Kitabı oku: «Richtig leben, länger leben», sayfa 2
Das war der eigentliche Anfang meiner klinischen Laufbahn, in deren weiterer Folge ich mich auf die Onkologie und Hämatologie sowie Krebsforschung spezialisierte. Seitdem habe ich viele Patienten wie Maria Alwara und Robert Thuch mit Krebs und anderen schweren Erkrankungen begleiten, behandeln und unterstützen können. Ich habe erfahren, wie unterschiedlich Patienten mit der Diagnose Krebs und den damit verbundenen Belastungen umgehen, wie sie um die Wiedererlangung ihrer Gesundheit kämpfen und wie sie daraus geheilt hervorgehen, mit der Erkrankung als chronischer Begleiterin leben, oder den Kampf verlieren und an ihrer Krankheit versterben.
Auf meiner Empfehlungsliste für Patienten standen anfangs vier Dinge, bei denen ich dafür sorgte, dass sie der besseren Merkbarkeit wegen alle wie »Lieben« mit einem »L« anfingen. Dass sie alle auch noch genau gleich viele Buchstaben hatten, war indes Zufall.
Lieben
Lachen
Lernen
Laufen
Die Liste kam schon aufgrund ihres Sprachrhythmus gut an, verkürzte aber die dahinter stehenden Empfehlungen deutlich. Mit »Lieben« meine ich wie gesagt das gesamte Thema der sozialen Integration und die Leidenschaft für eine Aufgabe. Mit »Lachen« meine ich das Feld des Humors, der positiven Lebenseinstellung und der Zufriedenheit. Mit »Lernen« meine ich das bewusste Benutzen und Trainieren unserer kognitiven Fähigkeiten. Und mit »Laufen« körperliche Aktivität insgesamt.
Schließlich kam zu meinen vier L-Begriffen noch ein fünfter hinzu, von dem ich lange angenommen hatte, dass er ohnedies bereits ausreichend in den Köpfen der meisten Menschen verankert ist. Bis ich feststellte, dass es dabei besonders viele Missverständnisse gibt. Es geht um unsere Ernährungsgewohnheiten, und ich musste mich diesmal schon ein wenig anstrengen, um auch diesen Punkt in einen L-Begriff zu kleiden. Er heißt jetzt
Leichter essen.
Lieben, lachen, lernen, laufen und leichter essen also. Das sind die fünf Dinge, die wir tun können, um gesund zu bleiben. Sie sind fundamental menschlich, sie durchdringen unser gesamtes Leben und betreffen sowohl unsere körperliche als auch unsere geistige Gesundheit, wie ich in den folgenden Kapiteln zeigen werde.
Ich schreibe diese Kapitel dabei nicht etwa in der Absicht, einen Ratgeber zu schaffen, der jedem, der ihm blind folgt, ein gesundes Leben garantiert. Das geht schon deshalb nicht, weil unser Handlungsspielraum beim Versuch, gesund zu bleiben, wie gesagt begrenzt ist. Außerdem glaube ich, dass der Erfolg solcher Ratgeber ganz wesentlich von ihren Lesern abhängt, von deren Fähigkeit, die jeweiligen Empfehlungen tatsächlich in ihr tägliches Leben zu integrieren.
Ich habe mir selbst einmal einen solchen Ratgeber gekauft. »Don’t say yes, if you want to say no« hieß er. (Sag nicht Ja, wenn du Nein sagen willst). Er war für Menschen wie mich gedacht, die Probleme damit haben, anderen einen Gefallen abzuschlagen. Zum Beispiel fällt es mir sehr schwer, eine Einladung zu einem Vortrag, die ich einmal angenommen habe, wieder abzusagen, selbst wenn etwas Wichtiges dazwischen gekommen ist.
Ich musste mit der Zeit lernen, meinen Eigennutz in Entscheidungen miteinzubeziehen, anstatt nur die Wünsche anderer zu erfüllen. Ich weiß nicht so recht, ob mir das inzwischen wirklich gelingt, und wenn ja, welche Rolle dieser Ratgeber dabei gespielt hat. Ich würde sagen, dass er mir immerhin die Probleme und entsprechende Lösungsmöglichkeiten bewusster gemacht hat.
