Kitabı oku: «Irrlichter und Spöckenkieker», sayfa 2
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Stine entwickelte sich zu einem bezaubernden Kleinkind, das ihren Großeltern viel Freude bereitete. Während Meta versuchte den frühen Tod ihrer Tochter zu verarbeiten, ging der Bauer relativ schnell wieder zum Tagesgeschehen über.
Die Besuche im Wirtshaus wurden weniger, dafür kümmerte er sich liebevoll um seine Enkelin. Über Rieke wurde auf dem Knudtsenhof nicht mehr gesprochen, der Bauer ließ es nicht zu. Wenn Meta den Namen ihrer Tochter auch nur erwähnte, nahm Ole die kleine Stine auf den Arm und verließ demonstrativ das Zimmer.
»Ich habe keine Tochter mehr«, sagte er stets, wenn jemand nach Rieke Klassen fragte.
Schon früh übernahm Stine kleine Aufgaben in der Küche und half ihrem Großvater bei der Fütterung der Tiere auf dem Hof. Stine war sehr wissbegierig und verbrachte viele Stunden damit, in ihren bunten Bilderbüchern zu blättern. Abends, wenn auf dem Hof Ruhe einkehrte, erzählte Meta ihr Geschichten, die sie vor vielen Jahren schon ihrer Tochter Rieke erzählte.
Manchmal fragte Stine nach ihrer Mutter, gab sich aber stets mit der Erklärung zufrieden, ihre Mutter sei bei einem Unfall ums Leben gekommen. Laas Klassen besuchte seine Tochter zuerst regelmäßig zum Geburtstag, heiratete dann aber eine Hoferbin vom Festland und begnügte sich damit, ab und zu eine Postkarte zu schreiben.
5
»Großmutter, mein Ball ist weg.«
Stine blickte kurz zu ihrer Großmutter hinüber, hüpfte die Steinstufen der Terrasse hinunter und lief in den Garten.
Nachdenklich ließ Meta Knudtsen ihr Strickzeug sinken und sah ihrer Enkelin nach.
Der frühe Tod der Mutter hatte die Sechsjährige vorzeitig zu einem verantwortungsbewussten Mädchen werden lassen, welches seine Großmutter über alles liebte. Oft, wenn Meta das Kind beim Spielen beobachtete, musste sie unweigerlich an ihre einzige Tochter denken. Stine war ihrer verstorbenen Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie hatte die gleichen dunklen Augen, die neugierig in die Welt blickten, und trug, genau wie ihre Mutter, das dicke, braune Haar zu einem Zopf geflochten.
Schmerzlich erinnerte Meta sich an Riekes Todestag, der sich in einigen Wochen zum dritten Male jährte.
Die alte Bäuerin sah diesem Tag mit Grauen entgegen. Wie in den vorausgegangenen Jahren, würde sie mit ihrer Enkelin zum Grab ihrer Tochter gehen und versuchen Stines Fragen nach der Mutter wahrheitsgemäß zu beantworten. Und wie immer würde sie der Kleinen die Antwort auf die Frage nach dem »Warum« schuldig bleiben. Oft fragte sie sich, ob sie als Mutter versagt hatte? Hätte sie Rieke retten können?
Meta erhob sich seufzend von der Bank und lehnte ihren Rücken müde gegen die von der Sonne erwärmte Hauswand. »Es wird Regen geben«, murmelte sie leise und rieb mit der Hand die schmerzende Schulter. Ihre vom Rheuma geplagten Gelenke registrierten inzwischen jeden Wetterumschwung.
Metas suchte das Kind mit den Augen, aber Stine war längst zwischen den Apfelbäumen verschwunden. Es wird Zeit, nach der Kleinen zu schauen, dachte sie und schlurfte zur Gartentreppe. Während sie haltsuchend nach dem morschen Geländer griff, begannen ihre Hände zu zittern. Kalte Schauer liefen ihr über den Rücken, und ein Gefühl der Panik überkam sie. Um sie herum wurde es still, die Vögel sangen nicht mehr, und selbst das monotone Rascheln der Blätter im leichten Sommerwind war nicht mehr zu hören.
Urplötzlich schien die Welt den Atem anzuhalten …
Wo war das Kind? Irgendetwas war nicht in Ordnung, das spürte Meta ganz genau. Vor ihrem geistigen Auge nahm sie etwas wahr, was sie nicht beschreiben konnte.
Nur sehr zögerlich wurde das Bild klarer und nahm Gestalt an. Sie sah einen schemenhaften Körper, der sie stark an ihre verstorbene Tochter erinnerte.
