Kitabı oku: «Ostexpress in den Westen», sayfa 2
„Zum Kotzen, der ‚Faust‘! Der zweite Teil ist zum Vergessen.“ – Monika schaute die Könige alle in Leipzig, und Sarodnick hinkte voraus. „Über das Leipziger Ballett kann ich wohl richten“, spürte er und kannte ihre Tänzer sehr gut, ihr FF, ihre wie Faltern schwebenden Finger, ihr Freifeist und -geist, ihr fahrendes Fisteln, und er lockte sich mit in dem Spiel an den Hoden und ließ sich austanzen am Schweif. Ein Ausguss lief über die tanzenden Körper, lief über und goss manche Male aus Martin heraus. Es war ein Ringeltanz zum Anfassen unter dem Bauch. Petra freilich zog ihn vom Buhlen in ihren Sommer, und sie blitzte im Zimmer mit Teppich und Blumen. Da konnte Martin nicht anders, kroch in ihr Sofa und stellte die Schuhe auf ihre Löcher. Geborgenes Nest, eine Schwalbe im Herbst, Schwesterngeliebte – so nahm sie ihn auf. Sein Vater und seine Mutter waren entschuldigt mit ihr und ihre Flüche vergessen gemacht.
Der erste Geliebte. Die Erste geliebt. Zweiseitig klebte die Angst, es zu nehmen, und erst nach langen Monaten hemmte sie aus: Sie gruben sich ein – vorsichtig, rücksichtig, den anderen nicht störend im Tun. Es war Liebe ohne Schreie und Schmerzen, ein Dahinschaukeln, ein Interruptus – man unterbrach sich mitten im Wort: „Was wolltest du eigentlich sagen?“ – „Ach, nichts.“ – Zu hoch mutete die Erziehung im Fleisch, war eine Not nur verrichtend: „Nichts. Mache nur weiter“ – es war der Schreck vor dem Später, und weil es nun einmal anders nicht ging, war eine Bindung, die bindet und löscht – gleichgerichtet auf Flammen zu Glut: „Das Feuer schüren, solange es löscht.“ – Jetzt ist es in Sehnsucht verstellt, ist „nicht wichtig“, und Petra ist eine Fiktion – Petra ist Liebe. Wie soll er da raus? –
„Wir sind angekommen!“, erinnert ihn Monika unversehens an Moskau. „Was? Schon?“ Ein Wischen auf Scheiben, ein Tuscheln, und das Stechen im Hirn. Wieder Musik und wieder Plakate und Fahnen und Menschen.
Der Junge irrt, stößt sanft gegen die Leute und Rufe, gegen Wartende mit Schildern unter der Brust. Um jeden beschriftenden Bauch scharren die Neuen, die angekommenen Deutschen und ordnen sich zu. Für Sarodnick dagegen warten kein Schild, kein Institut und kein Ruf – er steht den Namen im Rücken. „Wo ist Monika nur?“ – Ordner treiben ihn weiter, ins Gitter, zu neugierigen Augen, die nach etwas ihn fragen. „Ich …“, steckt er bloß ein. „Wenigstens die Koffer irgendwo stellen!“ –
Der Bahnhof ist wie eine ausgetretene Wiese. „Farbiger“, denkt er, „Farbe vergossen für Jahre.“ – Eine Frau aus der Botschaft verzagt: „Auf meiner Liste finde ich nicht ihren Namen. Aber temporär … Ich kann telefonieren.“
Man geht „vorübergehend“ zur Universität – zu einer fremden. „Da sind Betten. Und später regeln wir alles von selbst.“
2
Kunstleder im Arm rollt Sarodnick auf der Treppe für Götter, für die Gestürzten, in marmorne Schächte: Die Moskauer Metro gibt ihr Karussell. In Steinen setzen schwingende Fäuste, und Mosaike sind in die Flechten der Haare geschnitzt. Halbwärts auf Flitter beugen sich brustfest Ritter vom Amt zu dem hastenden Volk – Mitfahrervolk –, zu den schwankenden Netzen und Taschen. Nichts ist zu schade hierfür. Die Wände sind mit Edelsteinen besetzt, und Lenin liest sich in georgischen Lettern. Im Überlicht steuern die Scheinwerfer aus, Kathedralen wanken unter der Erde Öffentlichkeit, Burgen und Schlösser steigen aus der Legende, und mit ihrer Freizeit im Schoße sitzen die Mädchen mitten darin. Ihre Zimmer aber schlafen auf Erden. Hier jedoch sind ihre Stunden, das Buch, der Freund und der Kuss. Unterstellen, um zärtlich zu sein, anonym sein, schön in dem Zelt. Die Sackgasse wird zur offenen Tür – allein und gemeinsam, riesig und klein – zu einem Tempel für unheilige Zeiten, zu einem Satzzeichen in einer wörtlichen Rede. – Sarodnick lädt sich selbst in die eisernen Betten des Internats, irgendwo weit im Moskauer Süden. Die Nächte sind heiß, und herbergig ist die Hoffnung nach Klärung – von Botschaft aus Botschaft – das Hoffen auf das eigene Bett. Er streift die Vertikalen zum Himmel, verdreht die Lomonossow-Universität sich von den Seiten, die wolkenhoch sozialisiert. Der Wunsch ist verhangen, das Wider zu den Kratzern im Westen: Kaukasische Berge, gedrechselte Wertarbeit unter dem Tisch, und eine Höhe ist „um Gottes willen“ erreicht. Für die Besten der Besten ist es gemacht, sind Volkshäuser für die Verdienten des Volkes. Man gab ein Exempel, das Exempel genügte: ein Vorzeigestück. –