Sollte es mir mit diesem Buch ebenso gelingen, die Probleme und Lösungsmöglichkeiten in Sachen Gesundheit bewusster zu machen, bin ich für den Anfang schon zufrieden. Denn im Grunde stellen die fünf Dinge, die wir tun können, um gesund zu bleiben, einen Plan für ein erfülltes Leben dar. Einen Plan, den wir zum Teil vielleicht schon im Hinterkopf haben, und von dessen Umsetzung uns allzu oft unsere Gewohnheiten, unser gedankenloses Mitschwimmen mit dem Mainstream gesellschaftlicher Entwicklungen oder schlicht die uns inhärente Trägheit abhalten. Ein Plan aber auch, dem nur ein kleines Stückchen zu folgen, jedem von uns nur gut tun kann.
LIEBEN
Wer das kleine Dorf Roseto im US-Bundesstaat Pennsylvania ohne Kenntnis von dessen Geschichte besuchen würde, könnte vermutlich nicht verstehen, wie es, zumindest in den USA, jemals so bekannt werden konnte. Es erstreckt sich über gerade einmal 140 Hektar, hat rund 1.600 Einwohner, eine Polizeistation sowie eine kleine Kirche und besteht ansonsten vorwiegend aus bescheidenen Einfamilienhäusern.
Auch die Geschichte des Dorfes offenbart auf den ersten Blick noch nichts für amerikanische Verhältnisse Ungewöhnliches. Die Vorfahren der jetzigen Dorfbewohner flüchteten 1882 vor der Armut im süditalienischen Apulien in die USA. Eine ganze Dorfgemeinschaft trat gemeinsam die weite Reise an und fand, was sie gesucht hatte. In ihrer neuen, rund 120 Kilometer westlich von New York City gelegenen Heimat gab es mehr Möglichkeiten, den eigenen Unterhalt zu verdienen. Die Bewohner von Roseto konnten in den nahegelegenen Schieferbrüchen arbeiten und sich so Stück für Stück gemeinsam eine neue Zukunft aufbauen.
Bekannt wurden die Rosetaner unter anderem aus kulinarischen Gründen. Aus ihrer alten Heimat am Absatz des italienischen Stiefels hatten sie ihr traditionelles Lieblingsgericht mitgebracht. Es heißt »Scarpetti« und ist ausgesprochen deftig. Scarpetti sind in Schweineschmalz gebratene grüne Paprikaschoten, gereicht mit Brot und einer üppigen Schweineschmalzsauce. Ein Rezept, das in der von Armut geprägten Vergangenheit der Italiener ernährungswissenschaftlich betrachtet einer gewissen Logik folgte. Die Zutaten waren billig und lieferten viele Kalorien.
In den USA, wo sie sich jede Menge davon leisten konnten, fielen die Rosetaner mit ihren regelmäßigen üppigen Schlemmermahlzeiten auf, bei denen die Scarpetti weiterhin eine Hauptrolle spielten. Ich habe das Gericht selbst nie probiert, aber es erscheint mir nachvollziehbar, dass sie dabei weniger in den Fokus von Gourmets gerieten, als vielmehr in den der Sozialmedizin in Person des Wissenschaftlers John G. Bruhn.
Schon im Jahr 1961, als gesunde Ernährung noch längst kein so großes Thema wie heute war, stellten die Rosetaner den Mann vor ein Rätsel. Wie konnte es sein, dass sie dermaßen fettig aßen, dabei täglich eine alarmierend hohe Dosis Cholesterin zu sich nahmen und sich trotzdem bester Gesundheit erfreuten?
Die Anzahl an arteriosklerotischen Herzerkrankungen lag in der Gemeinde nur bei einem Drittel des amerikanischen Durchschnittes. Noch nie hatte ein Rosetaner unter 47 Jahren einen Herzinfarkt erlitten. Was unterschied die Rosetaner von den Bewohnern der umliegenden Dörfer?
Bruhn ging dieser Frage mit einem Forscherteam der Universität von Texas nach und entdeckte – nichts. Roseto unterschied sich tatsächlich in gar nichts wesentlich von den anderen Dörfern der Region. Sie lagen alle in der gleichen Landschaft, ihre Bewohner tranken alle das gleiche Wasser, verfügten über ein ähnliches Einkommensniveau und nutzten die gleiche Infrastruktur.
Die amerikanischen Gesundheitsbehörden wollten es dabei aber nicht bewenden lassen. Sie verlangten vom Untersuchungsteam eine tiefergehende Analyse. Immerhin war die Frage, warum ausgerechnet die Bewohner dieses Dorfes gesünder waren und länger lebten als Menschen, die im Umkreis zuhause waren, von beträchtlicher gesundheitspolitischer Relevanz.