»Stine, wo bist du?«, wimmerte sie und umklammerte das Treppengeländer. Vergeblich versuchte sie ihre Unruhe in den Griff zu bekommen, aber es gelang ihr nicht.
»Dem Kind darf nichts geschehen«, murmelte sie monoton und schloss die Augen.
Die Minuten verstrichen und kamen Meta wie eine Ewigkeit vor.
Wie aus weiter Ferne hörte sie irgendwann die Stimme des Mädchens, das weinend zwischen den Bäumen der Obstwiese auftauchte und verzweifelt nach der Großmutter rief.
»Großmutter, ich habe die weiße Frau schon wieder gesehen. Sie soll weggehen.«
Meta erwachte aus ihrer Starre und atmete auf, als sie sah, dass Stine nichts geschehen war. Erschöpft ließ sie sich auf die unterste Treppenstufe sinken und zog das vor Angst zitternde Kind auf den Arm. Meta Knudtsen machte sich große Sorgen um Stine. Zu oft war sie nachts weinend zu ihr ins Bett gekrochen und hatte von einer weißen Frau berichtet.
Meta wusste genau, was das bedeutete. Doch was sollte sie dem Kind sagen? Sie könnte sagen: »Du träumst, denk dir nichts dabei …« Oder: »Deine Phantasie geht mit dir durch, denk an etwas anderes.«
Die Bäuerin schüttelte den Kopf. Sie wusste genau, dass Stine nicht träumte, und mit Fantasie hatte das, was das Kind sah, schon gar nichts zu tun. Sie hatte immer geahnt, dass sich alles wiederholen würde. Zuerst sie selbst, dann Rieke und nun Stine.
Doch sie musste ihre Enkeltochter beschützen, mit aller Kraft, die ihr zur Verfügung stand. Sie konnte nicht zulassen, dass …
»Großmutter, du sagst der Frau, dass sie gehen soll, nicht wahr? Sie macht mir Angst, sie soll gehen und nie mehr wiederkommen! Nie mehr.«
Stine krallte sich an der Schürze ihrer Großmutter fest und sah beschwörend zu ihr auf. Die Bäuerin schüttelte den Kopf, tröstend strich sie dem Kind übers Haar.
»Hab keine Angst, sie wird dir nichts tun, das ist gewiss. Du hast geträumt, es war nur ein Traum.«
Meta hielt das Mädchen fest umschlungen und summte beruhigend ein Kinderlied. Stine schluchzte noch einmal auf, kuschelte sich in die Arme ihrer Großmutter und sang leise mit.
Wie eine kleine Katze hatte das Kind sich auf dem Schoß der Großmutter zusammengerollt. Leise, gleichmäßige Atemzüge verrieten ihr, dass die Kleine eingeschlafen war.
Meta schaute lächelnd auf ihre Enkeltochter.
»Bald bist du eine echte Knudtsen«, murmelte sie leise und erhob sich. Behutsam nahm sie das Kind auf den Arm, ging die Treppe hinauf und brachte Stine ins Bett.
»Schlaf schön, mein Liebling«, flüsterte sie und strich ihr eine Locke aus der Stirn.
Meta wusste, in dieser Nacht würde nichts den Schlaf der Kleinen stören. Dennoch hatte dieses Erlebnis ihr Seelenleben wieder einmal völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Es kostete sie eine ungeheuere Kraft, sich nicht anmerken zu lassen, wie aufgewühlt sie war. Würden diese Qualen niemals ein Ende nehmen?
Sie dachte an die vielen Zeichnungen, die sie kurz nach Riekes Tod in ihrem Zimmer in einer kleinen, hölzernen Schachtel fand. Jedes Blatt war ordentlich mit Datum und Uhrzeit versehen und zeigte immer das gleiche Motiv. Rieke hatte eine weißgekleidete Frau mit dunklen, langen Haaren gemalt. Im Hintergrund des Bildes war der Friedhof von Süderende zu erkennen. Meta war wie gelähmt und konnte zuerst keinen klaren Gedanken fassen. Schlagartig erinnerte sie sich daran, dass es ähnliche Bilder schon einmal gab. Es war sehr lange her …
Schließlich warf sie die Bilder ihrer Tochter in den Kamin und verbrannte damit auch ihre eigenen Erinnerungen, jedenfalls für eine Weile …
Die Bäuerin blickte beunruhigt zum Himmel hinauf. Dunkle Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben, leises Grollen kündigte ein Gewitter an.
