Kitabı oku: «Ostexpress in den Westen», sayfa 10
Petra kommt – ein unschuldiger Engel – weiß, blond und schön. Sie fahren nach Halberstadt, rühren sich an, er stößt gegen sie, knöpft ihre Kleider und liegt in ihrem Bett weich, totenweich ruhig. Nichts will zu ihr hin – ein schlaffes Gesicht, schlaffende Zeit wie verplempert, ein Tag wie der andere. Er greift ihre Figur, ihre Haut – willenlos, will nicht –, und es geht kein Sinnen in sie, sinnt er geschlossene Augen – es dreht ihm im Haupt –, er ist nicht bei sich, irgendwo dort, die Haut ist ihm fremd, kühlfremd, und ungläubig umarmt er die Weite: „Ich kann nicht.“
Petra streicht über die Haare: „Nicht schlimm. Muss ja nicht sein. Mutti hat Kuchen gebacken.“
„Musste nicht sein.“ – Neben ihr liegend die Nacht, nackt, mit nichts in den Armen, kneift Martin sich in die Lende – ekelhaft sich: „Schlappschwanz! Schwanzloser! Zum Pissen gerade genug.“ – Wenn er früh aufwacht, erschrickt, entpellen sich möchte und glaubt, da ist etwas, die Braut, hat er nachts nur die andre gesehen. – Und in der vierten Nacht fließt diese ihm von selbst über die Beine – gelaufen von selbst, von der Traumbraut im Bett. Er kann sich an den Traum nicht erinnern, verdrängt ihn. „Er war schön.“ – Petra liegt neben ihm nehmbar – er aber hat eine andere berührt in dem Schlafe, ist ihr auf die Beine geschwommen wie Laich.
Sarodnick versteckt sich in seine Kleider, und kurz und lang streicht er die Segel zu seinen Eltern, enttäuscht: „Nur keinen mehr sehen! Und nicht das Haus mit der übermäßiger Wärme.“ – Aber die Eltern geben nicht Frieden, sind unfrieden, unfriedsam, unbefriedigt, weil er allein – als wäre er befriedigt allein! –, weil Petra nicht da ist. Petra ist eigentlich wichtiger als Martin für sie – ist Petra wichtig für ihn? – Sie ist ein wichtiger Engel für sie, denn sie denken wie alle, alles an sich.
So stellen sie Fragen, Falten, Fallen, falten Löcher in seinen Bauch, und er schläft mit sich selbst, in den Löchern, im selbigen Fleisch. „Hast du dich mit Petra zerstritten?“ – „Wie konntest du nur!“
„Konnte er nicht? Wäre nicht nötig? Notdurft muss sein. ‚So ein liebes Geschöpf!‘ – Ohne Liebe.“ – Sarodnick haut die Faust in den Schrank und fährt aus dem Haus – elternen Haus, nicht sein eigenes Haus –; er möchte jetzt wenigstens schweigen, nur über das Haar streichen sich lassen: „Nicht schlimm! Muss ja nicht sein!“ Und er klopft an die vormalige Tür wieder. Petra aber ist nach Leipzig gefahren.
Sie ist nicht allein, ein Mann sitzt bei ihr ein. „Ich muss mit dir reden.“ – Petra bittet, den anderen zu gehen.
„Sie ist nicht allein. Ein Freund. Ein anderer Mann.“ – Daran hatte Sarodnick niemals gedacht, war nie in den Kopf ihm gekommen, so etwas war ausgeschlossen im Denken von ihm. Ein anderer Mann: „Was soll eigentlich das?“
„Wolfgang hat mich sehr gern“, schwärmt sie von diesem. „Hat mich sehr gern.“ Sarodnick fühlt seinen Eitel verletzt, eine Narbe: Da kommt ein anderer ins Haus, und er ist weg von dem Ofen. Unglaublich für ihn. „Und du?“
„Sehr sympathisch.“
Wutschäumend geht Sarodnick in die Höh, auf den Baum: „Ich bin ein Mann!“, geht auf den Ast, greift nach ihr – Wut und Blut in der Stirn würgt es ihm tief im Halse, „ein Mann! Da, der Beweis in der Hose!“ – Er stößt sie aufs Bett, sie ein, hassleidend, „werd’ ich es zeigen, wer ein Schlappschwanz hier ist! Zeigen! Guck auf! Zeiger, zeig an in die Tiefe!“ – Und Petra schnurrt eine Mischung wie echt, kippt ein hohes C in sich ab, und atmet einen halben Brustschlag höher und tiefer. – Martin hat es geschafft, hat die Liebe in ihre Poren begraben.
„Ich dachte schon, du liebst mich nicht mehr“, flüstert sie und ist bald schon wieder bei Sache.