Nach zahllosen Vergleichen, Untersuchungen und Befragungen konnten die Forscher schließlich ein Ergebnis vorlegen, das einigermaßen überraschend war. Die Rosetaner verdankten ihre Gesundheit ihrem engen sozialen Netz2.
Niemand war in Roseto je alleine. Wenn jemand im Dorf ein Problem hatte, lösten es die Bewohner gemeinsam. Die Rosetaner lebten einfach ihre traditionelle Familienkultur aus Süditalien in den USA weiter. Sie sorgten für die Alten, bauten gemeinsam Häuser für die Jungen und schlichteten jeden Streit nach Möglichkeit im Sinne der Gemeinschaft.
Einen sozialen Konkurrenzkampf, wie er für uns selbstverständlich geworden ist, gab es in Roseto kaum. Wenn ein Rosetaner mehr verdiente als die anderen, musste er das nicht zur Schau stellen, um sich besser zu fühlen. Eher half er der Dorfgemeinschaft aus, wo er konnte.
Die 1600-Seelen Gemeinde war also nicht gesünder als ihre Nachbarn, weil sie über einen gegen Cholesterin wirkenden Zaubertrank verfügte, sondern weil dort alle zusammenhielten. Die gesamte Familie hat unter einem Dach gewohnt. Alle hatten einen festen Platz in der Gemeinschaft. Sie waren geborgen, aufgefangen in der Familie. Sie haben gemeinsam gescherzt und gelacht. Das ist ein hoher Wert, der in unserer modernen Gesellschaft weitgehend verloren gegangen ist. Das Besondere an Roseto war tatsächlich diese besondere Gesellschaftsstruktur, die nur in diesem Ort in dieser Form existierte.
So lautete der Befund der Forscher in den 1960er-Jahren. Laut damaliger wissenschaftlicher Erkenntnislage war das die Ursache des sogenannten »Roseto-Effektes«.
Rund dreißig Jahre später bestätigte sich diese Einschätzung, wenn auch auf eher traurige Weise. 1992 veröffentlichte das American Journal of Public Health einen neuen Bericht über diesen Effekt3. Die Rosetaner hatten sich zu diesem Zeitpunkt angepasst. Sie hatten sich amerikanisiert. Ihre traditionelle süditalienische Familien- und Dorfkultur war zerfallen.
»Bei meinen ersten Besuchen habe ich nie ein Essen gesehen, bei dem nicht alle gewartet hätten, bis auch das letzte Familienmitglied am Tisch saß«, sagte der Sozialmediziner Bruhn. »Es war damals, als hätten die Leute jeden Tag etwas zu feiern. Davon ist nichts mehr zu sehen.«
Der Unterschied zwischen arm und reich war nun auch hier klar sichtbar. Roseto war eine typisch amerikanische Community geworden. Die Rosetaner achteten mehr auf sich und kümmerten sich weniger um ihre Familienmitglieder, Freunde und Nachbarn. Nur eine Generation lag zwischen der ersten und der zweiten Studie. Laut letzterer erreichte die Häufigkeit der Herzerkrankungen in Roseto das nationale Durchschnittsniveau.
Der Fall Roseto belegt eindrucksvoll, dass es einen Zusammenhang zwischen der sozialen Integration eines Individuums, sei es nun auf familiärer, freundschaftlicher oder kommunaler Ebene, und seiner Gesundheit und Lebenserwartung gibt. Das mag nach geheimnisvoller Esoterik klingen, doch dahinter verbirgt sich eine einfache und wissenschaftlich beweisbare Logik: Liebe im Sinne gesellschaftlicher Geborgenheit fördert die Gesundheit.
Bei allen Dingen, die ich hier unter dem L-Begriff »Lieben« zusammenfasse, geht es im Wesentlichen um etwas, für das die deutsche Sprache kein einzelnes Wort hat, das alle Aspekte abdeckt: Einerseits ist da der Aspekt der tiefen Ruhe, des Urvertrauens, der emotionalen Erdung, Zufriedenheit, Wohlbefinden, Stabilität und Harmonie gleichsam als Basis.
Andererseits umfasst die Liebe aber auch den Aspekt der Bewegung, Schwung ins Leben bringen, Faszination, Begeisterung, etwas, das uns emotional mitreißt, uns gefangen nimmt, in den Flow bringt.
