nicht sexuell. Das können Sie mir ruhig glauben …«

Doch die Vernehmungsbeamten zeigten sich skeptisch. Was Christa S. über ihre Entführung erzählte, fanden sie ziemlich wirr und unglaubwürdig. Als sie gleich nach der Freilassung tränenüberströmt und mit zerzausten Haaren in die Polizeiwache von Hamburg-Langenhorn gestürmt war, glaubten die Polizeibeamten, sie sei der psychiatrischen Klinik in Ochsenzoll entlaufen. Kein Wunder: Seit einer Woche schon trug sie gezwungenermaßen die gleiche Kleidung und roch auch entsprechend.

Im Verlauf der späteren Vernehmungen wurde es für die Freigelassene noch schlimmer. Sie wurde von den Kriminalbeamten in die Mangel genommen, als habe sie alles nur vorgetäuscht, gemeinsame Sache mit ihrem Entführer gemacht. Man glaubte ihr einfach nicht. Ob sie einsam sei, etwas erleben wollte, wurde sie gefragt.

Christa S, machte es wütend, nach der schlimmen Zeit im Keller so behandelt zu werden. Sie beschimpfte weinend die Polizisten, die es ihr noch nicht einmal gestatten wollten, mit ihrem Lebensgefährten zu telefonieren.

Entsprechend fiel dann auch das Fazit der Vernehmungsbeamten aus: »Die spinnt, die Dame.«

Sehr viel differenzierter fasst einige Jahre später der Gerichtsmediziner Klaus Püschel seinen Eindruck zusammen. »Christa S. war in ihrer psychischen Verfassung sehr wechselhaft«, schreibt Püschel in seinem Beitrag für den Sammelband Die unglaublichsten Fälle der Rechtsmedizin. »Sie weinte hin und wieder und erschien müde, abgespannt und erschöpft; dann wieder war sie ruhig, wirkte voll konzentriert und machte klare Angaben.«

Gegen drei Uhr in der Nacht wird Karla Sommer schließlich gebeten, Christa S. nach Hause zu fahren. Während der dreißigminütigen Autofahrt berichtet ihr die energische Frau noch einmal von den Ereignissen der zurückliegenden Woche. Das alles klingt nach wie vor ziemlich verrückt. Sommer versteht, dass ihre Kollegen mit Skepsis reagierten. Aber sie lässt sich nichts anmerken und hört aufmerksam zu.

4.

Sie sei vor Schreck fast gestorben, als dieser Kerl an jenem Freitagmorgen plötzlich in der Garage ihre Autotür aufgerissen habe, erzählt Christa S. Sie habe das Auto gerade rückwärts herausfahren wollen. Auf einmal habe er neben ihr gestanden und ihr eine Art Pistole an die Rippen gedrückt (wie sich später herausstellte, handelte es sich um ein Elektroschockgerät). Er habe ihr eine verklebte Sonnenbrille aufgesetzt und sie gezwungen, auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen. »Rutsch rüber, ich brauch dein Auto«, habe der Kerl gezischt. »Na los! Mach schon.«

Dann sei er mit ihr durch die Stadt gefahren – mit vorgehaltener Waffe. Wahrscheinlich nicht allzu weit, aber ihr sei die Fahrt endlos vorgekommen. Schließlich habe er irgendwo geparkt, sie zu einem Hauseingang gedrängt und irgendwelche Kellerstufen hinuntergeführt. Am Ende habe er sie gezwungen, durch eine enge Luke in einen winzigen Raum zu steigen – ein fensterloses Kabuff mit gelbem Licht. Hier habe er sie dann mit Handschellen an das Metallgestänge eines Feldbetts gefesselt und versprochen, dass sie wieder freikomme, wenn sie alles tue, was er von ihr verlange. Unter anderem habe sie bei ihren Kollegen in der Krankenhausverwaltung anrufen müssen, um sich krank zu melden. In einem weiteren Telefonat habe sie ihrem Sohn von der Entführung und der Lösegeldforderung berichten können. Später habe der Typ sie auch aufgefordert, Briefe zu schreiben – an Kloeßer und ihren Sohn. Immer mit vorgegebenem Text. Dass es ihr gut gehe und so weiter. Auch Kassetten habe sie besprechen müssen. Zwischendurch sei ihr »Bewacher« weggegangen, habe aber immer Lebensmittel und Getränke für sie zurückgelassen. Am zweiten Tag der Entführung habe er ihr nach der schrecklichen Nacht morgens sogar Brötchen und Kaffee gebracht und Mineralwasser dagelassen. »Ich bin ein guter Entführer«, habe er gesagt. »Ich helfe dir hier raus. Ich bin ein guter Entführer, glaub mir.«

 

Immer hin und her sei das gegangen. Mal sei er böse, dann wieder ganz nett gewesen. Einmal habe er ihr erzählt, dass er gern tauche und in Südamerika nach Schätzen suche, ein anderes Mal habe er ihr schreckliche Fotos gezeigt: Polaroidaufnahmen von einer fast nackten Frau, die mit gefesselten Händen am Haken hing, zum Beispiel. Sadistische Pornobilder. »Ich bin immer auf ihn eingegangen, ich wollte ihn ja auf keinen Fall reizen«, berichtet Christa S. Trotzdem habe sie sich aber auch nicht alles gefallen lassen. »Ich habe möglichst nur frisches Obst gegessen, vor allem Äpfel. Dass er mir nichts untermischen konnte. Und ich habe nur aus Flaschen getrunken, die noch ungeöffnet waren.« Der Entführer habe sich ihrem Willen gefügt. Er habe ihr sogar täglich neue Slipeinlagen beschafft.