Als Wolfgang – weggeschickt – sich schickt wiederzukommen, wird er nicht mehr gefragt. „Ich hab’ mich entschieden“, ruft Petra und winkt aus dem Fenster, winkt Sarodnick seeaalig sein Glück, gemütlich, geborgen: „Als wäre ‚schlafen‘ so wichtig! – Das Erste, das ist der auswendige tierische Mensch, das Zweite ist der vernünftige Mensch, der dritte Mensch ist das Gemüt, der obere Teil unserer Seele.“ – Eine jede Lehre ist Leere, abstützend jedes für jeden. Petra hat ihm die Vernunft wiedergebracht, und gemütlich blickt er nach oben in die animalische Seele, verdammt. Gemütlich vergeht ihm der Zweite, der Dritte im Bunde, und das Niedere ist wieder ad acta gehackt. Ruhig fährt er nach Moskau zurück.
Hier ist die große Versöhnung mit Sjoma, mit Wowa. Petra hat ihnen feine Gaben gepackt, und sie ist weit, ihm kostbar zu sein. „Eine Perle!“ – „Wer kann sie nicht lieben!“
„Fritz, du Päderast! Du wolltest dich wegen einer Nutte vergreifen“, flucht flachsig der Kaukasier, flucht noch eine verlorene Träne nach, und auch Wolodja ist für Sekunden versunken: Eine Windjacke aus Berlin ist ihm als Geschenk übergeben. Die große Versöhnung! Ihr Schwanz ist der Bann.
„In die Kufe den Kofen verschickt! Die Ölfunzel ist aus. Larissa hat ihm bloß Böses gebracht, war nur ein Keil – ein Keiler ist in die Säue gefahren.“ –
Langschrittig nun weicht Martin ihr aus dem Weg, sieht sie nicht mehr, nicht mehr mit offenen Augen, dreht Kreise um sie — eben nur Kreise. Sie indes hält sich abseits, in ihrem Haus, kommt nicht in die Quere, und selbst die alten Plätze von ihr sind verwest. Einäugig hatte Martin diese beäugt – alles von weit, in die Weite. Nach Haus aber schreibt Sarodnick Briefe, an die Lieben, an Lieblich und Treue, anlieber als was?. Mit Samwel besucht er den Klub, spricht mit Wladimir über die Kapitulation von Königsberg und legt die Moral in den Imperativ wieder. Im Institut dieweil kullern die Fächer zu Teig, und eines Tages zeigt man dort einen Film.
Martin hatte ihn in Berlin schon gesehen, hatte ihn damals ganz intellektuell genommen, und unter dem Eindruck der Psychoanalyse kritisierte er ihn, nörgelte er, fand Symbole an den Haaren gezogen, der Todeszeichen zu viel: „Jede Einstellung ist eine Metapher, die ihren sinnlichen Ausdruck verlor und bloß in reiner Deutung sich gibt, nur des Zeichens da-ist, ohne ein Zeichen zu sein.“ – Sarodnick sah überall nur Punkte gesetzt mit dicken Ausrufezeichen. Es fehlten die Schnörkel für ihn und die Bindung. Das Bild blieb phantastisches Bild, eine Galerie, ohne Gesamtbild zu sein, ohne Bewegung zu einem Ziel.
Jetzt aber betrachtet er den Film „Schatten vergessener Ahnen“ wieder von Neuem und wärmt sich darin, lässt sich nicht mehr lediglich von der Geschichte einnehmen, ablenken, sondern lenkt sich in ihre Form, in ihren Gehalt und sieht die Innerbewegung, das Fresko oder besser das Triptychon aus dem von sehr tief ihm der sakrale Gang, der Stellengang hinein scheint in eine andere Sphäre, mittelbar neben dem Bild der Gestalt. Das Handeln ist ihm ein Vorwand, um die Un-Handlung zu schauen, die Metaphysik, den Geist, in dem die Dinge gebunden, verbunden, bindend zu sich, in sich, zu ihm sind. Es ist ein Ding vor dem Ding, das Vorgeahnte, die Vormorgenröte und die tragische Determiniertheit in ihr, das Wissen und das „Dagegen nichts tun“, das „Nichts tun können daselbst“. – „Der Gang ist bestimmt, der Ausgang, der Mensch und das Wunder“, denkt er. „Die Emotion ist nicht mehr einfache Angst, Angst um das vermeintliche Ziel, sondern die Freude, das