Kitabı oku: «Ostexpress in den Westen», sayfa 3

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„Du bist sehr schön“, sagte ihm Nerus, rieb an den Fingern von Martin und ließ sich dann hinter dem Vorhang ins Bett, in dem ein anderer Junge einlag. Sarodnick hörte sie kichern, sah die Schatten kippen im Stoff und packte sich zu, sagte: „Danke. Glückauf!“

„Einen schönen Gruß auch von Petra“, hielt ihm die Stimme vom Jungen hinter dem Store auf, „ich studiere mit ihr.“ – Und dann quiekten sie wieder. Mit Petra in dem Salut ging Sarodnick fort. Er wägte, er zirkelte ab: „Sollte er den beiden da glauben?“ Und er entschied sich für den Versuch.

Sarodnick steigt in die Kantine, nimmt sich die ranzige Butter vom Brot und gießt den Joghurt in die Gedanken. Dann streckt er alle vier zufrieden ins Glas, kauft eine dicke Zigarre und schenkt sie dem alten Wächter am Eingang: „Wenn Monika kommt, lass sie passieren. Das ist diese Blonde mit dem Zeisiggesicht?“

„Wie sieht ein Zeisig denn aus?“

„Sehr fein und sehr blass.“ Der Alte pafft den Qualm durch die Nase: „Ein wenig dick ist sie schon.“

„Kannst du durch die Ohren ausrauchen?“

„Kann ich, aber das Kraut ist zu schwer, es bleibt hängen im Schädel.“

„Das nächste Mal schenk ich dir eine aus Kuba.“

„Oh, Kuba! Das ist eine saubere Sache.“

„Mit Schleife am Bauch.“

„Schleifen sind nicht mehr in Mode.“

„Wieso?“

„So.“

„Ich wollte mich eigentlich baden.“

„Das solltest du öfters noch tun. Die Dusche ist unten im Keller.“ – Sarodnick schlägt das Handtuch gegen den Rauch und bläst seinen Atem gegen die Treppe zum Keller. Leichtherzig verliert er das Hemd und die Hose und hüpft singend und pfeifend aus dem Käfig ins Bad. Dampfwolken stehen im Wege, und er sieht sein Nacktes nicht vor den Augen. Aus dem Brodem steigen Gekicher. Sarodnick nimmt den Nebel als Nebel und zwitschert aufs Horn – er sucht eine freie Kabine.

„Besetzt“, sagt eine sehr hohe Stimme, und Martin erkennt an den Linien die Frau. Nun ist der Dampf bei ihm runter, und die Schwaden klären sich auf. Ein Mädchen ist wie das andere hübsch, und sind dazu noch alle ganz nackt. Sie johlen und jaulen vor Freude: „Ein Mann hat sich verirrt, hat in den süßen Apfel gebissen.“ – Aber Martin ist nicht zumute nach Spaß. Er zieht seinen Mann zwischen die Beine und rennt, was das Zeug hält, durch den Feix und die Äste zum Biegen. Beinahe hätte man ihm ein Loch in den Bauch mit der Schleife gelacht, beinahe wäre alles schiefgegangen in ihm. Jetzt ist er gerettet im Hemd.

„Wieso, was ist los?“, fragt er den Alten mit dem großrunden Stummel in der Hand. „Zieht schlecht, zu feucht.“

„Ich war in der Dusche.“

„Erkälte dich nicht.“

„Da sind Mädchen in ihr.“

„Glück muss der Mensch haben.“ – Aber Sarodnick hat das Glück von der anderen Seite – er hat sich die Finger verbrannt.

„Verdammt heiß!“

„Warum sind die Mädchen da drin?“

„Warte, was ist heute für Tag?“, fragt der Pförtner und die weißmehlige Asche rollt ihm aufs Jackett.

„Dienstag.“

„Dienstag. Natürlich, da baden die Mädchen.“

„Aber du hast doch gesagt …“

„Morgen ihr, übermorgen wieder die Mädchen, Freitag ihr …“

„Und Sonntag?“

„Sonntag sind die Läden dicht und geschlossen. Sonnabend die Mädchen, Montag ihr …“

„Weshalb überhaupt Sonnabend?“, ärgert sich Sarodnick laut. „Weshalb Samstag die Mädchen, weshalb wir Montag, weshalb dieser Scheiß?“

„Die Frau badet vorher, der Mann nachher. Ganz einfach.“ – Und der Alte zieht an dem Rest seiner Zigarre.