Die geplante Versammlung am Morgen fiel aus, wie alle Versammlungen ausfielen, und man traf sich nur kurz, wie geniert, im Hofe der Uni, war gepresst von dem Mittag der Hitze. Ein Vertreter der Botschaft teilt sich mit – knapp, blitzknapp und leise:
„In dieser Nacht haben unsere gemeinsamen Streitkräfte des Warschauer Paktes die Grenzen zur Tschechoslowakischen Volksrepublik überschritten und haben damit den Weltfrieden gerettet.“ – Was für schreckliche Hitze! Irgendjemand ruft: „Bravo!“ Der Botschafter packt zusammen, verschwindet. Zweihundert Jungen und Mädchen sind wieder allein. „Das muss ausdiskutiert werden“, sagt einer. Keiner.
„Später! Ihr bekommt Direktiven.“
„Diskretion und Disziplin wahren!“
„Die Unterkunftsfrage wäre zu klären.“
„Die Essensmarken bitte bei mir!“ –
Warten und Teetrinken – russischer Tee mit viel Zucker.
„Das schlafft deine Nerven“, hatte Sarodnicks Großmutter gemeint und ihm den Topf mit selbstgemachtem Kandis heimlich gereicht. Heimlich musste es sein, die Eltern waren dagegen: „Das Unkraut! Der schmutzige Zucker.“ – Heimlichkeit war eine Zier in dem Haus, heimlich schmeckte es besser, heimlich sündigte es sich, heimlich hörte man westliche Sender, heimlich kam eine krumme Frau, um in der Zukunft zu lesen, derweil der Vater auf Versammlungen einstimmig wählte. Probleme lösten sich hinter vorgehaltenen Händen, und die Hand schob sich schnell in den Mund und manchmal auch tiefer – zum Kotzen war es.
Sarodnick hielt sich daran und hält die Hand gegen die Sonne, um von den Leninbergen zu schauen. Moskau ist dort, der Horizont seine Heimat und Petra und die Panzer, die fahren. Er nimmt die eigene Faust mit zu Hilfe und sucht die Zeitungen ab. Doch die deutschen sind gestern und hinken, nur die sowjetischen winken und strahlen:
Kinder und Mütter schmücken Soldaten. Martin kann die Buchstaben lesen, die aber geben ihm keinen Text: „Frieden“ und „Freundschaft“ – und Flechtwerk zu Prag. „Verdammt, diese Sprache! Es hat keinen Sinn.“ – Monika müsste er finden. Gleich an der Lubjanka, am KGB, hat sie ein Zimmer, in einem Haus mit viel Glas und aufgelockerten Mauern, mit Flügeln, Balkons und gestaffelten Fronten, mit krummen Winkeln und Winkeln, die tolldreist sich bilden, mit Treppenhäusern aus Licht: ein Wohnheim-Konstruktivismus. Und Martin erbaut sich darin.
In dem Haus teilt sich Monika den Raum mit einer Jüdin und einem georgischen Mädchen. Sie sind freundlich, und beide gewöhnt als Dreiheit zu leben. Die Jüdin ist rund um den Tisch, dunkel, untergestellt, mit offenen Augen wie Grauputz und Seide. Die Georgierin dagegen ist groß, gliedrig, mit olivenem Kopf, schwarzen Zopfhaaren über den Schultern und einem sehr lang gekrümmten Hals. Sie ist eine Frau aus den Epen, eine Unwahre, Ungefasste, mit schiefem winzigen Mund und hängenden Augen voll Ernst. Aus Suchumi stammt sie, und Suchumi hat Wasser und Berge und Honig. Martin lässt die Finger dran kleben und trinkt grusinischen Wein. „So tanzt Europa“, zeigt er den Mädchen, ist weit weg von den Körpern und sucht mit Gesten verständlich zu sein. Sie lachen: „Überhaupt nichts verstanden …“ – Er geht. Monika bringt ihn zur Treppe. „Ich hab’ dich gesucht.“ – Sie lässt ihren Mund ihm wie damals in Halle am Bogen, und es hat etwas an sich, etwas Wohliges, Sanftes, hat etwas von der Treppe dazu. Wie das Eisen stützt es, gibt den kühlen Kopf wieder, die Hilfe, die er jetzt braucht. Eine verschlüsselte Liebeserklärung murmelt er über die Diele, ein verhangener Nebel, der die Banalitäten verhüllt. Doch die mag sie erst recht nicht, mag sie ihn auch.