Reinigende, die Amoral. Ist doch Moral von den Umständen her, das Außer-Gewöhnliche, die Formung, die Doppellichtung, die Entdingung des Leibes, die Katharsis – nicht das ‚was‘, sondern das ‚wie‘ ist es gemacht. Der Tod wird entbanalisiert, und der Kuss Irrealität, unmaterielle Gesichte. Das Leben ist Leben an sich, unendlich, nicht-individuell, es geht ins Volk, ganz, auf dass es ewig lebt und nicht genug Ewigkeit wird: Es wird heiliggesprochen. Das Volk ist Choral, die Vorreligion, die Antike, ist einfach Bruder und Schwester, ist Volkssein, und ihre Symbole sind von ihnen gepflanzt, in ihrer Kette, in ihrer Archestalt, hinunter, fern zu den Ahnen, geliefert von Seele zu Seele und nicht nur ein Traum von dem Traum einer fiebrigen Nacht.“ – Sarodnick spürt den Volksbrauch darin, die Gebräuche, die Kinderspiele von den Kindern ererbt, die Naturmagie und die Weisheit, ohne Gabel und Messer – vom Munde zu Mund. – Eine rote Beere fällt in das Gras, die nackte Frau läuft ins Gewitter, und Milch reift Ferment, der Tanz geht in magische Kreise, Fruchtbarkeit betörend und Sinne. – „Das Beil ist Erotik – Gewalt“, merkt Martin bewegt, „das Un-Wetter verlängert zum Wetterleuchten sich aus, und der Himmel gießt das Licht über die Haut.“
Jura war Assistent bei Sergei Paradschanow gewesen, hat die gestrichenen Blätter gesehen, die zerschlagene Kamera über dem Hang, er hat den Huzulen ihre Lieder gesungen und dem Regisseur ukrainisch gelehrt. Er hat das Romanisierende ins Russische übertragen, hat aus den Museen die Vergangenheit in die Hütten geschleppt, und die Plastikschüsseln durch Keramik ersetzt; er schrieb die Gebete der Bergfrauen auf in ihren Kirchen, in den Stuben im Winter, die Klagen und das murmelnde Weh: „Zwischen ihnen liegen die Geister.“
Zusammen mit Paradschanow hat Jura bei den Hirten gewohnt, Gewohnheiten gelernt, das Nicht-Zuerlernende gefasst und aus einem Topf mit ihnen gedacht. War es noch Denken? „Zuerst waren sie misstrauisch gewesen, diese Huzulen“, erzählt Jura, „fremd gegen die Fremden, und verschlossen schlossen sie sich von uns fort. Diese metallenen Glasaugen machten sie wirr. Da entschied Paradschanow, den Apparat zur Seite zu legen, hinter die Mauer, schmiss die Technik gegen die Wand, und unsere Gruppe löste sich auf in das Dorfkollektiv. Einige Wochen. Wir mischten uns unter die Leute, mischten mit, trugen uns ohne die Stadt, waren ein Mensch, ein Mit-Mensch, wie alle Menschen hinter den Bergen. Wir lernten die Maultrommel spielen, das Alphorn, lernten, wieder zu hören – in ein Ohr rein, ins andere zu der Seele, waren ein Herz, eine lange Geschichte. – Die Bergler stiegen hinab und sahen ihre Bräuche in Büchern und hatten sie doch so lange vergessen. Wir erinnerten sie mählich daran. ‚Wie unsere Väter, die Ahnen‘, sagten sie uns und ‚genau, haargenau so‘ und ‚so nicht!‘ – ‚Bloß zum Kirchgang nur war dieses Kleid Gang und Gabe – rot wie die Wildbeere unter dem Gras‘, – ‚so ungefähr.‘ – ‚Die Lieder sind die einzigen Zeugen – fast einzig, ein Jammer!‘ – ‚Das Herz noch, das Schwingen der Seele beim Singen, beim Gebet ohne Heilige Schrift.‘ – Lange Zeit waren sie Heiden, sind Heiden, sind das Gegenteil von: ‚Heute ungläubig und einst gläubiger Heid.‘
‚Ein Elend!‘, sagte man beim Trinken aus den bauchigen Krügen. Und Paradschanow erzählte ihnen ihre Geschichte. Sie haben sie schon gewusst, bloß nicht gewusst, wie man weiß – in Zeilen, in Prosa, mit Vorwort und Namensregister. Für sie ist jeder Name ein Vorwort für eine Legende, ein eigener Name aus der eigenen Sippe.