Ungeduldig stand sie am Fenster und wartete auf ihren Mann. Schon früh am Morgen war er nach Süderende aufgebrochen, um im Rathaus die Vormundschaft für Stine zu beantragen. Nach einigem Zögern hatte Laas Klaasen sich endlich bereit erklärt, sein Einverständnis zu geben. Stine würde einmal den Knudtsenhof erben, und so war es nur plausibel wenn sie auch offiziell den Namen ihrer Großeltern tragen dürfe. Da das Mädchen in einigen Wochen eingeschult wurde, war für diese Namensänderung jetzt genau der richtige Zeitpunkt.
Endlich hörte Meta in der Ferne das gleichmäßige Brummen des alten Mercedes. Sie strich ihre Schürze glatt und eilte durch die Melkkammer in die Diele.
Als Ole in die Einfahrt zum Hof einbog, fielen die ersten Regentropfen. Der Himmel verdunkelte sich zusehends. Schnell parkte der Bauer das Auto vor dem Stallgebäude und stieg aus.
»Wo ist Stine?«, fragte er, als er in die Diele trat. Suchend sah er sich um, denn wenn es regnete, war seine Enkelin meistens auf der großen Diele anzutreffen. Sie spielte dort gerne mit den kleinen Katzen. Meta scheuchte den Hofhund zur Seite, der den Bauern freudig begrüßte und legte mahnend einen Finger auf die Lippen.
»Stine schläft, der Vormittag war ein wenig anstrengend für sie.«
Den wahren Grund für Stines Erschöpfung verschwieg sie. Ole hätte es ohnehin nicht verstanden.
Der Bauer legte seine Jacke über die Stuhllehne und kramte umständlich ein Dokument aus seiner Aktentasche.
»Jetzt haben wir es amtlich, Mutter, Stine ist unsere Pflegetochter und darf den Namen Knudtsen tragen. So, wie wir es wollten.«
Er legte die Urkunde auf den Tisch und strich zärtlich mit seiner Hand darüber.
Meta wusste, wie viel ihrem Mann daran lag, endlich einen Erben für seinen Hof zu haben, der auch seinen Namen trug.
Ihr Herz schlug heftig, als sie den Namen ihrer Enkeltochter in großen Buchstaben auf dem Dokument las.
»Stine Knudtsen«, sagte sie und lächelte. »Das hört sich gut an.«
»Das hört sich verdammt gut an!«
Ole lachte dröhnend und holte die Kornflasche aus der Anrichte.
»Komm Mutter, darauf stoßen wir an.«
Jetzt wird alles gut, dachte Meta und schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Vielleicht glaubte sie in diesem Augenblick wirklich, der Himmel habe ein Einsehen.
Eine Zeit lang hatte es auch tatsächlich den Anschein.
6
Die Jahre bis zu ihrem zehnten Geburtstag waren für Stine die unbeschwertesten ihres Lebens. Sie besuchte die Volksschule in Oldsum und war bei ihren Mitschülern sehr beliebt. Mit Begeisterung nahm sie am Musikunterricht teil und schrieb ausgezeichnete Aufsätze.
»Aus dir wird einmal eine berühmte Schriftstellerin«, sagte die Lehrerin zu ihr und schrieb eine Eins unter Stines Hausaufgabe. Meta war stolz auf die schulischen Leistungen ihrer Ziehtochter und dachte an ihre eigenen kleinen Gedichte, die noch immer in der alten Aussteuertruhe ruhten. Schon lange waren keine neuen Texte hinzugekommen, viel zu sehr war die Bäuerin mit der alltäglichen Hausarbeit beschäftigt. Und doch war der Wunsch, Worte und Sätze zu einem Gedicht zu reimen, ungebrochen.
Der Knudtsenhof erwirtschaftete gute Gewinne, sodass die Familie ihren Bestand an Milchvieh erweitern konnte.
Ein weiterer Knecht wurde eingestellt, der dem Bauern bei der Hofarbeit zur Hand ging, und man plante den Kauf einer neuen, elektrischen Melkanlage.
»Das neuste Modell, soll es sein. Das können wir uns jetzt leisten.«
Ole war mächtig stolz auf seinen florierenden Betrieb.