Monika ritzt und formt seine Sprache – eine Sprachführerin – und führt durch die Stadt.
„Entschuldigen Sie bitte, die Filmhochschule …?“ – Es ist am anderen Ende der Stadt, Nord weit und weg.
„Wie viele sind Sie aus Ihrem Staate?“, fragt der Direktor, und Monika springt in die Lücke, sagt:
„Einer. – Oh, der Martin, Herr Sarodnick kann alles verstehen, nur sprechen ist für ihn noch zu schwer, wegen der Scham …“ – und sie tritt ihm auf die Füße, so dass Martin zustimmend nickt. „Ein Vorbereitungskurs ist nicht nötig.“ – Der Direktor ist verführt von dem Charme: „Dokumentar- oder Spielfilmregie?“
„Spielfilm natürlich.“
„Das wird sicherlich schwer“, spricht der Mann und meint es so gut wie versprochen. Monika ist ins Institut aufgenommen, und der Direktor gibt ihr die Hand.
„Herr Sarodnick, hier!“
„Natürlich, Frau, Fräulein … bloß ‚Spielfilm‘, ich weiß nicht …“
„Es steht im Vertrag.“ – Wer hat Verträge gelesen?
„Gut. Kommen Sie in drei Wochen!“
„So lange wartet der Herr?“
„Das ist seine eigene Sache.“
Das Internat ist ein Steinklotz an der Jausa, ein nebenseitiger Arm von der Moskwa, am Bahnort nach Norden Sagorsk. Die Tataren hatte man nah von hier aufgehalten im Mittelalter am Fluss, der jetzt fast gänzlich weggetrocknet und bald nur noch die Erinnerung lässt. Hinter den Schienen ist ein Wald bis zum Sakolniki Park ausgeworfen, mit Birken, wie es in Büchern oft steht. Der Lärm der Züge weht in die Etagen des Heimes und zieht den Geruch der Bäume nach sich hinein. Die Fenster schmücken den Rest. Der Bau duldet den Zweck, die Unterbringung von Menschen. Er ist ein Zelt für den Winter, übereinander gestockt in fünf Reihen. Die erste ist für die Aspiranten gezogen, die zweite für die Ökonomen und Kameraleute, die dritte für Maler und Szenaristen, die vierte für Schauspieler und Regisseure, die fünfte für Mädchen. Vier Stöcke – vier Leute im Zimmer, drei Leute – wenn man drei Jahre schon wohnt. Jede Zeile fließt in die Küche, in die Toilette, in die Waschräume aus. Im Keller wärmt eine Dusche, darüber liegt eine Kantine, darüber das Leben, darunter aber die Erde und das Gewässer der Jausa von eins.
Ein Junge, zwei Koffer, zwei Taschen, zwei Zettel mit Stempeln würgen sich in das Zimmer im dritten Stock. „Tag Martin!“
„Ach ja, Fritz!“, sagt der eine von den Zimmerbewohnern.
„Martin. Sarodnick, Martin.“ – Die anderen lachen. Martin ist es ganz schnuppe, wo er seine Nächte verbringt.
„Willst du teilen mit uns?“ – Wladimir, Samwel, Wasili. Russe, Armenier, Bulgare. Im Schrank hängt ein Mantel, eine Jacke, zwei Hemden – Sarodnick richtet sich ein.
„Die Koffer wohin?“ – Ein Tisch, zwei Tag- und Nachtschränkchen, vier eiserne Betten, ein Schrank und ein mickriger Lautsprecher daneben geschraubt. „Ich brauche etwas Privates. Mit Schloss! Ich werde mit dem Internatsleiter reden. – Passt auf, dass niemand inzwischen was klaut!“ – Sarodnick geht.
„Deine Mutter hab ich gefickt!“, schleudert der Armenier gegen die Tür. Er kommt aus Tbilissi, wuchs auf unter Georgiern, lebte mit seiner Großmutter allein, denn die Eltern waren im VaterländischenKriege gefallen. Jura hat er studiert, als Advokat kurz praktiziert und beginnt „Regie“ heuer zu lernen. „Diesen Fritz, verdammten Scheißkerl, erschlage ich noch!“, schreit er und geht an die Luft, den blauen Schlips knotend, die Kunstlederschuhe sorgfältig hoch über die Knöchel geschnürt und die grau schlendernde Hose knapp unter das verwaschene Sakko geknöpft. Zeitlos sind sie gewaschen – die Jacke, das Hemd und der Binder –, zeitlebens sind die Schuhe gezeitigt, und bloß die Turnhosen wechseln von Jahr zu Jahr, wenn sie mal völlig verschlissen.