‚Haben wir wirklich gelebt?‘, fragten sie uns. – Paradschanow verstand ihre Wahrheit, dass sie da ist, dort unter der Wahrheit der wahren Hirtographie. – ‚Alles ist wahr ‘, sagte er ihnen, ‚eure Väter, euer Leiden, euer Jetzt-sein, euer Vergessen darin, und daran hängt das Seil zur vergangenen Zeit, unvergangen in euch, vergangen nur für die Bücher. – Es lebte einmal …‘ – Sie leben alle noch heute, verwechselbar, Wechsel aus sich, verschoben in Unkenntlichkeit. Und sie verkennen sich selbst: ‚Was geht es uns an! Alte Mützen für uns!‘ – Und schnell ist ein Bild von ihnen gemacht, eine Schnellkarikatur: ‚Gute Menschen. Gutherzig verschroben, abseits, hinter dem Mond, mit Volkstänzen, Volksmusik und jeden Sonntag einem Fest, einem Trachtensonntag – Trachten aus der Fabrik, Geschirr aus dem Laden, Getränke, Sitten, Musik von dem Berg, Souvenirs für die Touristen.‘ –
Was geblieben aßen die Museen für Eintritte auf, und die Huzulen haben endlich ihr Handwerk verlernt. Die Zeit rollt wie ein Elefant über unzerbrechliche Ware, und die Kunst geht über die Leute hinweg: Sie sind Kunstmenschen geworden wie tote Porträts in Kategorien. Bewahren? – Bewahre! Nur die Achtung bewahrte Paradschanow vor diesen Menschen. Er sagte: ‚Ihr seid die Künstler. Ein Künstler aber ist ein Mensch, der seine Kunst lebt und nicht ein lebloser Fisch, ein Zeichenfisch, ein Zeichner, der das Wasser nur malt: vor sich, aus sich, außer, fremd, Entfremder, bloß Nehmer, ein ‚Nimm dir deinen Teil‘– teilnahmslos, einteilig, ein schwarzes Kostüm ohne Trauer. ‚Du bist es selbst, Gezeichneter! Bist ein Zeichen – siehe dich ein! Einsicht in selbige Sicht – und gib dich den seinen! Kunst muss nicht unbedingt gemacht werden wie ein Machen ins Bett. Seid werdend! Seid, seid bereit! Seid alle vier Seiten! Seid eingekehrt in die Kehrseite und kehrt euch drin aus! Seid reinende Arbeit! Denn die Arbeit ist Buch, eure Lieder, die Milch, die sich wandelt zum Brotüberstrich.‘ Paradschanow hatte gesprochen.
Nach Wochen meinten die Leute zu ihm: ‚Du bist wie ein Mensch‘, und der erwiderte ihnen: ‚Ein Mensch wird euch von Menschen erzählen.‘ – Tage berichtete er nur von sich, und sie merkten, dass er eigentlich nur von ihnen erzählte. So gingen sie ein in seinen Refrain und setzten die Strophen: ‚Wir wollen dir von Marischka singen, von Iwan, von Jurko dem Magier … Denn sie leben noch heute, hier bei uns in den Bergen. Im Frühling kann man des Nachts ihre Lieder über den Tälern vernehmen, die Liebeslieder, die Hochzeitslieder ihrer nicht endenden Brautnacht. Iwan, Marischka – unsere eigenen Kinder sind ihre, wir sind in ihnen erkannt. Wenn der Winter verendet, und der Magier seine Macht verliert über die Natur, ziehen wir aus und wecken Iwan und Marischka wieder zum Leben, feiern die Treue, ihr Leid, ihre unendende Liebe.‘
Sodann nahm Paradschanow endlich die Kamera auf, die anderen aber ihre alten Gebräuche, die Kleidung, ihre Lebensgewohnheit, die Schatten. Und die Gegenwart raunte die Gegenwart fort.
So entstand dieser Film“, endet Jura seine Erzählung, „und als die Stadtleute wieder zu ihrer Stadt fuhren, war die Ungewissheit in den Bergen geblieben. In Paradschanow jedoch was das eine Gewisse: Es ist alles nicht so! Nicht so ist es alles gewesen.“
5
Im wehenden Schnee wandert Martin die Fährte entlang, sieht sie den Bahndamm raufklettern und zwischen den Schwellen der Schienen verwirken. „Sie sind zum Norden gelaufen, meidend den Schnee, abkürzend, um langtreten zu können, auszuspüren den ungeräumten Weg und ihn umzutraben gen Pol: Dort liegt Sagorsk, die Papststadt, der Vatikan der russischen Kirche.“ – Einen Moment harrt Sarodnick in der Waage: „Ich müsste den Tapfen gar folgen als eine Art von Verzeihung.“ – Aber er besinnt sich der Stunde: Zu kurzatmig sind die Tage im Winter, zu weit ein Atem zu dieser Stadt. „Als wär’ ich ein Pilger! Als müsste ich Buße ablegen. Vor wem? Wem interessant?“ –