4

Die arbeitswillig Gemachten kehren zurück, fröhlich gebräunt mit selbstgebrannten Sprit und alten Ikonen als Dank von den Bauern. Zum ersten Mal begegnet Sarodnick beidem, und er trinkt den Sprit auf den Brettern, die schwarz glänzen und deren aufgemalte Gesichter aussehen wie ein und dasselbe. Wladimir lagert sie verpackt unter das Bett wie einen Schatz, und wenn Martin bittet: „Ich möchte sie sehen“, verachtet ihn Wowa von seinem Estrich herab: „Da. Aber für eine Sekunde. Was verstehst du schon davon!“ – Sarodnick ist verblüfft:

„Ich kenne doch die Heiligen wie du aus der Kirche.“

„Aus eurer Kirche. Es ist nicht die unsere. Die unsere ist gereinigt, sie hat das Bild umgestürzt.“

„Das Bild?“

„Die ewige Form. Bei euch ist es die menschliche Grenze, das Unheilig-Gemachte, die Frau von der Straße. Die Sixtinische steigt herab und nicht in den Himmel, ab zu Fleischmüttern und zu Sybillen. Ihre Heimat ist das florentinische Waschhaus, die Gerberei, und der Vater isst dazu in der Kneipe zu Mittag, in der gleichen Spelunke, in der Winkelmann sich wälzte im Blut.“

„Gott ist zum Menschen geworden“, sagt Sarodnick nur.

„Der Mensch ist sterblich“‚ erwidert Wolodja, „aus seinem Leichnam formt sich die Welt. Auf seinen Schädeln geht der Mensch in die Irre und zerstört die Illusion von dem Ich. Der Mensch hat seine Endform erreicht, er ist bloß ein Elend, und zurückbleibt das Bild.“

„Unseres Bildes, nicht wahr, und es hat …“

„Hat den Menschen vergöttert. Der Unhold trat an die Stelle von Kunst.“

„Er trat aus der Geschichte, aus dem Gemeinen.“

„Du sagst es: aus der Gemeinschaft. Der Dieb ersetzte die Kunst. Wir hingegen in Russland gingen andere Wege. Das Einzige wurde das Werk, das Bleibende, entblättert vom Zufall, vom Ein-Fall. Wir setzten die Messe zum Sakrileg, setzten ins Rituale, ins Zeitlose ein und verklärten.“

Sarodnick ist gelähmt, unfähig zu streiten, kann kein Gegengewicht auf die Waage ihm legen, und er sagt nur: „Und Lenin?“

„Als ob es der Mensch wäre, den man vergöttert! Es ist der Träger einer Idee, wie Johannes für seine Taufe, wie Myschkin bei Dostojewski fürs russische Volk. Steingewordene Schrift ist es, ein Mosaik in dem Chor. Die Symbole aber sind gleich dem Baum Jesse, ein Ausrufezeichen – sie sind Metaphysik.“

„Jedoch gab es die Revolution.“

„Das Volk hat Russland erlöst, nicht das Gewehr, nicht die Schalmei. Unsere Musik ist die Offenbarung, sind die Ketten vom Manifest, sind seine Messer.“

„Es ist wie ein Leitmotiv“‚ schwankt Martin in den Gedanken, „eine Leitmutter, Das Leben an-sich.“

„Neu leben“, erwidert Wladimir nickend, „ein Gedicht für die Taten. Als hätte Lenin ein Menschenantlitz! Das hat er spätestens auf dem Panzerwagen auf dem Finnischen Bahnhof im April 1917 verloren. Er hat es selber zu Grabe getragen, er hat Uljanow zu den Akten gelegt.“

„Und ist in die Geschichte getreten.“

„Aus ihr“, antwortet Wowa‚ „und wir stehen wieder am Anfang: ‚Verehrung des Gottes‘ oder wieder ‚Image‘?“

„Der Anfang vom Bild.“

„Der Anfang von Gott.“

„Steckt eure Ärsche gefälligst unter den Altar! Ich kann das eigene Wort nicht mehr hören“, flucht Samwel darein und wirft die Ikonen Sarodnick auf die Matratze. „Verfeuere sie, Fritz, dann sabberst du wenigstens nicht mehr so dämlich herum.“

„Mit dem 8.Thermidor muss man wieder beginnen“‚ will Wiadimir noch ergänzen, doch Sjoma schreit: „Schnauze!“

„Ich habe gar nichts gesagt“, rechtfertigt sich Martin.