Am nächsten Tag ist Samwel mit den anderen schon aus dem Häuschen: Der erste Kurs fährt zum Ernteeinsatz – Kartoffel lesen und packen. Sarodnick dagegen hat inzwischen Zeit sich einzuleben, zu gewöhnen, einzurichten, Vokabeln zu lernen. „Wie gut, dass Monika ist!“ – Bis zum Abend büffelt, ächzt er sich durch und lässt Monika da, wo sie ist – es stehen ausreichend Betten.
„Frierst du nicht?“, fragt er, im Halse das Herz hörend, „unter der anderen Decke allein?“ – Und er streichelt sich ein, fängt das Gesicht und den Mund. Sie liegt wie die Ruhe daneben: „Geschieht es, gescheh!“, erwidert den Kuss, entkleidet von ihm sich die Haut. Martin tastet die Hand in sein Bein und spürt die Gleichgültigkeit bei: ein Mädchen, ein Junge – nah, lustig, lustzagen, lästig. Er hat nichts in den Händen, und Monika wartet aufs Ziel. Er hört seine Brust schlagen, lauter als sonst, und der Schlag wird zum Selbstschlag, schlägt die Lust nieder mit einem, und die Regung regt sich als Schmerz in dem Magen wie ein „Kann nicht“, ein „Ich kann nicht“, wie ein „Breit in dem Mädchen versagt.“ Brutal aber schmälert der Junge es nieder, und gewinnt mählich seine Macht über den Bauch: „Ich dachte, du hättest noch nie … mit einem Mann … – Mit jeder kann ich nun nicht“, beanstandet er und tröstet sich somit erleichtert. Monika weint:
„Einen. Einzigen. Einmal geschlafen.“
„Und doch!“
„Es war eigentlich nichts.“
„Und doch.“ – Sarodnick ist enttäuscht, sitzt auf der Kante vom Bett und wischt ihr die Tränen, wischt große Worte ins Dunkel: „Liebe ist rein. Not opfert den Geist. Verfrüht ist Finden vor Suchen, die Prüfung ist Leid zur Veredlung, die Zeit ekelt in Schnelle – schnelllebig, spannungsverladen –, es ist nur im Bett und ohne Sagen danach. Man schläft Langeweile verborgen … ich verzeihe es dir. Aber wisse es wohl! – Und dann ist noch Petra. Nicht einfach das Stück. Ich kann nicht wechseln wie Hemden; Treue vertrocknet nicht an der Leine so schnell. Alles ist mit dem Wind.“ – Seine Sprüche sind flattrig, gelesen, ohne Bezug in dem Bett, und der Körper des Mädchens entflieht verschämt in die Kleidung zurück. –
Nicht das erste Mal trifft Martin da auf den Kopf. Er kennt die Szenen, die Schlappen, aus denen er das Beste stets macht. Mit sechszehn fror es ihn schon, kroch er unter die Decke von einer Frau, und die Lust ging ihm fix in die Binsen. Nur der Schweiß stand gepanscht auf der Stirn, und er wollte rasch sich verziehen.
„Hast du ein Gummi bei dir?“, fragte plötzlich die Frau, und Sarodnick fiel es wie ein Stein in das Bett: Er fand Gott sei Dank wieder das Wort:
„Nein.“
„Dann lassen wir’s lieber.“
„Ja“ und „hurra“ – ein Jubel ohne Ekstase, aber Jubel trotzdem, ein Motiv für die ungeschehene Tat, für die Nichtfähigkeit.
Später traf er Ilona. Er kannte sie schon aus der Schule, kannte ihren Busen für zwei offene Hände, die Küsse vor ihrer Haustür, die ihn verschlangen, und seine Finger spielten gefurcht mit ihren Beinen daneben. In Leipzig war er ihr wieder begegnet, und ihr Körper stand vor ihm in den Tag, und er nahm sie ins Kino, spürte die Gier neben sich, die sich mit den Bildern der Leinwand synchronisierte, spürte das Bild nicht zu Ende und lockte daher zu sich.
Sie saßen in der Kneipe zur Ecke bei Brause, und Martin beobachtete das Licht im zweiten Stock gegenüber vom Haus. Seine Wirtin brannte noch wach, und erregt stierte er an Ilona vorbei zu den Fenstern: „Verflucht, die Alte findet nicht Schlaf!“ – Nach der fünften Limonade flackerte es endlich und löschte, und die beiden schlichen ins verbotene Zimmer hinauf. Martin nahm einen Likör aus dem Schrank und reichte den Trunk genau unter der Lampe dem Mädchen. Der Plan spannte sich auf, und Sarodnick drehte schnell an der Birne. Im Dunkel suchte er Schutz und versteckte Ilona ins Bett.