Von Kindesbeinen war Sarodnick Protestant, evangelisierte später rasch weg, und nur manchmal – den Eltern zuliebe oder bloß aus Liebe zum Altar – brachte ihn ein Liebes-Kummer zurück. Freilich, es half nicht – er konnte sich stemmen! – der Protestantismus bürgerte aus. Er konnte Luther nicht leiden – schon wegen des Namens, der vom Kampfe fortführte, und wegen des anderen wohl, welcher der seine auch war: Wer hat eigentlich von wem abgeschrieben? Wegen des Briefes an die Fürsten zu Sachsen von dem „auffrurischen geyst“ war er ihm unholde vor allem, welcher aus dem einen einzigen Grunde geschrieben, sich zu rechtfertigen, das Recht zu verfertigen vor dem irdischen Gott. Da er doch vernommen habe – o Gott! – als wolle es derselbe geyst nicht beim Wort bleiben lassen, sondern gedenke in Bälde, sich mit der Faust drein zu begeben, und sich mit Gewalt wider die Obrigkeit setzen. – „Was soll der geyst wohl anfangen, wenn er des Pöbels Anhang gewinnt!“, fragte Sarodnick sich sehr oft. „Hatte Luther nicht Müntzer auf dem Gewissen und Schwenckfeld und Sebastian Franck?“ – Für Martin war der Reformator nur die ordentliche Sprache, die Übersetzung ins Reine, das gesprochene Wort, aber nie das erfüllte. „Nach diesem Deutschen führten just und nunmehr die Luthers das Schwert, und der Geist ruhte geschrieben als Wort, als Bibel, Pudel und Babel. Zu viel war irdischer Geist in der Mode und zu wenig der Ab-Geist, der Frei-Geist, die Geisterei. – Luther hat die Semantik gereinigt“, predigte Sarodnick immer, „und deren Stall“, schloss er ins teuflisch Sarkastische ab. „Er hat die Mantik befleckt und ihre Manie. Wir sind mit ihm deutsch geworden und ehrlich“, schlussfolgert Sarodnick heuer. „Dieser Vorsachse war zu stark, um andere seitlich, unseitengerecht stehen zu lassen, wie später Goethe zu stark, wie Friedrich der Große, wie das Tausendjährige Reich. Mit Lutherist die Dialektik weggerutscht, das Gleichgewicht, der phantastische Schnitt, ist die andere Seite unter das Messer geraten – immer, ewiglich. Amen.“ – Sarodnick blickt auf die Hände: „Amen Romantik. Amen die Mystik. Amen Freischwärmerei. Alles bleibt schwärmen, schwären, Schwere – in die Schwere gerückt. Luther hat keine Chanc’ uns gelassen sich zu interpretieren von selbst. Die schwarzen Schafe wurden schwarz wie die Nacht, und der Nachtgeist zog ein und aus wie der Wind über die Felder – auf der elenden Strecke. Geblieben. Es ist der Weg zu dem Papst“, sinniert Martin und blickt die Schienen entlang. „Es gab genügend russische Päpste.“ – Er macht schnell ein Kreuz – Kreuz, wie die Katze auf der Alten am Ofen –, springt von da auf den Damm, schlägt einen Haken und geht in die Richtung, wo sein Internat niemals lag, streift den Wald, quert einem Mädchen den Weg und querte Larissa: „Du?“
„Du?“
„Ich gehe. Spazieren.“
„Ich auch.“
Sie stehen sich gegenüber, spiegelgerecht und haben ihre Worte verlegt. „Wie lange …?“
„Ist alles her.“ – Martin armt sie an sich, an seinen Mund. Tief atmet Larissa, schließt ihre Augen und löst sich nicht von dem Kuss, bis die Füße nicht stehen, und sie schwankt mit dem Jungen leiden-leidenschaftlich, fällt endlich-endlos weich hintenüber in’ Schnee. Fiebrig fasst Martin die Knöpfe, tanzt unter dem Rock, und berührt den Scheitel der Beine. In seiner Hand schmilzt der Schnee, er streift die Seide über die Knie, knüpft an dem Gürtel und rollt groß zwischen Himmel und Erde. Wie ein Flug springt es über die Schmelze, und ihr Mund zuckt in dem Leib, geht in die Tiefe, wird unheimlich-heimlich. Sie ist eine Höhle aus tausend und Hexen, und das Opfer verfängt sich in ihr. Der Trank fließt aufzehrend-labend, bis sie hin schreit wollig darin. Einer Welle gleich beben sogleich die Lippen kalt durch die Flut, und die Augen leuchten weiß-grün als heller Kiesel im Schnee. – Ein Zug schiebt nah bei durch das Feld Richtung Norden. Die weitlaufenden Wangen zucken davon, und der Strom verlängert sich bis zu dem Hals, bis zu der Sehne. Auf die Erde ist ihre Mütze geworfen, der Pelz mit den Perlen, und Martin gewahrt auf einmal die winzigen blonden Härchen über der Stirn.