7
Der Herbst kündigte sich an. Die Tage wurden kürzer. Das Laub der alten Buche vor dem Knudtsenhof erstrahlte in bunten Farben. Die Insel wurde vom herbstlichen Morgennebel in ein unwirkliches Licht getaucht. Die Fischer flickten ihre Netze und erzählten Geschichten vom Klabautermann und von riesigen Seeungeheuern. Während die ersten Stürme über die Kniepsandflächen wehten, bereiteten sich die Föhrer auf den Winter vor.
Doch dann geschah etwas, was die heile Welt der Familie Knudtsen zusammenbrechen ließ wie ein Kartenhaus.
Immer wieder fragte Meta sich später, ob sie diese Tragödie hätte verhindern können und wusste doch ganz genau, dass sie den Lauf der Dinge schon längst nicht mehr beeinflussen konnte.
Stine hatte, wie immer am Sonntag, ihre Großmutter nach dem Kirchgang auf den Friedhof der St. Laurentii-Kirche in Süderende begleitet. Sie trug ein neues Kleid, aus himmelblauem Baumwollstoff und eine weiße Schürze aus zartem Batist. Die dunklen Haare betonten ihre sanften Gesichtszüge, ließen sie jedoch ein wenig blass aussehen.
Es war im Laufe der Zeit zu einem schönen Brauch geworden, die viel zu früh verstorbenen Urgroßeltern väterlicherseits nach der Sonntagsmesse auf dem Kirchhof zu besuchen. Und wie jedes Mal machte das Mädchen einen kleinen Abstecher zum Grab ihrer Mutter. Die kleine Stine liebte diesen Ort der Ruhe und genoss, wenigstens für eine kurze Zeit, die ungeteilte Aufmerksamkeit der Großmutter. Unbeschwert lief sie zwischen den Gräbern umher und versuchte, die verwitterten Inschriften der Grabsteine zu entziffern.
Plötzlich blieb das Mädchen wie angewurzelt stehen, den Blick starr auf ein großes, morsches Holzkreuz gerichtet. Keuchend griff Stine sich an den Hals, sie hatte das Gefühl, jeden Moment zu ersticken. Taumelnd machte sie einige Schritte auf das Kreuz zu und riss hilfesuchend ihre Arme zum Himmel empor.
»Großmutter, da schwebt eine Frau«, rief sie röchelnd und zeigte mit dem Finger auf das hölzerne Kreuz.
Doch Meta hörte das Rufen des Mädchens nicht, sie befand sich auf der anderen Seite des Friedhofes und ahnte nichts von den Höllenqualen ihrer Enkelin. Stine war inzwischen am Fuße des Kreuzes auf die Knie gesunken. Mit leiser Stimme sprach sie vor sich hin.
Ihre Bewegungen erstarrten, nur ihre Lippen formten Worte, die vom Wind wie Blütenblätter davon getragen wurden.
Nach einigen Minuten erfasste ein Beben das Mädchen, abrupt sprang es auf und lief weinend den Kiesweg entlang zu ihrer Großmutter.
»Großmutter, Großmutter!«, schrie Stine so laut, dass es auf dem ganzen Friedhof zu hören war.
Meta Knudtsen erschrak, lief ihrer Enkelin entgegen und zog sie in den Arm. Nur mit Mühe verstand sie die Worte, die Stine völlig atemlos von sich gab.
»Großmutter, warum schwebt dort am Kreuz eine Frau? Was macht sie dort? Ich habe solche Angst.«
Das Mädchen klammerte sich schluchzend an ihre Großmutter und vergrub ihr tränenüberströmtes Gesicht in Metas Umhang.
Meta Knudtsen blickte fassungslos auf das Kreuz. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, während sie beruhigend auf Stine einredete. Mit geschlossenen Augen versuchte sie die Gedanken zu verdrängen, die ihr bei den Worten ihrer Enkeltochter ins Bewusstsein traten.
»Es darf nicht sein, nein, es darf nicht sein …«, murmelte sie immer wieder tonlos. Hilflos starrte sie auf das Kreuz, das drohend in den Himmel ragte. Ein Schauer jagte über ihren Rücken, und die aufsteigende Panik raubte ihr den Verstand. Mit letzter Kraft nahm sie Stine an die Hand und zog sie mit sich in die kleine Friedhofskapelle.
Von diesem Tag an weigerte sich Stine beharrlich, den Friedhof zu betreten. Die sonntäglichen Kirchgänge wurden für Großmutter und Enkelin zur Qual. Während Meta Knudtsen dem Grab ihrer Schwiegereltern nach wie vor einen Besuch abstattete, saß Stine still und in sich gekehrt auf den Stufen der alten Kirche und wartete auf die Rückkehr ihrer Großmutter. Wie gebannt war ihr Blick auf das große, eiserne Tor gerichtet, das den Friedhof vom Kirchplatz trennte.