„Dann glotz nicht so hinterfotzig genial!“

„Ich? Ach lass mich!“

„Ich lasse euch beide gleich über meinen Sack springen! Und deine Großmutter kann ihre Gräten auch schon breitmachen.“

Samwel spricht mit einem kaukasischen Sang, voluminös, weit in die Kehle gezogen, und er lässt die Vokale rund auf der Zunge zergehen, bevor sie herausfliegen, behauen, kraftvoll wie Exkremente. „Kellersprache“, denkt Sarodnick‚ „armenisches Ghetto, der Kampf um Behauptung, gegen Verachtung, gegen das Muss des Minderheitseins. Da konnte man nicht zimperlich sein.“

Sjoma besuchte die georgische Schule und lernte Russisch nur als Fremdsprache. Zuhause sprach er armenisch, auf der Straße georgisch und in den Ferienlagern russisch zuweilen. Indes, keine der drei Sprachen beherrscht Samwel gleich, keine perfekt, keine aus vollem Gemüt. Er schreibt grusinisch – spricht aber schlecht, spricht armenisch – schreibt jedoch schlecht, er denkt manchmal russisch und schreibt grusinisch armenische Träume. „Russisch ist unwirklich“, meint er, „Amtssprache nur, eine Verbindung, eine Notwendigkeit.“ – Aus ganzen Rohren wurde Sjoma diese Sprache erst in der Armee beigelernt, bei der Marine: fluchen über dem Bord, ins Wasser spucken und staunen darüber, was es in seiner Haussprache nicht gab. Und der Fluch wurde heilig für ihn.

„Du lästerst wie die Mongolen“, sagt Wolodja schmähend, „die haben uns diese Scheißwörter gebracht, brannten uns ihre Flüche ins Fleisch, und wir latschen sie heute noch aus.“

„Diese Tartarenmongolen haben deine Russen von hinten gefickt!“, winkt der Armenier bloß ab. Er liebt nicht die großen Gespräche, die Ausstellung des Geistes, und er verachtet Sarodnick vor allem dafür. „Ich erschlage ihn tot!“, meint den Deutschen, und Wowa hebt nur abwehrend den Arm. So meidet Sarodnick dieses Zimmer, kehrt sehr spät meist zurück und freundet sich an mit Mais, einem Mann mit Schnurrbart aus Baku, der die Armenier hasst von ganzem Herzen und die Kohle schürt in Sarodnicks Grund:

„Unruhestifter! Alles Kulturemigranten, diese Zucht. Die verschlucken sich noch an ihrer Zivilisation. Immer sind sie auf ihre krummen Riecher gestürzt und haben trotzdem niemals genug. Wohin sind sie denn letzten Endes gekommen? Nach Baku. Stalin hat doch bei uns seine Millionen geklaut und damit die Parteikasse der Bolschewiken gefüllt. Ganz Armenien ist nur eine jämmerliche Provinz.“ Mais ist der Sohn des Ministers für Leichtindustrie Aserbaidschans und hat im vorletzten Studienjahr seinen Platz im Filmstudio von Baku schon sicher. Liebselig warm ist er und gleicht Peter auf Schritt, nennt diesen „meinen Bruder“ und vertrinkt auch die Abende freudig mit ihm. – Eines Abends trifft Sarodnick den Aserbaidschaner wieder bei Peter. Der Wodka brennt in den Augen, und Mais läuft über in Klagen, in Unmut, gräbt eine Herzgrube sich.

„Diese kaukasischen Juden!“, droht er erbärmlich, „meine Freunde beleidigen! Ich werde es ihm schon zeigen!“ – Schwach ist Mais, ziemlich klein in den Beinen: „Die denken, sie wären besser als wir.“ – Die drei trinken sich voll, küssen sich Busengetreue, lieben Maja mit Tränen und fangen von vorn wieder an: „Du bist gut. Der liebe Gott ist ‚einen guten Mann lassen‘.“ – Sarodnick trottet nach Hause.

„Warst du schon wieder bei deinem räudigen Hund?“, stichelt Sjoma und spuckt auf den Teppich. Doch Martin schläft schon friedlich den Rausch aus. An der Tür aber schlägt es: Der Gevatter aus Baku steht auf einem Bein hinter.

„Dein Faschist pennt“, mault Semjon ihn an, „und wacht hoffentlich nie wieder auf. Nacht!“ Indes, Mais hält den Schuh in den Spalt.

„Soll ich dir das Bein aus deinem türkischen Dreckarsche zerren?“, fragt der Armenier und hebt Mais in den Korridor raus.

„Scheißkerl!“, weht der Aserbaidschaner dagegen und krakelt. Ein anderer Junge stellt sich dazwischen:

„Streiten könnt ihr woanders, nicht vor der Tür!“

– „Wichskopp!“ – Mais rennt wutentbrannt gegen die Mauer, zielt mit einem Messer auf Sjoma, stolpert … und trifft nur den Falschen, sticht den vergeblichen Schlichter ins Herz.

Der „Falsche“ verstirbt im Krankenhaus später. Sehr gut war Mais, zu gut für das Leben. Er soll für 10 Jahre in den Knast. Aber … aber sein Vater war doch schließlich Minister. So strich der Vater die Frist und Mais verbrachte nur einige Monate in der Zelle.