„Wo sind deine Haare geblieben?“, fragt er ganz überrascht, „diese langen schwarzen, bis tief in den Rücken?“ – Sie lächelt noch matt, und in den Augen füllt sich allmählich das Grün:
„Die hab’ ich verloren, damals mit dir.“ – Er versteht nicht und ärgert sich nur:
„Wie schön sie doch waren!“
„Sie waren anders“, sagt sie. „Ich bin blond und bin es immer gewesen.“ – Und Martin überlegt, ob er Blonde mag oder Dunkle. „Wie Petra“, fällt es ihm ein, „ganz anders als Petra.“
„Das ist Glück“, drückt Larissa sich an ihn und weg. Sie schreiten zu den Schienen nach Hause – jeder in seine eigene Richtung.
„Ich melde mich bald“, notiert er ihr noch, doch sie sieht ihn hinter den Häusern aus ihren Augen verschwinden.
„Bald …“, küsst sie die Seide: Sie mag diesen Geruch. „Mandeln – wie Augen.“ – Sie liebt den Mandelgeruch ihrer Augen.
„Ich melde mich bald.“ –
Lange noch sticht Sarodnick seinen Kreis zu dem Damm, kehrt wieder, geht an der geschlossenen Gottesmutterkirche vorbei, wirft über den Zaun einen Blick zu den zugenagelten Fenstern und läuft über den Schnee. „Larissa. Ich muss etwas tun. So ist nicht mehr weiter. Ein Tier. Ich kann mich nicht bremsen. Was hat sie davon? Und ich ein schlechtes Gewissen. Man trifft sich und schlägt heftig zusammen. Als wäre man nur Antrieb und Trieb! Das kommt von der inneren Leere. Man hat sich zu wenig zu sagen, hat zu wenig Gemeinsamkeiten, hat zu wenig gelebt, zu wenig im Kopf. – Sie fährt wild aus der russischen Haut und macht mich zur Schnecke.“ – Das allererste Mal ist Sarodnick im Leben in dem Häuschen und nicht aus diesem geraten. Immer hatte er nur gemacht, was ihm passte, und konnte bis zehn zählen, sogar bis einhundert, und neben ihm lagen die Fleischberge rum. Jetzt aber kann er nicht mal bis drei, und der Kopf dreht, und das Vergessen geht ab: Zwischen den Fingern rinnt ihm das Nichts. Zum ersten Male! Der Kitzel Sekunden. „Das ist für den Mann auf der Straße“, beruhigt Sarodnick sich. „Was sollte ansonsten auch herauskommen, wenn alles hineingeht? Zeit ist Sublimation, das heißt Unterdrückung, Beherrschung der Triebe: an den Baum binden und wie Prometheus Gedichte aufsagen. Wer ein Bein hebt, pisst sich selber aufs andere. Sich meistern, fruchtbar sein und nicht schleudern dorthin und hierhin, Konzentration – hinterher ist man schlaff wie ein Sack, ein leerer Sack bis zum nächsten. – Freilich, ruhig auch bin ich, geglichen, man denkt wie ein Kind, und nicht mehr verkrampft. Vielleicht ist Larissa auch etwas wie Gleiche, um nicht zu zerreißen anbei? – Bloß so nicht! Nur Fleisch. Ich könnte mit ihr über Dinge reden, Reden halten – nicht Hände! – und meinen Rhythmus finden mit ihr. Ausweichen ist keine Lösung, Herumgehen wie der Hund den heißen Knochen – der Knochen muss weg! Ich kann nicht so leben mit dem Gefühl unter dem Bett und im Traum ihren Körper betasten. Ich werde verrückt. Man muss es mit den eigenen Mitteln verjagen, wenn überhaupt Haupt. Sie hat sich als Erotik gegeben, und nun sitzt sie wie Ungeziefer fest unter der Haut: Es zwickt und zwackt, und man kratzt bis zum Blut. Es sind die Gründe zu heilen. Sie macht mir Petra kaputt und Sjoma und Wowa und meinen Kurs und Deutschland und Heimat und Kunst. Alles vergeht wie der Nebel. Ausmisten den Stall von Augias mit Stumpf – vor allem mit Stiel! –, sich sattsehen, übersehen und aus dem Halse hängen lassen Gefühle. Es ist nicht über dem Damm, es ist Stirn gegen Stirn, überhaben – den Vogel in der Hand –, haben und die Sinne seinlassen in Frieden. – Jedoch anfangs den Krieg. Larissa den Krieg. Mit ihren winzigen Haaren! Nicht in die Suppe sich mischend, esse ich meine eigene auf. — Einfach müsste sie werden, banal, ein Jeder, Gesicht wie Gesicht, und dann wäre der Zauber zu Ende. Man latscht zusammen, redet das und dieses – kein Wert – nur für sich, spiegelt sich groß, liebt sich größer, rutscht selbst in die Hose, und der andere ist dabei wie ein Ding ohne große Bedeutung. Larissa wird zum Ding degradiert und ich werd’ wieder ich, hänge nicht mehr in ihrer Liebe wie ein verlorener Lurch in der Furt. – Ich muss mit ihr reden, zerreden, zeigen, was ich kann, was sie nicht kann und die verdammte Lust in den Kopf steigen lassen, steigern, intelligant: galanter Martini, Gala Soiree – man zeigt sich von seiner besseren Seite, und die ist die Brust, nicht der Arsch – der steckt zugeknöpft in dem Anzug. Liebe bleibt ein gestecktes Wort in der Luft wie der Geruch der Toilette, ein sanitäres Gelaber.