Dann gibt es jenen Aspekt der Liebe, welcher mit den Begriffen Erfüllung und Sinnfindung beschrieben werden kann, der uns auf eine andere Bewusstseinsebene hebt, gleichsam schweben lässt.
Und zu guter Letzt gibt es auch jenen Aspekt des Liebens, der in einer Verbindung zu einem Gegenüber besteht, sei es ein anderer Mensch, ein Tier oder auch nur ein Hobby. Dieses Gegenüber lässt uns strahlen, unser Bestes geben, erfüllt uns mit Stolz, vermittelt Selbstbestätigung, ein Bild von dem, wer wir im Verhältnis zur Welt sind und sein möchten, weil wir in unserer Bestform in einen Austausch treten, nicht nur nehmen, sondern auch geben können, was uns Respekt und Anerkennung einbringt.
Dieser Aspekt von Liebe umfasst auch die innigste zwischenmenschliche Affektion, Leidenschaft für und Neugier auf einander, sich hingezogen fühlen zu einer Person, deren Nähe beinahe automatisch eine Stimmungsaufhellung und ein Aufblühen bewirkt, vom Miteinander-Pferde-stehlen-können bis hin zur sexuellen Stimulation, ein Gefühl von Zugehörigkeit, getragen von besonderer Wertschätzung, Geborgenheit und tiefem Verständnis. Dieser Aspekt gehört zu den schönsten Lebenserfahrungen, umso wertvoller, als solche Liebe nicht allen Menschen zuteil wird.
All diese Aspekte spielen zusammen wie die Saiten eines Instruments, versetzen unsere Emotionen in positive Schwingungen, womit wir heraustreten aus einer emotionalen Neutralität und Liebe ausstrahlen können.
Je mehr uns von diesen Aspekten im Leben fehlt, desto anfälliger sind wir für Stress und für ungesunde Verhaltensweisen, mit denen wir die fehlende Liebe kompensieren. Insbesondere übermäßige Nahrungsaufnahme wird hier leicht zum Problem, denn wir sind es von klein auf gewohnt, uns mit Essen ein kurzfristiges Wohlbefinden zu erkaufen. Statt von Luft und Liebe zu leben, greifen wir zu Schokolade und Kuchen. Wenn dann noch Stress dazukommt, ist die gesundheitlich negative Entwicklung vorprogrammiert. Stresshormone erhöhen die Ausschüttung von Insulin. Insulin transportiert Zucker in die Zellen, wo er entweder in Energie umgewandelt oder gespeichert wird. Wenn wir die Energie nicht für etwas brauchen, wofür wir lichterloh brennen, drohen Übergewicht, wodurch wir uns tendenziell noch weniger liebenswert fühlen, noch mehr Kuchen, Durchblutungsstörungen und in weiterer Folge Diabetes.
Die Liebe in all ihren Facetten kann hingegen eine gesundheitlich positive Entwicklung antreiben, indem sie Stress reduziert, unseren Blutdruck senkt und mehr Energie verbraucht, ohne dass wir gleichzeitig dazu getrieben werden, mit Nahrung mehr als nur unseren Hunger zu stillen. Darin besteht die Macht der Liebe über unseren Körper.
Wir haben einigermaßen verstanden, dass das Rauchen, unser Essverhalten sowie das Ausmaß unserer körperlichen Aktivität Einfluss auf unsere Gesundheit haben. Doch trotz der eben beschriebenen leicht verständlichen Zusammenhänge denken wir viel zu wenig daran, dass auch die Qualität unserer Liebesbeziehungen, unserer familiären Verhältnisse, unserer Freundschaften und unseres Gefühls von Sicherheit und Geborgenheit in unserer Gesellschaft auf unsere Gesundheit wirkt.
Dabei wird das Bild, das sich den Forschern in diesem Bereich zeigt, von Jahr zu Jahr deutlicher. Dem Zusammenhang zwischen sozialer Isolation und kardiovaskulären, also das Herz und das Gefäßsystem betreffenden Erkrankungen, gingen Forscher unter anderem in der Studie »Social Isolation and Stress-related Cardiovascular, Lipid, and Cortisol Responses« nach4.
Sie stellten fest, dass sozial isolierte Männer und Frauen auf eine Therapie zur Senkung des Blutdruckes schlechter ansprechen. Gleichzeitig belegten sie, dass sich soziale Isolation bei Männern ungünstig auf ihren Cholesterin-Spiegel auswirkt und zu höheren Werten führt.