„Und weiter? – Diese Brause! – Ach, küssen, streicheln die Lust.“ – Er fühlte die Patsche in ihr, setzte sich zu, kramte im Handeln – schnell musste es gehen! –, tat so, als täte er ob, und die Kälte lief ihm über den Rücken. Ilona ließ sich gewähren, eine Erfahrung bediente sich ihr: „Dieser Kerl hat mit vielen geschlafen.“ Doch der Kerl stand nicht da wie ein Kerl, überlegte zu viel und verhedderte sich weiter im Stecken. Plötzlich warf er verzweifelt den Schuh, lauschte sich eine Frist: „Die Wirtin ist wach!“ – Einen Moment verharrte sie heiß, schmiegte sich schnell dann wieder an ihn und suchte die Form in der Hand. Wieder schleuderte er den Filz gegen die Tür:
„Die Alte!“ – und er zog sich was drüber. Ilona verstand nicht, schüttelte den faulen Trick von sich ab, fand sich zerknittert, erniedrigt. Die Wirtin trat ein.
„Eine Kommilitonin“‚ stellte Martin sie vor. „Sie kam ein Buch holen, mehr nicht. Indes, sie wollte dann bleiben – wegen der letzten Straßenbahn…
die ist nun schon weg.“
Die Hausherrin drohte mit Polizei, und ihr Nachthemd wehte beklemmend: „Besoffene Weiber bei mir! Ich kündige ihnen … unmittelbar … auf.“ – Verbraucht, ungebraucht heulte Ilona in ihrer Wohnung und schrieb zehn Seiten Abschied an Martin. Er hatte sie nicht mehr gesehen.
Linda, Frederike, Elke – die noch unberührt war und weinte ganz nackt: „Ich habe so Angst“, – und Sarodnick weinte mit ihr: „Dann lieber nicht.“ – Zufrieden teilte er ihren Dank. Petra, Monika … Sie rauchte. Martin strich ihr über die Haare, balancierte über die Sprache und setzte sich hart in die russischen Sätze, die anders sich setzen als seine, die weniger kalt, die verschiedene Worte für gleiche Begriffe sich nehmen und nach den Gefühlen klar unterscheiden. Eine Sprache, die nicht verallgemeinert, sondern verstreut, die sich in Räumen bewegt und wenig im Transzendenten, die Blutwärme hat, Traufe, ein Nest. „Sie klingt wie die Sinne.“ – Es ist eine Sinnlichkeit tief, reifend, beschreibend, und die Träger sagen mehr, was sie empfinden und weniger, was sie gedacht, sagen es geradeheraus, direktweg zum Du, wie ein Hinüber ins andere, über andere, Äußere, ohne Vermittler und Eigen. Die Gefühle genieren nicht mehr, schämen nicht Worte zu machen daraus, die für Sarodnicks Sprache abgenutzt schienen, abgegriffen, unsagbar, nicht wiederzuholen, banal. Und mit Genuss lernt er diese neue Sprache, den Ursprung, von klein sozusagen, wo alles frisch, neuwertig, fremd, wo man vorbeigeht und fragt: „Was ist das?“, und man antwortet nur: „Ein Garten“ –, und das Wort ist hier noch sehr rein, festgewachsen im Beet, ganz konkret „so und nicht anders“, das Wort schaut aus dem Gegenstand raus. Wenn alsdann jemand ein anderes Haus, einen anderen Garten ihm zeigt und sagt: „Das ist ‚Garten‘“, ist er verblüfft, ist es wie ein Missgriff für ihn, ein Ausrutscher, eine zweite Liebe, die kurz war und nur so heißt, um irgendetwas erklären zu müssen oder um eben gar nichts klären zu müssen. Leicht sind die Phrasen, die Schemen, die Schilder; man passt sich hinein und stopft Fragen mit falschem Bewusstsein. Indes war jedes Wort doch ein Ding, jedes Ding war ein Zeichen und jedes Zeichen ein Graufleck auf Karten. Sarodnick hat in seiner Sprache über Gefühle wie in einer Geschichte gelesen, als Bezug über Gedanken, weislich gehütet, und im Leben fand er sie fad, wertlos, unoriginell. Oder lag es nicht dort? Hat er bloß nicht sprachlos und sprachlich gefühlt? „Ich liebe“ war abgerückt und verloren. „Liebe“ in der neuen Sprache hingegen ist neu, nicht wirklich, noch nicht erfasst wie ein Haus oder Garten. Sie wächst nicht und schmeckt, sie ist kein Schulfach für Martin.