Die schwebende Frau wird es nicht wagen, den Friedhof zu verlassen, dachte Stine mit klopfendem Herzen.
Großmutter hat es versprochen …
Immer wieder schaute sie auf die große Kirchturmuhr. Viel zu lange wartete sie schon auf Metas Rückkehr.
»Auf dem Kirchhof spukt es …«, murmelte Stine leise.
In der Schule hatten die Kinder oft von Geistern gesprochen, die nachts auf dem Friedhof ihr Unwesen trieben.
»Es gibt keine Gespenster«, hatte Großmutter gesagt, als Stine zu Hause davon erzählte.
»Die Kinder wollen dir nur Angst einjagen, hör nicht auf sie.«
Nun hatte sie doch ein Gespenst gesehen. Lautlos, in ein weißes Kleid gehüllt schwebte es am Kreuz entlang. Aber warum hatte ihre Großmutter keine Angst?
Meta vermied es, mit Stine über die schwebende Frau zu sprechen. Wenn das Kind dieses Thema ansprach, wich sie aus. Sie wusste, dass sie dem Mädchen eines Tages Antworten auf viele Fragen geben musste, aber noch war Stine zu jung, sie würde nicht verstehen, warum sie anders war als die Kinder im Dorf.
»Du willst doch nicht, dass man über dich lacht? Stine spinnt, wird man sagen, willst du das?«
Mit eindringlichen Worten sprach Meta auf die Kleine ein.
»Gespenster gibt es nicht«, sagte sie und wechselte rasch das Thema.
»Morgen gehst du zum alten Onkel Feddersen, er hat kleine Kaninchen. Vielleicht schenkt er dir eines.«
Um die Familie nicht ins Gerede zu bringen, forderte Meta von der Kleinen absolutes Stillschweigen, auch dem Großvater gegenüber. Niemand durfte erfahren, was dort auf dem Friedhof geschehen war.
»Wenn du erwachsen bist, wirst du verstehen warum du Dinge siehst, die andere nicht sehen.«
Die Bäuerin wusste, ihre Enkelin musste irgendwann erfahren, welch schweres Erbe sie zu tragen hatte.
Stine hielt sich gehorsam an die Anweisungen ihrer Großmutter, sie konnte sich ja selber nicht erklären, was an diesem verhängnisvollen Sonntag wirklich geschehen war.
Sie hatte eine schwebende Frau gesehen.
Doch offenbar konnten andere Menschen diese Frau nicht sehen. Stine verstand das alles nicht. Folgsam versuchte sie das Ereignis auf dem Friedhof zu vergessen.
Niemand sollte sagen - Stine spinnt …
Dem aufmerksamen Beobachter fiel allerdings auf, dass Stine ihre kindliche Fröhlichkeit verloren hatte. Nur noch sehr selten hörte man ihren ausgelassenen Gesang, sie wurde ihrer Mutter immer ähnlicher. Still und in sich gekehrt saß sie oft unter der alten Buche und sah gedankenverloren über das Moor. So sehr sie sich auch darum bemühte, konnte sie die Erscheinung auf dem Friedhof nicht vergessen.
Immer wieder sah sie das bleiche Gesicht der weißgekleideten Frau vor sich und jedes Mal begann ihr Herz heftig zu klopfen. Doch sie traute sich nicht Großmutter Meta noch einmal auf dieses Erlebnis anzusprechen.
»Warte bis du erwachsen bist …«, hatte sie gesagt und daran hielt Stine sich.
Langsam kehrte der Alltag auf dem Knudtsenhof wieder ein. Am Abend jedoch, wenn alle Lichter gelöscht wurden und die Dunkelheit einen Schleier des Vergessens über den alten Hof ausbreitete, sah man Meta manchmal in ein Gebet vertieft vor dem Hausaltar knien.
8
Die Jahre vergingen, Stine wurde älter und entwickelte sich zu einem pflichtbewussten jungen Mädchen.
Ihre kindlichen Gesichtszüge verschwanden mehr und mehr.
Die hohen Wangenknochen verliehen ihrem Gesicht eine gewisse Kühle, die durch die sanft geschwungenen, vollen Lippen wieder aufgehoben wurde.
Stine war eine gute Schülerin und nahm mit Freude am Konfirmationsunterricht teil.