Ein australisch-amerikanisches Wissenschaftlerteam zeigte mit Hirnscannern, dass wir bei der Abweisung durch andere sozialen Schmerz fühlen5. Bei dieser Art von Schmerz reagiert genau die gleiche Region der Großhirnrinde wie bei körperlichem Schmerz. Zudem zeigte das Team, dass soziale Isolation die kognitive Leistungsfähigkeit schwächen kann. Wenn wir uns einsam fühlen, können wir uns nicht so gut konzentrieren und suchen weniger ambitioniert und erfolgreich nach Lösungen für unsere Probleme.
Die Forscher Julianne Holt-Lunstad, Timothy B. Baker, Tyler Harris und David Stephenson wiederum belegten den Roseto-Effekt mit ihrer Studie »Loneliness and Social Isolation as Risk Factors for Mortality«6. Sie zeigten darin unter anderem, dass die Gesundheit sozial isolierter Menschen bereits gefährdet ist, bevor es zu einer erkennbaren Beeinträchtigung ihres Herz-Kreislauf- und Immunsystems gekommen ist. Laut dieser Studie sind solche Menschen schlicht anfälliger für den Konsum von Nikotin und Alkohol, sowie für Bewegungsmangel und schlechten Schlaf. Die Autoren schlussfolgerten plakativ, dass Einsamkeit genauso schädlich ist, wie 15 Zigaretten am Tag.
Die Folgen des Gefühls, ungeliebt oder gar ausgeschlossen zu sein, können weit über die mögliche Schwächung unseres Herz-Kreislauf- und unseres Immunsystems hinausgehen. Denn in dieser Situation kann unser Körper eine Art organischen Blitzableiter einrichten. Er tut das einfach deshalb, weil körperlicher Schmerz leichter zu ertragen ist als seelischer. Dann leiden wir an einer körperlichen Krankheit, die seelische Ursachen hat.
Eine tiefgreifende Kränkung zum Beispiel kann zu einer sogenannten Konversionsneurose führen, bei der ohne physische Ursachen körperliche Krankheitssymptome auftreten. Das können dann Magenbeschwerden, Herz- oder Halsschmerzen sein. Die Kränkung anzusprechen, zu sagen: »Ich bin gekränkt«, kann Luft machen und ein wenig Erleichterung verschaffen. Das kann schon helfen. Doch ist es in unserer modernen Erfolgsgesellschaft nicht immer einfach, zuzugeben, dass wir getroffen sind. Wenn uns zum Beispiel ein böswilliger Arbeitskollege kränkt, geben wir das dann so einfach zu? Eher nicht. Eher lassen wir uns nichts anmerken, denn alles andere würden wir, und wohl auch der betreffende Kollege, als Eingeständnis von Schwäche und Anerkennung von dessen Überlegenheit deuten.
Ein wohlwollender und zur Empathie fähiger Partner, Verwandter oder Freund, mit dem wir offen über eine solche Kränkung sprechen und dem wir unsere Gefühle zeigen können, würde da Abhilfe schaffen. Nur ist leider ein so verständnisvoller Partner schwerer zu finden als ein Arzt, der uns ein Medikament gegen unsere Magenbeschwerden, Herz- oder Halsschmerzen verschreibt.
Die Auswirkungen unseres emotionalen Wohlbefindens sind von größter Relevanz und stellen einen wichtigen Bereich der medizinischen Forschung dar. Die Übersetzung von psychischen in körperliche Symptome erfolgt oft deshalb, weil es wie schon gesagt leichter ist, einen körperlichen Schmerz zu ertragen als einen psychischen. Reflexion über das eigene Leben und Verhalten kann weit unangenehmere Wirkungen haben als körperliches Unwohlsein. Daher sind die Effekte der Psyche auf unseren Körper ernst zu nehmen und stellen ein wichtiges Gebiet für die medizinische Forschung dar.
Psychische Befindlichkeitsstörungen formelhaft zur Erklärung jeglicher körperlicher Erkrankung heranzuziehen, ist jedoch verfehlt. Viele Krankheiten ließen sich nur allzu leicht, jedoch fälschlich auf psychosomatische Effekte zurückführen. So müssen selbst die Magenschmerzen einer berufstätigen und alleinerziehenden Mutter nicht zwangsläufig von dem Stress herrühren, unter dem sie steht.