Dafür lernt er die Flüche, die mütterlichen, die Gesten, die unanständigen, nicht vernünftigen Worte, die die Launen nachzeichnen, die Stimmungen, welche weichstimmen, welche Lücken füllen und das Nichtweitergewusst, die Schmus sind für Ohren und für empfindliche Augen ohne Geschmack, schmutzig, ein „So-etwas-sagt-man-doch-nicht“! Erinnerungen sind sie von gestern, dass wider Erziehung noch strotzte oder vielleicht auch hauchende Nachwehen von Kindheit, von Kindheit-an-sich. Das wäre dann Freisinn, zwanglos, ohne Gepäck, ohne Kleider. – Zuerst wurde Sarodnick rot von den Fladen, unsicher, und er lenkte vorüber, sprach „schlafen“ und „mögen“, und der Anstand stand ihm dabei ganz gut. Er reckte in Sprachdisziplin und bog sich weg vom „Beim-Namen-Genannt“. – „So biegt sich das Deutsche ins Licht“‚ pflegte er es persönlich zu nennen. „Die Sprache ist voll von Dingen im Kopf, zeigt Denken im Namen, Hirnstriche, Reflexionen. Was aber spielt sich darunter? Wozu ist der Körper gesetzt? – Wir haben lateinische Formeln anstelle.“ Ein paar kluge, zensurfreundliche, für niemanden bissig. Wie drückt man Zärtlichkeit aus? Schon Niedlichkeiten sind träge, Verkleinerungsformen werden gemieden. Jeder spricht gleich. Sarodnick hört in die Graduierungen hinein, in das Beleben der toten Welt, der Natur. Und der Mensch tritt mit seiner Beziehung dazu. Ein Bund wird mit der Schöpfung gesiegelt, und das Wort gibt dem Menschen sein Bild.
Als Sarodnick gehen lernt sprachlich, und Samwel – Semjon, Sjoma, Samweltschik, Sjomotschka – ihn in das Fluchen einweiht, wird er nicht fahrig, wechselt nicht weg, sondern scheint Gefallen daran. Es ist ein Jenseits vom Wert, von klassischer Bildung und Klassen, geschöpft aus Vorkrieg und Vorrevolution, wo es Aborte und Fleckenwasser nicht gab.
3
Sie ist Turkmenin vom Kaspischen Meer, andererseits, jenseitig, zu Asien kaum oder gerade noch zugehörig und an Europa allenfalls grenzend. Ihr Volk ist eine Wurzel der Steppe, eine ziehende Horde mit Legenden auf Pferden, ein See zu den Bergen und mit Mädchen im Schlaf. Zu diesem noch aber hängt sich Europa und ein wenig Zivilisation, die Sippe versprengend, die Armut, die Wehr.
Sie hat noch nicht die klaren asiatischen Formen, diese Bewegung, das Lächeln, das Nicht-Ausdruckgenaue. Maja ist groß, aus weichem Ton farben, aus Früchten und Brüsten, aus Augen wie Kirschen im nachweiligen Sommer, dunkel und fallend: „Berührt sind sie noch nicht.“ Etwas Nachtschönes geht in sie ein, ein Lösen im Dunkel, zudem ihre Haare den Hals als Schatten bedecken, dessen Haut vom Meere entstieg, sonnengetrunken im Bad. Sie ist inmitten von Pferden gekommen, vom Zelt auf der Weide, dann sesshaft gemacht, den Schleier zerrissen, das Messer der Freier verworfen. Manchmal aber keimt es noch auf, fiebrig, kristallen wie Schnee und geblendet – ein Sturm, eine Braut, die wirbt und nicht gibt, nur den Zorn und die Klage. Maja ist da, schön, diamanten – ein Rohdiamant ohne Fassung am Ring, ein Preis in den Bergen, zur Erde gefallen und tot. Jedoch Maja möchte die Haltung, will den Schliff und die Stellung. Sie wünscht Europa zu sich, möchte die Freiheit, hat aber noch keine Übung darin. Die Männer begehren sie, fachen sie an wie das Feuer, sie aber will nur die Flamme, die Glut, die nicht löscht, ist rechtlos im Geben, im Wunsch, in ihren Gefühlen, und es verfliegt diese Gier vorschnell, vergebens.