»Was wünscht ihr euch für euer Leben?«, hatte Pfarrer Harms vor einigen Tagen seine Schülerinnen gefragt. Die Mädchen mussten nicht lange überlegen. Viele sahen den Sinn ihres Lebens darin einen Beruf zu erlernen, eine Familie zu gründen oder glücklich zu sein.
Stine hatte lange nachgedacht, bevor sie schließlich leise sagte:
»Ich wünsche mir Frieden. Es soll nie wieder einen Krieg geben …«, hatte sie geantwortet.
Am liebsten saß sie alleine auf der morschen Bank hinter den Stallungen und las in einem der vielen Bücher, die sie sich in der Kirchenbibliothek auslieh. Sie liebte die Geschichten von Karl May und las begeistert Berichte des berühmten Afrikaforschers David Livingstone.
Ihr Lieblingsbuch jedoch war ein kleines, unscheinbares Büchlein mit dem Titel: »Friesische Sagen und Erzählungen« von Christian Peter Hansen. Sie hatte es eines Tages zufällig in der Sakristei der St. Laurentii Kirche entdeckt, und Pfarrer Harms hatte ihr erlaubt das Buch zu lesen.
Stine war fasziniert von den Geschichten des Kobolds Ekke Nekkepenn, der mit seiner Gemahlin in einem Kristallpalast auf dem Grunde der Nordsee wohnen sollte. Der Sage nach hatte der friesische Meeresgott oft mit den Schiffskapitänen seinen Schabernack getrieben. Für den Salzgehalt der Nordsee war seine Frau Ran verantwortlich. Während Ekke Nekkepenn am Strand hübschen Mädchen nachstellte, saß sie am Meeresgrund und mahlte Salz. Häufig mahlte sie so ungestüm, dass viele Segelschiffe im Meer versanken.
Stine träumte davon auf einem Segelschiff um die Welt zu segeln und all die Geschichten aus ihren Büchern selber zu erleben. Doch sie wusste auch, dass dieser Wunsch immer ein Traum bleiben würde …
Mit der Zeit verblassten die Erinnerungen an die schwebende Frau, und irgendwann hatte Stine den Gedanken daran verdrängt. Nur manchmal, wenn sie ein Kreuz sah, dachte sie flüchtig an das unheimliche Erlebnis auf dem Friedhof.
Dann kam der Tag ihrer Konfirmation. Stine trug das erste Mal die Föhrer Tracht und stand stolz im Kreise ihrer Mitschülerinnen in der kleinen St. Laurentii Kirche von Süderende. Der schwere Stoff des dunkelblauen Rockes und die strahlend weiße Schürze unterstrichen ihre zierliche Figur und ließen sie noch schlanker erscheinen. Nervös zupfte sie an dem schwarzen Kopftuch, dass Meta kunstvoll um Stines Haar geschlungen hatte. Sie konnte nur hoffen, dass das Tuch nicht verrutschen würde.
Ehrfürchtig lauschte sie den Worten des Pfarrers. Er sprach von Pflichtbewusstsein und von der Achtung den Eltern gegenüber. Andächtig faltete das Mädchen ihre Hände, den Blick auf den Altar gerichtet.
Während die Gemeinde das Lied »Großer Gott, wir loben dich«, anstimmte, segnete Pfarrer Harms die Konfirmanden.
Niemand bemerkte, wie Stine plötzlich erstarrte und mit versteinertem Gesichtsausdruck, am Pastor vorbei, in die Ferne starrte. Aus ihrem Gesicht war jede Farbe gewichen, gespenstisch traten die dunklen Augen aus dem bleichen Antlitz hervor. Das Mädchen verstand längst nicht mehr den Sinn der gesprochenen Worte.
Wie in Trance wanderte ihr Blick zu dem bronzenen Kreuz, das seitlich vor dem Altar stand. Ihr Atem ging stoßweise und ihre Schultern verkrampften sich. In ihrem Bewusstsein tauchten Bilder auf, die an ein bestimmtes Ereignis erinnerten. Aber noch bevor Stine diese Bilder in ihrer Erinnerung verankern konnte, verschwanden sie wieder.
Mit unendlicher Kraft löste sie ihren Blick von dem Kreuz und schaute zu ihren Großeltern hinüber. Sie sah das Entsetzen in den Augen ihres Großvaters und die Tränen, die ihrer Großmutter unaufhaltsam die Wangen hinunterliefen. Stine schämte sich entsetzlich. Die Konfirmation sollte einer der schönsten Tage in ihrem Leben werden, doch nun wurde dieser Tag zum Albtraum. Die Kirche war bis auf den letzten Platz besetzt, und jeder wurde Zeuge, wie Stine Knudtsen sich und ihre Großeltern zum Gespött der Leute machte.