Wie schwierig hier die Ursachenforschung ist, mögen folgende Beispiele zeigen:
Helicobacter pylori, ein Bakterium, das eine chronische Entzündung des Magens verursacht, wurde erst 1983 von zwei Australiern, die später den Nobelpreis bekommen haben, entdeckt7. Helicobacter pylori kann ausschließlich für Magenbeschwerden verantwortlich sein oder im Zusammenspiel mit psychischen Irritationen. Magenbeschwerden können aber auch allein durch psychische Auslöser bedingt sein.
Wenn ein geliebtes Haustier stirbt, kann das schmerzlich sein. Dennoch ist nicht ein Jahr später jeder Herzschmerz auf diesen Verlust zurückführbar. Denn Herzschmerz kann, und das weit häufiger, auch Folge einer krankheitsbedingten Gefäßverengung sein.
Bei manchen Menschen kommt es zu einem Krampf der Herzkranzgefäße, der zu einer vorübergehenden Minderdurchblutung und Sauerstoffarmut des Herzmuskels führen kann. Bei Auftreten eines solchen Gefäßkrampfes, der meist nur wenige Minuten andauert, kommt es zu massiven Herzschmerzen, die nach Beendigung der Gefäßverengung wieder abklingen. Wenn solche Patienten außerhalb einer solchen Episode untersucht werden, erscheinen ihre Herzkranzgefäße normal. Dies erweckt den Eindruck, als sei hier auf der organischen Seite alles in Ordnung, woraus dann der Schluss gezogen wird, die Patienten leiden unter psychischen Beschwerden, nämlich einer sogenannten Herzneurose.
Ein solches Reaktionsmuster entspricht einem Stereotyp mancher ärztlicher Diagnosen. Wenn ich als Arzt mit meinen bescheidenen Mitteln und Kenntnissen nicht sofort eine körperliche Ursache festmachen kann, dann muss die Erkrankung wohl psychisch bedingt sein. Gott sei Dank kann sich solche Ignoranz in unserer wissensbasierten Welt zunehmend schlechter behaupten. Dennoch werden mit derartig blinden Stigmatisierungen nach wie vor Patienten zu Unrecht als psychisch krank abgeschrieben und ihnen verfügbare Behandlungen vorenthalten. Für solche Situationen gibt es kein Geheimrezept. Allerdings helfen hier ein möglichst umfassendes medizinisches Wissen einerseits und andererseits die Offenheit und der Wille, Dinge zu hinterfragen, statt sich mittels vorschneller Lösungen in falscher Sicherheit zu wiegen.
Mitmenschlichkeit im Gesundheitswesen
Der Zusammenhang zwischen sozialer Integration und Umweltfaktoren sowie den von ihnen ausgehenden Effekten für unsere Gesundheit lässt sich anhand eines Beispiels aus der Pflanzenwelt plastisch darstellen: Eine Rose, die an einem sonnigen Platz steht und die ein Gärtner fürsorglich pflegt, wird immer wieder aufblühen. Wo nur Schatten herrscht und der Rose nur Wind und Regen entgegenschlagen, wird sie verwelken. Das ist ein einfaches, aber allgemeingültiges Naturgesetz, das für Pflanzen genauso gilt wie für Tiere oder Menschen. Wir Menschen sind weit komplexere Organismen als eine Rose, aber deswegen sind wir nicht weniger abhängig von Fürsorge und wärmender Sonne, im wörtlichen ebenso wie im übertragenen Sinn.
Schließlich ist die wohltuende Wirkung von sozialen Kontakten auf uns auch von der Evolution bestimmt. Denn die Evolution belohnt Fähigkeiten und Verhaltensweisen, die uns und damit dem Fortbestand unserer Spezies dienlich sind. Dies trifft auch auf die sozialen Bindungen zwischen den einzelnen Mitgliedern der Spezies Homo Sapiens zu. Deren Überleben war hunderttausende Jahre lang nur innerhalb einer funktionierenden Gemeinschaft möglich. In der Wildnis hat die Gruppe extreme Vorteile gegenüber dem Einzelnen. Ohne Unterstützung durch seine Artgenossen hat es der Mensch wesentlich schwerer, sich genügend Nahrung durch Jagd oder später auch durch Ackerbau zu verschaffen. Gleiches gilt bezüglich der Verteidigung und Durchsetzung gegen natürliche Feinde. Deswegen reagiert unser Organismus auf Einsamkeit nach wie vor mit Stress und leichtem Schlaf, auf soziale Integration hingegen mit dem Ruhe- und Sicherheitsmodus und allen seinen positiven Folgen.