Dem Deutschen aber schwimmt seine letzte Hoffnung im Blut, und seine Felle laufen ihm fluchtartig weg durch das Bammeln. Doch unerwartet – ganz über Tag – wirft ein anderer Deutscher den Ring: Werner Kletters, ein Berliner mit blondspeckigem Haupt, hat die Partei am Hemd stecken und studiert im dritten Jahr Dokumentarfilmregie. „Du hättest dich längst schon an mich wenden … gemusst.“

„Ja.“

„Ich werde dir helfen.“ –

Kletters weiß, was er sagt, „auf dem Posten“ ist er allesamt, alleweil, mit Hinz und Kunz informiert und mit Absprachen gesegnet. Er diskutiert nicht lange, er fackelt – Werner Kletters ist Leiter der Gruppe 5 Moskau, für Deutsche. – „Du wohnst vorläufig bei mir in dem Zimmer“, gibt er seine Empfehlung zum Schlechten, und Sarodnick sieht Samwel vorläufig nicht mehr. „Ich überleg’ mir da noch einen Trick, etwas Besonderes für dich“‚ spricht Kletters in Rätseln und rät und verrät wie ein Sieb, das in die Abtritte leert an öffentlichen Gebäuden. Neugierig, aber nicht aufdringlich ist er, hat Ohren wie Ringe und ein Gedächtnis für morgen, für die Stelle anbei. Als Assistent in den Studios von DEFA wusste er schon sehr früh, was man dachte, und wusste auch, was zu denken anstand. Einmal wird er Wissen vermitteln, wisssagen, wissmachen, Wissen befehlen. Im Institut sammelt er auf schickt an, schickt sich zu und füllt das Leben in Akten. Er ist delegiert – assistentenlegiert – von der Nadel der Brust und bewährt sich wie der Nagel im Heu: unmerklich, auf den Kopf zugesagt. Er währt lange und gut.

Kletters ist verliebt über seine großen rosigen Ohren, verliebt in das Unglück, das er in Wodka vergießt. Die halbmondäne Kira braucht Kosmetik und Wäsche aus Deutschland, und Kletters bringt sie in Haufen, bekommt dafür die Hand, selten eine Nacht auch als Gabe, und so sind seine Nächte grüblerisch kalt. Er verdammt die Liebe und Kira, die irgendwo einem anderen Mann ihre deutsche Unterkleidung gerade und geradeaus vorführt. Aufgeschlossen hört Sarodnick diesen täglichen Jammer, verbraucht mit Werner Leid und Trug und er erklärt dem falschen Freunde die deutsche Romantik, das Platonische in einer Beziehung:

„Die Liebe der nutzlosen Träumer, der großen Romantiker verwirklicht, mündet einfach bei Strindberg. Man ist mit den Frauen glücklich – allein.“ – Kletters stöhnt, und Sarodnick zeigt ihm vom Institut einen Brief: „Sie können nicht einfach da wohnen, wo es ihnen so passt.“ – Sollte er womöglich zu Sjoma zurück? „Muss ich alleine mit meinen Problemen mich plagen?“, denkt Werner und setzt sein eigenes Schreiben entgegen: „Im Namen von Sarodnick Martin erkläre ich, dass der noch schlecht schreibende Sarodnick hier bleiben muss, weil ihn ansonsten seine ehemaligen Zimmergenossen stetig beleidigen und bedrohen.“ – Und er ergänzt unter dem Strich, unterstrichen: „Und außerdem ihn mit ‚krummen Geschäften‘ bedrängen.“ – Dieses eingestrichene Wort kann mit Sicherheit alles Mögliche wohl bedeuten: Es steht für vieles – für Stiefel, für Kleider, Rasierwasser und Seife im Kern – verkauft, verhökert, verschoben. Das Wort duftet nach Nebel und Nacht und hat etwas Verbotenes pappen. Sarodnick freilich schnuppert nur dran und setzt naiv seinen Namen dahinter.

„Mach schnell, ich hab’ keine Zeit. Alles wird, wie ich will.“ – Alles.

Wladimir und Samwel erhalten eine Verwarnung: Der Direktor warnt und droht ihnen scharf mit dem Rausschmiss! – Martin aber muss trotzdem zurück in das Zimmer, ins Feuer, zurück in die Hölle. In der Botschaft indes notiert Kletters minuziös diesen Fall:

„Sarodnick handelt mit suspekten Leuten suspekte Ware.“ – So hat Martin einen Minuspunkt sich gehandelt, und Kletters unkte ihn aus.