Kennengelernt hat Sarodnick sie über Peter – ein Sohn der DDR-Nomenklatura – welcher Russisch beherrscht wie sein Vater das Amt, das seinen Sohn rettet vor Rettung, die freilich unsinnig ist. Denn Peter ist hier nicht am Platze, ist fehltrittig, hingeschoben nur von dem Vater. Es juckt wie auf Zwecken in ihm. Er ist ohne Ruder und Willen: Zehn Jahre Moskau haben in ihm ein Leck eingefressen. Nach jeder durchgefallenen Prüfung kommt eine Mitarbeiterin seines Vaters aus der Botschaft zur Schule und spricht – vier Augen – hinter Türen zur Traute. Man traut ihm über den Weg über den gestandenen Vater, der eine Seele von Mensch und unmenschlich, wie es das Regime so verlangt. Peters Freundin wohnt mit Maja zusammen, und Sarodnick verliebte sich allda, wie Blitze es tun: unangemeldet und heftig. Gemüter reißen Spalten auf in Lawinen, und man heilt, was gut ist, was jedermanns Sache, gut für tausend Jahre und mehr. Maja zerrt sich von der Innenwelt ab, die aus den Fugen geraten – Sippe, Eigentum, Patriarchat. Sie zerbricht an diesem danach, dem Epilog in dem Märchen, trägt sich selbst fort zu den Kindern, zu den Buchstaben und geschriebenen Bildern. Sie wird zum Leser gedruckt, schmilzt zu einfachen Zeilen und schweigt. Manchmal noch blättert sie von der Literaturgeschichte ins Leben zurück, aber ihre Siegel sind bar. Maja vergisst. Sie kann sich nicht mehr erinnern. Das Gestern ist vormals und weit und gelb wie abgestandene Molke. Ihre eigene Sprache hat sie lange verlernt, spricht Russisch, gibt sich europäisch, will frei sein, und kann es bloß nicht. Der Sprung geht in Jahre, und die sind zu viel.
Ausgelassen feiert sie sich, liebt die Abende mit der Musik, die Dämmerung, den Wein und die Tänze, sie liebt neue Gesichter, neue Gedanken, neue Kulturen. Dahinter aber birgt sich die Furcht vor Bewährung und Bleiben. – So ein neues Gesicht ist allenfalls Sarodnick auch –, sitzt ihr in den Augen und traut sich nicht, nicht seinen Augen. Fesseln möchte er sie, zielen, seine Spielregeln geltend machen für sie. – Maja kocht Reis, Hammel mit vielen Gewürzen. Die Becher klingen mit Wein zu der Musik, und man richtet sich ein in dem Zimmer mit den drei Betten. Martin tastet sich vor, befühlt Taten, sucht Gedanken zu setzen, ungesagt bislang in der Sprache. Doch die Ideen versumpfen, verwischen, wirren und treffen sie nicht. Wer kennt schon seine aufgezählten Namen, die Sprüche, die geklopften Zitate? „Novalis schrieb Lasker-Schüler und Conrad Ferdinand Meyer …“
„Bitte? Ich verstehe dich nicht. Geht man von Achmatowa aus, schließt der Ring um Block mit der Zwetajewa ab.“ – Die reden vorbei. Sarodnick kann es nicht nennen, sein Bedürfnis sticht nicht und verleitet, er ist an eine Mauer gestoßen, ein Inkommensurabel, eine Unlänge, die nicht ausdrückt genug. Wörterbücher nur brechen den Rhythmus, kalten, lassen schal, und Peter setzt ein wie ein Mittler, als Überbringer von Botschaften, die keine mehr sind. Man spricht aus seinem Graben heraus. Peter ist mühsam, schön und gut, aber ihm fehlt die Deutung, die eigene Soße, der Faden, der ködert. Man redet und redet – verschieden, verschiedene Welten – und ohne Händel dabei. Goethe ist ihnen nicht heilig, Kant nicht unbedingt Ausgangspunkt. Wo könnte Sarodnick ansetzen, Bezugspunkte gleiten?
„Fische, die liegen zu lange und riechen“, sagt er und lässt sich selbst im Trockenen stehen.
„Sandburgen!“, lacht Maja, „auf Sandkuchen gebaut.“
„Nehmen wir Hegel …“
„Nehmen wir die Bylinen“, schäkert sie.
„Und wenn Hölderlin in den Oden an Gott nebenging von der Erde …“
„Hast du Puschkin gelesen?“, stört sie ihn, und Martin weiß weiße Stellen, zeigt auf freie Rhythmen beim Schreiben.
„Das ‚weiße‘ Gedicht heißt freilich nicht reimen“, ist sie sich sicher dabei. „In Russland galt es lange verpönt solchermaßen zu dichten.“
„Die Deutschen schrieben derweil schon in Prosa.“
„Na und?“ – Ausgequetscht, saftarm, Unbeweise im Schwindel. Holt Martin einfach zu viel? Ihn stört das Atemholen in Sätzen, das Mischen mit Hammel und Wein:
„Zwischen zwei Bissen kann man nicht Kierkegaard klären.“
„Tanzt du mit mir?“ – Sie drückt seine Unzufriedenheit fest in den Griff und gibt ihren Mund: „Entschuldige bitte.“
Peter derweil lächelt betrunken: „Das alte Lied.“ – Seine Freundin holt ihre abgedroschene Platte aus dem Regal. Allein, Martin glaubt an sein Glück. Köpfe drehen und wenden, unwichtig ist das andere jetzt, lächerlich, laut.