Man greift nur gebügelte Seide, und das Herz schwärt von dem Haken herab.“
Martin kann nicht mehr leben mit dem Gesicht in dem durchdrehenden Kopf, die Augen wie Wasser über den Algen, den Mund aufgesprungen. Wie eine Frucht schwer tropft Larissa in ihm, haltlos wie Wind, und er kann sie nicht halten, hält sich an ihren Zähnen, der Brust, ihrer Zirpe aus Taille und der auftuenden Hüfte. Banalisieren, runterholen vom Status, wünscht Sarodnick sie und will wieder sich selbst, wieder den Monolog, die Rednertribüne, die Kunst unter dem Teppich. „Als wäre sie Partner! Eine Hure ist sie, die nie genug haben kann. Ich bin keine Ziege zum Melken!“
Die Vernunft geht ihm über, geht zu den Gleisen, zur Gottesmutterkirche über den Zaun und sucht Larissas Stapfen im Schnee: „Sie hat mich verdreht, und ich dachte, sie ignorieren zu können.“ In den Briefen an Petra zwischen den Zeilen, in den Seminaren und noch schlimmer des Nachts hat er sie an sich geklebt. Mit Flüchen im Mund: „Ich müsste mich stellen. Als wäre das Liebe! Ich liebe sie nicht, nie, liebe nur den Reiz, das Neue, ihre Lust, den Sog unter dem Nabel. Ich habe es bloß noch nicht vorher gehabt. Aber das kann ich mit jeder X-Beliebigen haben, auf der Straße – das Straßenmädchen, die hinter der Ecke –, nur mit reinem Gewissen dazu. Liebe sind höhere Werte, der Wert seines Ichs, das Zusammensein, das Danach, das Leben zwischen der Lust.“
Und Martin verlangt es sie zwischenzustellen, sie zu weisen, ihr zu zeigen, wie sie eigentlich ist, auszuspielen, zu flirten und dann zu ironisieren, sich lustig zu machen, Freunde bloß zu sein, selten sein und vorbei: „Nichts bleibt in der Asche.“
– Er denkt an Petra, an ihren Anfang, wo es auch prickelte, spannte und über den Rücken auslief. Freilich war es da schon verpackt, fassbar, erklärlich, nie über den Abhang gehängt, war immer noch wissen, wo ist der Kopf, wo Wasser, das Tuch, wann raus, wann die Tage, und er konnte sogar reden dabei. Es war wie ein gutes Gericht – schmackhaft, unnötig-nötig, ein Notlicht bei Nacht und erledigt. Das Leben ging weiter, eine Pause zum Luftlassen war wieder vorbei, ohne Erhitzung und ohne Erkältung. Petra verstand seinen Reigen, neigte sich ein in Reih und Glied, verstand die lasche Figur, zum Abstürzen gerade genug, gerade, mit viel Mühe auch manchmal, und man nahm die Finger zur Hilfe dabei. Schließlich war er ein Mensch, war überzeugt, dass Liebe über dem Gürtel liegt und sprach von Petrarca und Dante: „Ein Mädchen ist Reiz Stimulanz, und das Gedicht ist der Akt, die wahre Erfüllung. Wäre die nur mit dem Mädchen, fiele die Poesie mit ihm in den Sumpf. Herumtasten, fingern, sich aufpusten, ein wenig sich abtun ist grad’ in dem Maß. Die Haupt-Arbeit liegt mir danach, die Hand auf dem eigenen Geschlecht und leichte Musik in den Hosen.“ – Petra hat dies immer begriffen, hat nie ihn gedrängt, hat ihn genommen wie er „da-war“ vor ihr: ein wankender Zweig ohne viel Blut. Und sie hat sich selbst sublimiert, hat gelesen, genäht und Figuren geknetet aus Lehm. „Schöpfertum ist sich nicht stören, alleinlassen gemeinsam“, hat sie einmal gesagt. Man isst, spaziert, kauft ein, geht ins Kino, zu Leuten und ist wieder allein. „Die Leidenschaft liegt in der Tätigkeit selbst“, gähnte Sarodnick und rekelte sich oft auf ihrem Sofa, bequem. „Man schöpft mit der eigenen Kelle.“ – Was ist da schon Liebe! „Wie Latschen, wie Kinder in die Welt, wie Ehe und Spät, wie eher den Tod.