5

Glattleck, ohne Portal mit einem Blendbogen wie eine Fest-Halle geschmiedet, blickt die Filmhochschule aus etwas zu breiten Fenstern auf die Gärten der Volkswirtschaftsausstellung. Innen verschließt sich ein Foyer mit einer kurzen Barriere, an der der Pförtner seinen guten Tag hockt. Dahinter ist Ende, nur für Eingeweihte betretbar, vom Wächter geprüft, bis klar wird „dieser gehört hier wohl zu“.

„Ihren Ausweis?“ – Martin kramt in der Tasche. „Der nächste!“ –

Er kann nicht verstehen. Der Wächter steht auf, legt die Hand auf die Sperre, um sie dann handlich verlängern zu können: „Sie wollten wohl einfach so durchschlüpfen?“

„Ich studiere doch hier“, erklärt Sarodnick, prallt aber ohne Mitleid auf einen abgewandten Rücken: Durch zu viele Bitten hat der Pförtner die Rührung verlernt.

„Vorschrift“, sagt er nur zäh. – Durchhalten, anhören, abweisen. „Fragen sind dort am Fenster zu klären. Zwei Meter weiter zurück!“

„Aber Sie kennen mich ja.“

„Na und?“

„Ich gehöre hierher.“

„Ich weiß.“

„Also.“

„Dein Ausweis!“

„Ich habe ihn im Internat liegenlassen, habe heute Morgen eine falsche Jacke übergezogen.“

„Ist die gefüttert, Martin?“ –

„Ja, es ist heuer kälter geworden.“

„Bei euch ist es um diese Zeit bestimmt noch warm?“

„Und ob.“ – Sarodnick drückt sich vor die Barriere.

„Deinen Ausweis!“

„Aber ich …“ Martin schaut in das Fenster dahinter: „Guten Tag!“

„Ach, der Deutsche! Wie geht’s?“

„Ich habe mein Büchlein vergessen.“

„Und ich dachte, die Deutschen vergessen nie.“

„Ausnahmeweise“, stellt er sich traurig.

„Geh nach Hause und hol ihn“‚ rät sie ihm freundlich.

„Zum Platzen!“, rutscht es ihm aus dem Mund, erinnert sich aber geschwind: zwei Kilometer hin und zwei wieder her. „Bitte!“, ist er erbärmlich und schön. Die Frau schaut aus ihrem Kiosk, greift zum Hörer und telefoniert. Irgendwann steigt die Sekretärin herab:

„Alle gesund? Wie bist du gestern nach Hause gekommen?“ – Die Schalterdame bedankt sich und erzählt ihre Geschichte. Sarodnick hüstelt dazwischen, die Frau starrt, erinnert sich später und fragt: „Kennst du diesen Jungen?“

„Ja.“

„Studiert er bei uns?“

„Natürlich.“

„Gut. Ihren Namen?“

„Aber …! Martin Sarodnick.“

„Fakultät?“

„Regie.“

„Hier! Ihren Passierschein.“ – Sarodnick nimmt den Zettel und gibt ihn dem Pförtner. Der überprüft und trägt ihn wieder zum Glashaus.

„Alles in Ordnung.“ – Sarodnick steht vor der Barriere.

An der Garderobe grüßt er fünfmal fünf Frauen: „Was stricken Sie heut?“

„Wie geht’s in Berlin?“ –

„War das eine Freundin von dir gestern im GUM?“

„Nur so.“

„Na!“

„Meine Jacke.“

„Ist die von euch?“

„Ja, – meine Jacke!“

„Swetlana ist dran.“

„Nein“‚ streitet Swetlana, „ich habe doch den vorvorletzten Mantel gehängt.“

„Unmöglich!“

„Meine Jacke.“

„Nina, du!

„Wieso?“ –

„Und Ludmila, die schläft.“ – Sarodnick ist es egal, er legt die Jacke über den Tisch:

„Die Marke hole ich mir später.“

Altvertraut-heimisch präsentiert sich das Institut, bringt die Schulzeit ins Gedächtnis zurück und beschützt seine Kinder wie eine langgestrichelte Pute. Jeder einzelne Wurf rückt eng miteinander zusammen, kennt aus- und inwendig sich, arbeitet und verbringt auch die Freizeit gemeinsam. Die Vorlesungen bezeichnen sich so nur, sind in Wirklichkeit Seminare, Unterrichtsstunden mit Partnern, und das Lesen ist Unterhalten, Schöpfen im Spaß. Eine Linie folgt sich befreit, angerissen gekappt, und die Fragen gehen dazwischen, lenken ins Wasser, ins Lose: „Wo waren wir eigentlich stehengeblieben?“ – aber der Unterricht ist schon vorbei. „Lesen Sie selbst nach!“ – Die Stunde ging ein. „Geklärt.“ –

Der Stoff füllt sich – nicht trockenvöllig zur Rampe –, die Zeit wird gesäumt und gedacht.