„Küss mich und leg meine Haare um deinen Mund.“
„Um die Finger.“ – Wie leicht sagt man, was man gar nicht gelernt. Tausend und eines Gedicht.
„Die Lippen …“ Er fängt sich darin, lauscht auf den Atem.
„Ich möchte allein sein mit dir“, flüstert er kühn, sagt es ohne Gewissen, denn er ahnt, dass sie nie käme: Zu sehr liebt sie das Spiel, liebt den Flirt mehr als den Flirter.
„Ich verbrenne mich nicht“, flüstert sie und tanzt in die Nacht.
„Ich habe Verlangen nach dir.“
„Vor meiner eigenen Schwäche habe ich Angst.“ – Sie haben beide gelogen. Eine Katze. Man tut, als würde man sein.
„Wir sind an Oberflächen gewöhnt.“ – Sie können nicht lieben. „Du schläfst nicht mit mir.“
„Woher willst du das wissen?“
„Beide wissen wir es.“ – Die beiden küssen, ohne zu fragen, ohne Herzklopfen, küssen die Hülle ohne den Kern.
„Wir treiben sie aus.“
„Was?“
„Triebe.“ – Beide könnten es sagen.
„Zutreiben über die Schwelle.“
„Ungetrieben davon.“ – Wie schön zu sagen: „Ich möchte dich haben“, nach dem Verzicht.
„Wir sind sicher im Gehen.“
„Wir tun, als wäre das Gegenteil von.“
„Wovon?“
„Von dem Zauber.“ – Sie bezaubern sich roh, und sie lässt ihren Körper verwundern, befühlen: „Wie schön bin ich so.“
„Du bist ein Wunder für sich.“ – Ein glückliches Paar, ein Plakat, buchstabenlos scheinbar, aber gekonnt. Sie verstreichen den Abend, und Sarodnick legt sich beruhigt ungestillt hin. Er hat sich verliebt, hat Maja in den Schlaf eingewiegt und ihr etwas von Glück, von Freude erzählt. Ungewichtig ist er und gleich, und er schreibt einen Brief sich nach Hause, schreibt von Sehnsucht, die sich gut sieht auf dem Papier, von den Tagen, die kommen, die sich begegnen, und schreibt an Petra in Leipzig.
Gern liest Petra die Briefe, die Tränen, den Wink aus dem Zug, den Brunnen der Zeit. Sie sitzt in der Mensa alsdann, daselbst, wo er einmal gesessen, gegessen ohne Gabel und Messer – und in der Rechten ständig ein abgegriffenes Buch. In sich fraß er hinein, haarstrebend aß er Seiten und Töpfe. „Ein Tier!“, hätte ihr Vater bemerkt oder „so einen“ gar nicht gemerkt. Aber Sarodnick war dies egal, ein langer Weg stand bevor, ein Hunger für sich. Das Mädchen dawider ist Tochter, ist an Wochenenden daheim bei den Lieben, beim Vater, bei sich. Alther stammte das Geschlecht und die Sippschaft, hatte nach allen Kriegen gewonnen und in die vollen Hände gefüllt. Sie überleben, leben lang, und der Staat ist auch nur ein Lied mit einigen Strophen. Alsdann ist der Alltag, und für Habenichtse gibt es nur noch Akkorde – im Tempo bremst sich die Zeit.
Petra gefiel dieser Junge dort zehn Meter weiter. Das Fremde stach sie, zündete sie, das, was sie zu Hause immer verachten, das sie einfach nicht sahen. Zu „erzogen“ war sie jedoch, um ihm dies zu beweisen, um eine Deutung ihm zu gewähren, und nur über „Ecken“ erfuhr Sarodnick es, aus einer halbseidigen Quelle im „Tempel“ von Nerus, der ihm unter dem Dach zuflüsterte: „Unter einer Bedingung!“ Er hatte das doppelte Alter vom Jungen, und er stieg von seiner Zinne über die Straßen, in die Cafés, in die Toiletten vom Park. Seine Haare waren wie Atlas gekämmt, und er puderte sich rosa, zog seine Brauen zum Strich. Hochauf balancierte er dann, fuhr von dem Bahnhof zur Großen Oper und strich die Bedingungen ein. Dies gefiel Sarodnick gut – wie er selbst gerne gefiel –, und er duldete gern sich zu einem Becher zu laden, zu einem Schmaus, ließ unterhalten, ließ es befühlen. Nerus verehrte die Seide, schenkte mit offenem Arm, und reichte Wäsche zum Kleiden, zum Anziehen, aber „sofort!“ – Sarodnick zog in die Hose, über das Hemd und zeigte, was frei war an ihm. „Wenn der mich anfasst, haue ich drauf!“, hielt er sich offen und stand nur in Mode, ging auf den Steg, den Körper vom Dache geneigt.