»Und woher?«

»Von der Dame des Hauses.«

Gleichwohl habe er sie weiter gefangen gehalten in diesem fensterlosen Raum und immer wieder gefesselt. Die Nummern der Handschellen habe sie sich heimlich auf ihrem Mieder notiert – auch die Marke: »Smith & Wesson«.

»Wie ging das denn? Wie sind Sie denn an einen Stift gekommen?«

»Ich hatte einen Kugelschreiber – für die Kreuzworträtsel, die er mir gebracht hat.«

Ja, ein merkwürdiger Typ sei das gewesen. Einerseits ganz nett und fürsorglich, und dann wieder so grausam. Mit diesen Handschellen und den fürchterlichen Fotos. Seine Frau lebe in Spanien und arbeite für die Mafia, habe er ihr erzählt. »Lauter so verrückte Sachen.« Lang und breit habe ihr »Bewacher« ihr auch erklärt, dass er an die Macht der Sterne glaube und sich mit Astrologie beschäftige. Das habe sie schon ziemlich komisch gefunden, kurze Zeit später dann aber wieder Tränen in den Augen gehabt. Denn diese Gefangenschaft sei natürlich alles andere als lustig gewesen. Völlig ausgeliefert habe sie sich gefühlt, immer in der Angst, dass sie nicht lebend aus diesem Verlies herauskomme.

»Aber ich habe mir die Angst möglichst nicht anmerken lassen. Das hat ihm ja gerade Auftrieb gegeben – zu sehen, wie ich zittere und wimmere. Das hat ihn richtig geil gemacht. Ich hab’ es seinen Augen angesehen. Der hat sich an meiner Angst regelrecht geweidet. Ich habe darum gegen meine Angst angeredet, hab’ ihn vollgequatscht, das Gespräch auf andere Themen gelenkt. Und das hat scheinbar gewirkt. Ja, das hat ihn irgendwie verunsichert. Er war plötzlich nicht mehr der Boss, der Überlegene, der alles bestimmen konnte, und ich nicht mehr das wehrlose Opfer. Objektiv betrachtet natürlich schon, aber eben nicht in seiner Vorstellung. Ich habe mich förmlich aufgebäumt gegen meine Opferrolle. Das hat ihn total aus dem Konzept gebracht – und mir vielleicht das Leben gerettet.« Am Ende hätten ihr vielleicht auch die Sterne ein bisschen geholfen, erzählt die Frau.

»Die Sterne?«

»Na ja, er hat sich doch dauernd mit seinem Astrologen beraten, und der hat ihm wohl am Ende gesagt, dass die Sterne für ihn nicht so gut stehen. Dass es Probleme geben könnte.« Karla Sommer hört aufmerksam zu und fragt behutsam nach, wenn ihr etwas allzu abwegig, wirr oder widersprüchlich erscheint. Obwohl sie bis zuletzt skeptisch bleibt, beschließt sie, für die Kollegen ein Gedächtnisprotokoll anzufertigen. Vielleicht ist ja doch was dran.

Sie fährt Christa S. zu ihrem Haus in Hamburg-Langenhorn, wo ihr Sohn schon auf sie wartet. Den Rest der Nacht wird Karla Sommer im Hause Kloeßers in Poppenbüttel verbringen. »Kommen Sie doch morgen mit Herrn Kloeßer zu mir zum Frühstück«, sagt Christa S. zum Abschied. Karla Sommer bedankt sich für die Einladung, lehnt aber höflich ab.

Als Kloeßer am nächsten Tag von seiner Lebensgefährtin erfährt, dass ihr Entführer einen Bunker besitzt und gern taucht, wird er hellhörig. »Interessant, ich kannte einen, der hat sich vor einigen Jahren auch einen Atombunker bauen lassen. Bei der Einweihung war sogar unser damaliger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi, sogar das Fernsehen war damals da. Und getaucht hat der Kerl auch. Seifert heißt der: Lutz Seifert. Der war Geselle bei mir. Später hatte ich ihn in der Meisterprüfung. 1972 muss das gewesen sein. Ich habe ihn beim Schummeln erwischt. Der hat versucht, uns ein Prüfungsstück unterzumogeln, das schon vor der Prüfung fertig war. Der war natürlich sauer, dass ich ihm auf die Schliche gekommen bin.«

Er sei bei der Kürschnerinnung Mitglied der Prüfungskommission gewesen und habe in deutlichen Worten Zweifel an der Qualifikation seines Gesellen geäußert, erinnert sich Kloeßer. »So ein Mensch kann doch keine jungen Leute ausbilden«, habe er gesagt. »Unmöglich. Was wäre das für ein Vorbild?!«

Reichlich unsauber und faul sei dieser Seifert gewesen. Außerdem habe er komische Geschichten erzählt – zum Beispiel von einem Folterkeller in der Heide.

Karla Sommer macht sofort den Vorschlag, im Telefonbuch nach dem Mann zu suchen. Mit Erfolg: Kloeßer findet den Namen und die Adresse seines früheren Angestellten. Seifert lebt am Dompfaffenweg in Hamburg-Rahlstedt – ist mittlerweile mit einer Steuerberaterin verheiratet und Vater einer zwölfjährigen Tochter.

Die Kollegen sind ihm schon auf den Fersen. Sie haben unter anderem herausgefunden, dass der letzte Anruf von einer Telefonzelle in Basedow kam – einem Dorf im Herzogtum Lauenburg, wo Seifert ein Wochenendhaus besitzt.