Sarodnick schaut auf den Mund, schreibt jede Bewegung der Lippen und versteht jede dritte davon. Erstrangig sitzt er, die Sicht nach hinten verlegt zu den anderen Mitkommilitonen, die nie vollzählig, besonders am Morgen, die Distanz halten auf Dauer und dort mehr sehen als er. Vorbild und bildend lauscht er auf seiner Bank, bildet sich ein alles zu hören und hört seine Nachbarn sich streiten. „Pst!“ – ganz hinten träumen Schauspielstudentinnen. Sarodnick lässt sich alles vorlesen, notiert, lernt russisch einschreiben, den Kopf russisch verschmelzen, und er schmilzt mählich ins Land. Manche Studenten sind freigestellt von den Unterrichtsstunden, sie haben schon früher Fächer abgeschlossen und Zweige und haben Diplome im Lohn. Andere wieder kommen frisch von der Schule und backen noch dran. Das Land schüttet mit Formen, die ausgliedernd sind. Man studiert, lernt, wenn es beliebt, und was angetan ist. Jeder beschließt seine zehn Klassen und öffnet sich damit einheitlich gleich – gleich bis zum gleichen Gericht.

Eifrig aber eilt Sarodnick alle Vorlesungen ab. Ihm gefällt das Verschieden im Interpretieren, die Würze in Lücken, der Klang, das asymmetrisch Verdrehte. –

„Die Geschichte unserer Partei …“, Grigorenko atmet eine längere Pause, „ist uns nicht Rednerpult nur.“ – „Die Revolution handelt verschwiegen“, schreibt Sarodnick auf, und er macht ein Sternchen ins Heft: „Wurde da Stalin zitiert?“ Unvorsichtig und wiederholt wird in den alten Schriften gekramt, kleinlaut, verständlich.

„Die Zeit überlebt.“ – Grigorenko legt die wenigen Haare nach hinten. „Ich will Namen nicht nennen.“ – Das Halleluja des Gewissens beginnt. „Sie ist immer einen Abschnitt voraus, eine Walze, die überfährt, über und über – manchmal gar auch den Fahrer.“ Er lächelt verschmitzt. „Frieden bedeutet Umwege gehen – wie der Sieg und die Chance. Die Revolution rettet sich selbst. – Wir können nicht vor Gewehren nur stehen, wir vertuen im Kleinen. Natürlich gab es Rapallo, gab es leise Beziehungen zum Westen, lebten Versprechen. Wir aber mussten uns mausern, häuten. Ein Maul wollte zu fressen, und das Land lag im Brach, der Lehrling stand ohne Meister, das Geld machte sich rar. Bei uns blieb der Letzte zurück. Der Bruder schlug den Bruder und wurde aus dem Paradiese gejagt.“ – Der Professor hält fest und rückt einen Schritt vor, mehr gedämpft: „Man konnte nicht ewig auf Mitziehen warten, auf Nachkünfte, auf neugeborene Erben.

Trotzki musste sterben, wenn man weiterleben hier wollte. Auch schiefe Bahnen sind gerade, und es musste laufen, koste es, was es solle, sei es selbst im Zurückpfeifen, im Zurückschießen der ewig Morgigen, die den Zeitgeist verspielten, die den Karren umstießen und einen neuen haben wollten anstelle. Sicher: Nicht in Gute und Schlechte sondert die Welt, nicht Pfähle werden gepflockt an den Gittern. Erde funktioniert nur als Ganzes, und das Glück als Flucht bricht sich das Genick. Indes, wird nicht der gute Wille aufgesogen von dem Unwill der erschreckt Stehengebliebenen in den ach so klügeren Staaten des Westens?“

Sarodnick zählt die Zeilen, nummeriert das Blatt und findet schwer den geeigneten Platz, ist sich nicht sicher, ob er begriff oder ob er daneben nur hört, und die Logik Grigorenkos bloß mit der seinen vertauscht. Er legt die Feder zur Bank, versucht, sich zu konzentrieren, zu ermessen, was der Professor – kaltmienig fast, ohne die Wimpern – zum Fenster ausspricht. Jedoch irgendetwas hemmt ihn da bei, als traut er sich nicht, als fehlte der Mut.