In meiner früheren Funktion als Leiter einer klinischen Abteilung war mir wichtig, es Patienten zu ermöglichen, mit ihren Partnern, Familienangehörigen und Freunden zusammenzutreffen. Deshalb habe ich die meines Erachtens überholte strikte Besuchszeitenregelung abgeschafft. Ich war schon davor der Meinung gewesen, dass Menschen, die das Gesundheitssystem mitfinanzieren, jederzeit die Möglichkeit haben sollten, einen Angehörigen im Krankenhaus zu besuchen. Nur selten gibt es Situationen, in denen Besuche wirklich nicht möglich sind. Selbst wenn gerade Ärzte auf Visite durch die Abteilung gehen, ist das kein Hindernis, denn so eine Visite ist nach einiger Zeit wieder vorbei. Außerdem kann es hilfreich sein, von den Angehörigen der Patienten noch zusätzliche Informationen einzuholen.
Unser gesamtes Gesundheitssystem sollte die Bedürfnisse der Patienten und nicht jene der Organisation in den Vordergrund stellen. Demgemäß sollte den sozialen Bedürfnissen, insbesondere jenen nach Kontakt zu Partnern und Angehörigen, Rechnung getragen werden, zumal dies einen unterstützenden Faktor bei jeder Therapie darstellt. Dies wird immer mehr Menschen bewusst. Eine lückenlose Umsetzung dieser sinnvollen und leicht machbaren Neuerung wird allerdings aufgrund der Trägheit des Systems wohl noch auf sich warten lassen.
Zufriedene Einzelgänger
Das Bedürfnis nach sozialer Integration und damit nach Vernetzung mit anderen ist individuell stark unterschiedlich ausgeprägt. Auch das sei an dieser Stelle gesagt. Manche Menschen können besser mit dem Alleinsein umgehen. Sie haben, oft unbewusst, eine wirksame Bewältigungsstrategie für einsame Zeiten. Die Mehrzahl der Menschen jedoch hat ein starkes Bedürfnis nach engeren kontinuierlichen Bindungen.
Doch selbst diejenigen, die vergleichsweise gut alleine zurechtkommen, benötigen soziale Anbindung in ihrem Leben. Auch für sie kann in schwierigen Zeiten ein hilfreiches und wertschätzendes Netzwerk eine wichtige Unterstützung darstellen. Natürlich mag es Ausnahmen geben. Normalerweise jedoch bleibt langandauernde soziale Isolation nicht ohne psychische und schließlich auch physische Folgen.
Außerdem gibt es so manchen augenscheinlichen Einzelgänger, der die Bequemlichkeit des Alleinbleibens gegenüber der Herausforderung der Beschäftigung mit einem Partner vorzieht. Alleinbleiben stellt auch einen Schutz gegen Verletzungen dar, die im Kontakt mit anderen Menschen unweigerlich auch entstehen. Solchen Menschen hilft der Hinweis auf die oben beschriebenen Zusammenhänge wenig. Vielmehr benötigen sie empathische Unterstützung und Stärkung ihres Selbstvertrauens, um ihnen emotionale Nähe zu anderen Menschen zu erleichtern. Ich spreche mit solchen Menschen gerne ausführlich darüber, weil es meines Erachtens für sie besonders wichtig ist. Vielleicht wären sie von ihrer Anlage her sogar sehr gesellig, würden in Gemeinschaft richtig aufblühen, schaffen es jedoch nicht, ihre selbsterrichteten Barrieren zu überwinden.
Im Zusammenhang mit diesen Überlegungen erscheinen mir die folgenden vier Punkte hilfreich.
ERSTENS. Es ist leichter, als Sie denken. Es ist schon viel damit gewonnen, wenn wir anderen Menschen manchmal kleine Freuden bereiten und ihren Leistungen mit Wertschätzung begegnen. Denn die positive Stimmung, die wir ausstrahlen, kommt in der Regel als positive Reaktion zu uns zurück.
Allerdings fällt es in unserer Gesellschaft vielen Menschen schwer, andere zu loben oder zu stärken, weil sie dadurch andere erhöhen und Sorge haben, dass sie selbst zu kurz kommen. Je gefestigter ein Mensch ist, desto leichter fällt es ihm normalerweise, anderen Wertschätzung entgegenzubringen. Menschen, die sich im Grunde schwach fühlen, neigen hingegen nicht selten dazu, ihr eigenes Selbstwertgefühl zu erhöhen, indem sie andere durch Kritik hinunterziehen. Ist dieses Verhaltensmuster einmal erkannt, dieser Mechanismus bewusst geworden, so kann eine Änderung stattfinden. Der freizügige Ausdruck von ehrlicher Wertschätzung im eigenen Lebensumfeld kann jedenfalls zu einer deutlichen Steigerung der eigenen Lebenszufriedenheit führen. Eine freundliche Bemerkung pro Tag ist ein Anfang. Das lässt sich üben.