“ – Auch Petra ist tauschbar, bloß ist sie für Martin nicht übel – übel wird ihm nur manchmal dabei. „Hat sie nicht alles in sich?“ – Sarodnick hat keine Zeit da anderswo noch zu suchen. „Als fände ich besser als sie! Irgendjemanden muss man wohl haben“, meint er scheinklug und ist nicht ganz sicher dabei: „Eine zweigestrichene Eins. Und zum Masturbieren eine Dirne fix bei der Hand. Danach wieder die Eins.“ – Mit Petra scheint es bequemer. „Liebe? – Eine Laus über die Leber. Ich kann mich sehenlassen mit ihr. Sie hat Geist, stellt das Essen, die Wärme, macht mir das Bett. Solche finde ich nimmer. Ein Volksspruch, ein Lächeln wenn nötig am Platze – sie weiß, wo Messer und Gabel sich legen, und mit ihr trudelt viel Zeit in den Tag. Dagegen Larissa: wohnlos, hauslos, elternlos – ihr ist alles egal und ganz schnuppe. Sie ist zu schön. Man kann sich nicht zeigen mit ihr. Auf ihren Lippen ist die Hure geschrieben. Jeder Blick von ihr geht in die Lenden, und sie ist ohne Geschirre, frisst dich mit Haaren, frisst die Butter vom Brot. Lacht sie, will sie ins Bett, in den Wusch, zwischen die Beine, und die schwingen wie Fiber von weit. Zu schön! Schönheit für alle, zum Reinbeißen – Beißen auf hohlem Zahn. Ich habe noch nie ein vernünftiges Wort ihr gesagt. Sie macht zum Idioten. ‚Der Erste!‘ – Gut, aber bestimmt nicht der Letzte. Ein zufälliger Fall. Wenn nicht ich, dann ein anderes Ich. Sie ist mir in der Brunstzeit gekommen, und nun ranzt sie schon monatelang. Es ist ihre eigene Sache. Für Hurerei hat man früher den Frauen die Haare geschnitten. Sie hat es selber getan.“
Sarodnick beobachten den Zug nach Sagorsk: „Da ist Godunow begraben. Und Eisenstein hat ihn herausholen wollen, diesen Zarenmörder, den sich selber Krönenden, den Zar-Epigonen, das Ende von Russland im Lied und in mythologischer Linie – eine Todlinie und Todbringerin auch. Aus Sagorsk schaffen und über die Leinwand! Ein anderer Godunow-Epigone sagte ihm: ‚Nein!‘“ – Der Zug fährt zum Grab, und an den Fenstern schauen Gesichter gleichgültig gleich, singen die Gleise, rasen die Räder achtlos wohin – nur in Bewegung. Gesichte im Fenster, zwischen den Gleisen, zwischen den Gräbern, zwischen Bewegung – zu dem Vergessen – , die Gräber, das Ende, Gesicht.
Sarodnick kreuzt die Geschichte, seine Geschichte – Larissa und Petra, das andre Geschlecht –, kreuzt die Geschlechterbewegung. „Ein Mädchen ist Statik, ein Bild, hingestellt in die Ecke des guten Gewissens, kontemplativ, mit Staub auf dem Rahmen. Entweder Himmel, Anhimmel, geschlechtsloser Engel, auf den Knien gestanden, ein Reim oder: die Erde, die Mutter, das Haus, beinlos – Beine unter dem Schemel. Dazwischen liegt die Hölle allein – zwischen den Beinen –, der Sündapfel, der Vertreib – gedankenlos, kopflos, Verschlucken“, antwortet Martin dem Herzen. „Ich muss Larissa in den Himmel mir ziehen, dann macht man Verse auf sie. – Schönheit abstrakt! Aber zur Mutter taugt sie einen Pfifferling nicht. Also zum Petrus mit ihr, oder ans Kreuz. Dafür hingegen ist es noch Zeit; es muss kalt werden zuerst, abgestellt, ranzig, zu Butter.“
Martin holt den Zug wieder zurück, setzt sich in die Gleise und schaut auf die Sterne. „Winter. Er beruhigt die Knochen.“ Und er sehnt in die Ferne: „Fernfahren mit diesem Mädchen. Ruhig. Nur Knochen.“ – Dann schreibt Sarodnick einen Brief, einen Zettelbrief an den Rand, ohne Rand: „Larissa, Sonntag früh in die Ferne …“