Doch so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte weder ihren Körper noch ihre Gedanken kontrollieren.
»Verzeiht mir …« wollte sie sagen, doch aus ihrer Kehle kam nur lautes Gekrächtze. Pfarrer Harms zuckte zusammen, faltete die Hände zum Gebet und ließ seinen Blick hilflos zum Altar wandern. Er stammelte unverständliche Worte und bekreuzigte sich immer wieder.
Inzwischen waren die Menschen in der St. Laurentii Kirche auf das seltsame Verhalten der Stine Knudtsen aufmerksam geworden.
Während Bauer Knudtsen polternd von der Bank aufsprang, flüchteten Stines Mitschüler unter Gekreische in den hinteren Bereich der Kirche. Zusammengedrängt standen sie dort und schauten das Mädchen an, das am ganzen Körper zitterte.
»Sie ist eine Hexe«, wisperte Gerrit Mattes und machte ein bedeutungsvolles Gesicht. Die Mitschüler warfen ihr bewundernde Blicke zu. Viele von ihnen dachten in diesem Augenblick das Gleiche, doch wohl niemand hätte sich getraut diesen Verdacht laut auszusprechen.
»Vielleicht ist ihr schlecht«, wandte Lina leise ein. Einige Mädchen kicherten und ahmten Stines Verhalten nach. Sie zuckten mit den Schultern und verdrehten dabei ihre Augen.
Meta Knudtsen war inzwischen hastig die Stufen zum Altar hinaufgelaufen, doch sie konnte ihrer Enkeltochter nicht mehr helfen. Stine bekam von all dem nichts mehr mit, sie war bewusstlos geworden.
Wochenlang sprach man im Dorf von diesem Ereignis.
Niemand konnte erklären, was an dem Sonntag in der kleinen Dorfkirche von Süderende geschehen war. So kam es, dass nach und nach die wildesten Gerüchte verbreitet wurden.
»Stines Urgroßvater hatte den bösen Blick, das vererbt sich. Er trieb sich manchmal wochenlang im Wald herum und lebte mit wilden Tieren zusammen.«
Der Küster aus Süderende flüsterte hinter vorgehaltener Hand, was er gerade von dem Viehhändler aus Dunsum erfahren hatte. Doch seine Frau schüttelte missbilligend den Kopf.
»Schweig still, wir haben hier auf der Insel gar keine wilden Tiere, du Dösbattel. Oles Mutter konnte Kranke heilen, sie hat meinem Vater oft geholfen, wenn ihn sein Rheumatismus plagte.«
»Die Knudtsen-Frauen sind alle etwas spinnert im Kopf«, mischte sich der Küster Rickmers in das Gespräch ein.
»Das wächst sich irgendwann raus.«
Er schwang sich auf sein Fahrrad und radelte eilig zum Friedhof hinüber.
»Stine tut mir Leid«, murmelte Fenja Nansen, während sie dem Küster hinterher schaute. »Sie kann doch nichts dafür. Das Mädchen hat es nicht leicht.«
»Spökenkiekerei, alles nur Spökenkiekerei …«
Schuster Nansen sah seine Frau missbilligend an, zog seinen Hut tief ins Gesicht und machte sich auf den Weg ins Wirtshaus. »Spinner, alles Spinner …«, brummte er und drängte sich rücksichtslos durch die Menschenmenge.
Während sich die kleine Versammlung auf dem Oldsumer Dorfplatz zögernd auflöste, beschloss die alte Hebamme Trientje noch einen Abstecher zum Knudtsenhof zu machen. Das Thema war zu wichtig, als dass sie sich auf reine Vermutungen verlassen könnte. Sie wollte von niemandem anders als von Meta Knudtsen hören, was sich bei der Konfirmation tatsächlich zugetragen hatte.
Trientje lebte seit Ewigkeiten in Oldsum in einem kleinen Tagelöhner-Haus. Der Bauer Ennen hatte ihr diese Hütte kostenlos zur Verfügung gestellt. Als Gegenleistung versorgte Trientje ihn manchmal mit selbstgebrautem Kräuterschnaps. Die Hebamme soll in jungen Jahren eine bildschöne Frau gewesen sein, erzählte man sich auf der Insel. Heute war allerdings nichts mehr davon zu sehen. In alten, abgewetzten Kleidern und mit ungepflegten, strähnigen Haaren ging sie ihrem Gewerbe nach.