ZWEITENS. Es gibt eine Möglichkeit, bei der Sie sich nicht allzu weit aus der Deckung wagen müssen. Diese Möglichkeit bietet uns die Unterstützung von Bedürftigen. Wenn wir Hilfestellungen für andere organisieren oder uns daran beteiligen, entsteht ein Nutzen auf beiden Seiten, sowohl bei denen, die Unterstützung brauchen, als auch bei den Unterstützern. Sofern also Unterstützungsbereitschaft auf ein echtes Bedürfnis trifft, wird durch den Akt der Unterstützung das Lebensgefühl auf beiden Seiten verbessert. Geben und Nehmen ergänzen sich und erzeugen ein Gefühl der sozialen Verbundenheit. Wohlgemerkt muss die Unterstützung willkommen sein. Wer Hilfe aufdrängt, erzeugt womöglich eine Abwehrreaktion oder ein Gefühl von Ohnmacht und Demütigung bei denen, die gar nicht bedürftig erscheinen wollten. Daher erfordert echte Nächstenliebe auch sehr viel Sensitivität beim Einsatz der eigenen Stärken insbesondere gegenüber jenen, die wir als weniger stark einschätzen.
DRITTENS. Soziale Integration können Sie auch über Teilnahme generieren. Bei diesem Punkt denke ich an eine liebe Bekannte, die in einem Kirchenchor singt. Die große Bedeutung, die sie dem Chor beimisst, ist nicht für jedermann unmittelbar einsichtig. Es geht ihr dabei nicht so sehr um Spiritualität, sondern um das gemeinsame Singen, das auf intensive Weise einen Teil ihrer Bedürfnisse nach sozialer Integration befriedigt. Als Teil des Chors schafft sie einen Wert, der über die musikalische Gestaltung und die Umrahmung der Messe hinausgeht. Für sie ist das ein so wichtiger Bestandteil ihres Lebens geworden, dass sie die Teilnahme am Chor über andere soziale Angelegenheiten, selbst über ihren Urlaub stellt. Ihr Mann jammert jedes Mal, weil er lieber noch am Meer bleiben möchte, aber ihr ist die Teilnahme so wichtig, dass sie unbedingt zurück zu ihrem Chor fliegen muss, um bei den jährlichen Osterkonzerten dabei sein zu können. In diesem Punkt kennt sie keine Kompromisse.
VIERTENS. Bemühen Sie sich um die Beziehungen, die Ihnen gut tun. Sie sind nicht selbstverständlich. Wenn wir Beziehungen schlecht führen oder verkommen lassen, dann kann das negative Rückwirkungen auf unser geistiges und körperliches Wohlbefinden haben. Besonders evident wird dies dann, wenn unser Leben zu Ende geht. Die Charakterisierung als arm, einsam und alt suggeriert, dass der betreffende alte Mensch unverschuldet in diese Situation geraten ist. Das stimmt aber nicht zwangsläufig. Zwar steigt das Risiko der unverschuldeten Vereinsamung im Alter durch das Wegsterben von Freunden und Verwandten sowie deshalb, weil es uns im Alter immer schwerer fällt, neue Kontakte zu schließen. Doch oft genug habe ich erlebt, dass es einen Grund hatte, wenn Kinder ihre Eltern am Sterbebett alleine gelassen haben. Zum Beispiel, wenn die Eltern ihre Kinder in jungen Jahren ihrerseits im Stich gelassen, psychisch oder sogar physisch misshandelt haben.
Dazu fällt mir ein Patient an unserer Klinik ein. Sein Gesundheitszustand hätte es eigentlich zugelassen, jeden Tag zur Therapie in die Tagesklinik zu kommen. Allerdings mussten wir ihn stationär aufnehmen. Denn bei ihm gab es außer dem Klinikteam niemanden, der für ihn da gewesen wäre. Er bat mich, seinen Sohn zu kontaktieren, woraus ich schloss, dass das Verhältnis zwischen den Beiden zerrüttet war.