„Ergo erschoss sich Majakowski, um die Front zu verkürzen, den Ausgleich wider den Kleinhandel, die Kleinlichkeit, den Kleinmut in die Waage zu werfen; ergo schmiss Lunatscharski den Hut, damit die Bildung gedeihe auf Teufel komm raus; ergo blühte der Realismus von Gorki, dem LEF und dem Proletkult zum Trotz. – Wir brauchen die Erde, und wenn es nur für die Brotsamen wäre. Wir müssen suchen, sammeln, zählen wie einst im Mai – was ist da schon ein Oktober? Reden sollen andere, die langen Worte mit dem kurzen Sinn sind zu Ende. Es normt sich derzeit, plant im Namen des Bestehenden, des Bestehens gegen die Welt und mit ihr. Wir wollen so werden wie sie, ja, ein wenig noch besser.“ – Der Professor sieht auf. „Gut, diese Freiheit! Die sitzt in den Köpfen wie Spuk. Wie aber hätte man wirtschaften sollen ohne die Wirtschaft? Diese vielsagende Freiheit ist nichts, die nur erhebt, die nicht einmal weiß, was sie wert ist, nicht wiegt.“ – Draußen klingelt es. Grigorenko dreht sich halb zu der Tür: „Ich hasse Leute, die den Ausgang der Geschichte nicht kennen.“ – Und der Lektor geht rasch raus ohne Gruß.

Sarodnick malt ein Dreieck aufs Blatt. Wie unklar ist doch alles für ihn, wie flau. Mit wem sollte er reden darüber? Die Zunge hat er noch nicht, die Winke, die Gänge. Und so schreibt er Briefe nach Hause, erklärt sich Petra, verklärt in den Seiten an sie. Ein Heimweh fordert ihn ab, eine Unruhe, eine Einsamkeit zehrt. Im Internat stößt er auf volle Räume, findet Briefe von Petra zu spät, findet Monika, die ihn drängt, die für ihn konzipiert, projektiert und hilft, wo es nicht hilft. Und er findet in seiner Stube ein kaltes Bett und ein sauberes Laken darauf. Sarodnick stolziert in das Tun, tut, als wäre er beschäftigt, macht die Zeit rar und rarer, hastet vom Institut zum Internat. Ein Hörgang ist es für ihn, ein Gang in das Nutzen, und lästig wird es ihm bei, zu Lasten geht es, und er besucht nur den Trott, das andere Sich. Die Einzige, die neben ihm wandelt – geduldet – ist Monika noch. Kurzbleibig zwar – der Weg ist lang von der Bahn bis zur letzten –, ist ein welliges Sitzen, ein Blick, eine Frage; dann ist sie wieder vorbei. Martin braucht sie, schöpft wie im Brunnen in ihr, und er wünscht, dass sie ihren Ursprung preisgibt in dieser Sprache, dass sie ihm zuhört, wie er deutsch mit ihr spricht.

„Dein fehlender Ausdruck ist es, der leidet“, sagt sie ihm, und er gibt ihr bloß Recht:

„Ein spröder Stein in dem Mund, und dazu Idiome.“

Monika hält hin, lässt ihn glänzen, der so viel Glanz schon verlor neben anderem Geist. „Ich muss Dampf ablassen“, entschuldigt er sich, „mir fehlt das Glatte, ich zimmere grob.“

„Nicht doch!“, rückt Monika auf. Sie ist müde geworden, möchte einlenken und ablenken: „Fahren wir doch morgen einfach irgendwo hin.“

„Warum?“

„Ich kann es nicht schaffen immer zwischen Bereitschaft und Pflicht.“ – Er will sie hinaushetzen, sich eingraben und heulen, doch küsst er sie zag – wie ein volles Zimmer ihm es erlaubt.

„Mein Anspruch ist zu gesteckt, zum Fassen ganz fern.“

„Ein Geständnis?“, fragt sie.

„Mehr resignativ“, wehrt er ab, „ein Rauschen und manchmal ein Sich-fallenlassen-Wollen, aber wohin?“

„Nicht gut ist es“‚ gibt Monika zu bedenken, „es ist das Nicht-mehr-gut-Zumachende, seinen Hut nehmen oder seinen Schuh stehenlassen und gehen.“

„Ich weiß“, ist Sarodnick selbst überrascht, „der letzte Hinweis, die Spur, und weiter kann keiner mehr folgen – bis zu der Stelle, der Marke, dem Zeichen, dem Fuß in dem Felsen.“

„Ein Pferdefuß ist es, ob Ölberg oder Felsenmoschee.“

„Aber ein Zeichen.“

„Walpurgisnacht“‚ lacht Monika auf. „Du hast’s mit den Hexen, ich sagte es doch.“ –

Die Zweischneidigkeit, dieses Ungewisse lockte Martin, verführte ihn hin bis zur Gefahr. „Ist es das Böse? Die Lästerung? Oder nur nichts?“, fragt er sich jetzt.