Keiner kannte ihr genaues Alter. Niemand wusste woher sie kam. Sie war einfach da …
Mit ihrem schäbigen Hebammenkoffer marschierte sie von Hof zu Hof und half, mehr oder weniger professionell, kleinen Erdenbürgern auf die Welt.
Nicht immer war sie bei den jungen Bäuerinnen gerne gesehen. Trientje nahm es mit der Hygiene manchmal nicht sehr genau, so kam es durchaus vor, dass das Neugeborene nach der Geburt einfach erst einmal in die wallenden Röcke der Hebamme gewickelt wurde. Noch heute lacht jeder in Oldsum über den Jungbauern Wilko Brons, der die alte Hebamme bei Nacht und Nebel mit der Mistgabel vom Hof jagte. Damit die junge Mutter sich von der Entbindung erholen konnte, hatte Trientje dem neugeborenen Hoferben kurzerhand Alkohol eingeflößt, um ihn auf diese Weise zur Ruhe zu bringen. Trientje ließ sich jedoch von gelegentlichen Unannehmlichkeiten nicht vergraulen, sie wusste genau, dass ihre Dienste immer wieder gebraucht wurden.
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Meta kam gerade aus dem Hühnerstall, als sie die Hebamme über den Hof schlurfen sah. Seufzend ging sie ihr entgegen, sie ahnte was dieser Besuch bedeutete.
»Hallo Trientje«, sagte Meta mit demonstrativer Gleichgültigkeit, während sie den Korb mit den frischen Eiern neben sich auf die Erde stellte.
»Dich treibt wohl die Neugierde her, nicht wahr?«
Trientje wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und ließ sich stöhnend auf einen Holzstapel sinken.
Ohne weiter auf Metas Frage einzugehen, kramte sie ein in Zeitungspapier verpacktes Butterbrot aus ihrer Tasche und biss herzhaft hinein.
»Wenn es nicht bald regnet, gibt es keine gute Ernte. Eure Gerste steht gar nicht gut.«
Meta Knudtsen holte tief Luft und fiel der Alten ungeduldig ins Wort.
»Du hast doch nicht den weiten Weg hierher gemacht, um mit mir über unsere Gerste zu reden?«
Trientje rümpfte die Nase und wickelte die Reste des Brotes wieder in die Zeitung. Erst nachdem sie das Päckchen umständlich zurück in die Tasche gestopft hatte, sah sie Meta aufmerksam an und fragte scheinheilig:
»Wie geht es eigentlich Stine, wird sie die Konfirmation nachholen? Wenn du mich fragst …«
Wütend stampfte Meta mit dem Fuß auf und sagte schneidend:
»Dich fragt aber niemand, schließlich geht dich Stine auch nichts an.«
Doch die Hebamme ließ sich nicht beirren, sie wusste, die Gelegenheit etwas von Meta zu erfahren, würde so schnell nicht wiederkommen. Sie musste die Gunst der Stunde nutzen.
»Mädchen in diesem Alter neigen manchmal zur Hysterie«, meinte Trientje besänftigend, und riet Meta Knudtsen bei der Erziehung ihrer Enkelin strengere Seiten aufzuziehen.
»Du hast das Kind viel zu sehr verwöhnt«, urteilte sie und hob beschwörend die Hände.
»Bring Stine doch mal zum Hinrichsen, sag ihm einen schönen Gruß von mir, er soll sich das Mädchen mal ansehen. Schaden kann es nicht. Er hätte sicher auch deine Tochter Rieke auf den rechten Weg gebracht.«
Meta Knudtsen lief ein Schauer über den Rücken, hasserfüllt sah sie die alte Frau an. Sie wusste sehr genau warum Hinrichsen sich das Mädchen ansehen sollte. Man sagte dem alten Schmied nach, er könne arme Menschenseelen von Dämonen befreien. Doch Meta war ganz sicher, Stine war weder von Dämonen besessen noch war sie hysterisch.
»Das könnte dir so passen«, herrschte sie Trientje an.
»Mit Stine ist alles in Ordnung, verschwinde von meinem Hof, und lass dich hier nie wieder blicken, altes Tratschweib!«
Trientje schaute Meta erschrocken an. So zornig hatte sie die Bäuerin noch nie erlebt.
»Ja ja, bist wohl mit dem falschen Fuß aufgestanden …«, murmelte sie, griff hastig nach ihrer Tasche und machte sich aus dem Staub.