„Ein zugeschütteter Abgrund“, wirft Monika ein. „Was sind wir denn sonst?“

„Nein“, widerspricht Martin. „Wir sind mehr – mehr oder minder. Wir sind Ausgang, Übergang, ein Präludium zum großen Stück Wunder, eine Saaltür am Eintritt, ein Torbogen. – Erinnerst du dich? Halle.“

„Natürlich, mein Lieber.“

„Dahinter war nichts. Das Schloss war im Kriege geblieben.“

Sarodnicks Kindheit schaute in die Ruinen hinein. Dieses Noch-nicht-Vollendete, das Nie-Vollendbare geisterte, begeisterte ihn. Ganz egal war ihm die Frage: „Wird es ein Haus oder war es mal eins?“ Um das Weder-Noch, das Zwischendrin-Sein ging es ihm doch, das Halbe im Ganzen, die Trümmer als Werk. Sehr traurig konnte er werden, wenn sie plötzlich geräumt waren, irgendwann nach der Zeit. Gestern standen sie noch, waren beendet und rein, als wären sie ewig, und heuer Enttäuschung, das fertige Haus, an dem Martin das Kribbelige seiner Leitidee misste: „Und möglicherweise ist es gar keins?“ – Er hasste Baustellen, das Fertigstellen, die Schlüsselübergabe. Mit dem Richtfest starb für ihn das Interesse, der Bund und das Eins. Wie traurig war es für ihn, als man in Leipzig die Universitätskirche sprengte. Fremdprotestierend stand er am Platze, an der Sperre vor der Oper da. Auswärtig fern, unsolidarisch drängte er mit der Masse, die Restaurierung wünschte statt Abriss, Kirche statt Mensa, Bewahrung statt Revolution.

Sorgfältig mied er das Ganze. Es zog ihn nach Paulinzella, in die Ruinen zwischen Mauern zu Säulen, die den Himmel abstützten, und wo auf den Altar der Regen jetzt schlug. An der Hand der Großmutter spazierte Martin durch Dresden, und sie erzählte vom Krieg, von diesem Februar 45. Nichts explizierte sie, sagte nicht: „Dies war das gewesen“ und „So sah jenes mal aus“. Sie schwieg, zeigte das Nichtgesichtete nur, das Hinter-Dem, das, was noch stand: die Keller, der offene Stall, die geworfenen Steine. „Von Gott ist es nicht“‚ bemerkte sie und ergänzte: „Es ist für die Ewigkeit da.“ – Für Sarodnick war es vollkommen, aus einem Guss, war Andeutung, unbrauchbar unnütz, war eine Nachhalligkeit. „Kunst“‚ staunte er‚ „außerhalb der Vernichtung und doch nahe daran.“

Das Fast-Fertige, Nie-Fertiggewordene war es, ein „Beinah-Nichtzerstörtes und doch Zerstörtes“, das versteckte Chaos, das nicht geordnete Wachsen – ein babylonischer Turm. Es war das fragmentarische „Fort und fort“, das nicht zu Ende gesprochene Wort, das Sarodnick anzog, das er pries und himmelhoch hob. „Nicht der Goethe, der noch einmal entsiegelt und ändert“‚ sagte er einmal, „sondern der Urfaust, die Marienbader Elegie, die hilflos vollendet, geworfen als letzter Gruß und nicht aus letztem Erdenken, nicht Wilhelm Meister, sondern Mignon, nicht Iphigenie, sondern das Exil dort in Rom.“ – Das Demetrius-Fragment feierte er als Schillers „göttlichstes Werk“, als „Nur-Plan“, der planlos mündet in Tod. „Erst der hingeschlachtete Zarewitsch war der ideale Herrscher geworden, der Große, der Retter am Volk. Und kam Schillers Reife nicht selbst auch kurz vor dem Tod oder gar ein wenig danach?“ – War Martin gesund? Steckte da nicht vielmehr auch seine Angst vor der Steigerung, vor der Ruhe? Erregte er sich nicht in dem Kuss und wich doch der Zärtlichkeit aus? Oder war es kein Ausweichen, war nur ein Unvermögen aus dem Anfang zu kommen und den Schlussstein zu setzen? Häufig war es freilich das andere auch, die Heftigkeit, das Wollen ohne die führende Hand, ohne Verflechtung und Dialog – ein Ausrutschen, ein Erschlaffen, ein Absacken, eine zerstörte Berührung, die den Guss antizipiert ohne Wert, ohne Erlösung. – Und das Spiel mit Petra? Lief es nicht aus den gleichen Bahnen heraus? Ging es nicht aus von den Sinnen, von der Bereitschaft, um jäh abzuknicken, wegzutreten ohne Vollenden? Und trotz des Drängens, des Gärens in ihm, ließ ihm das „Sich-verströmen-Bevor“, vor dem eigentlichen

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