Kitabı oku: «Letzter Weckruf für Europa», sayfa 4

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KAPITEL 3
GESCHICHTE
KRIEGE, FRIEDEN UND DAS SPIEL MIT EMOTIONEN

In keinem anderen Kontinent sind auf so engem Raum so viele unterschiedliche Sprachen, Kulturen und Lebensweisen entstanden, keine Gegend auf der Welt wurde so oft von Völkerwanderungen verändert. Das günstige Klima und die vielen miteinander verbundenen Wasserstraßen haben diese Mobilität begünstigt. Später sind von hier aus Forscher und Abenteurer in großer Anzahl aufgebrochen, um die ganze Erde zu entdecken, immer neugierig, manchmal aber auch nur gierig.

Aber seit Menschen in Europa lebten, wurde hier Krieg geführt: um Raum für den Anbau von Lebensmitteln, später um Grenzen, Religionen oder einfach zur Demonstration von Macht. Schon Ausgrabungen aus der Steinzeit erzählen von grausamen Auseinandersetzungen bis hin zum Kannibalismus. Vor 45.000 Jahren kam der Homo Sapiens nach Europa; vor 8.000 bis 9.000 Jahren wurden die Menschen sesshaft, lebte von Ackerbau und Viehzucht und verwendete keramische Gerätschaften. Seit dieser Zeit, der sogenannten neolithischen Revolution, sind die ältesten bäuerlichen Kulturen in Mitteleuropa nachweisbar. In Herxheim in der Pfalz fand man etwa 450 Schädel, Zeugen roher Gewalt, die rund 5.000 v. Chr. ausgeübt wurde. Zur gleichen Zeit gab es in Niederösterreich das „Massaker von Schletz“. In Aspern an der Zaya wurden die Überreste von rund 200 Menschen gefunden, die durch Hiebe auf den Kopf getötet worden waren, wie die Schädelfunde zeigen.

Gründe für einen Krieg gab es immer. Erst vor wenigen Jahren wurden am Ufer des Flusses Tollense im deutschen Bundesland Mecklenburg-Vorpommern Spuren kriegerischer Auseinandersetzungen gefunden, die in der Bronzezeit stattgefunden hatten. Archäologen haben anhand der Knochenfunde eruiert, dass hier um 1.300 vor Christi Geburt rund 5.000 Menschen mit Schwertern und Pfeilen aus Bronze zu Fuß und auf Pferden miteinander gekämpft haben. Damals veränderte sich das Klima, die Lebensbedingungen im Norden wurden schlechter, Ressourcen entsprechend knapp. Bei diesem Krieg ging es also offenbar noch um das nackte Überleben eines Stammes; später schickten Herrscher ihre Untertanen aus reiner Machtgier auf die Schlachtfelder, oft verbrämt durch angebliche religiöse Ziele, fanatisiert durch nationalistische Gesänge oder eingebildete „rassische“ Überlegenheit. Von 7.000 v. Chr. bis ins Jahr 2001, als die Jugoslawienkriege zu Ende ging, sind Menschen in Europa also gewaltsam gegeneinander vorgegangen, und schon während der Friedensverhandlungen wurde meistens die nächste Schlacht vorbereitet.

Der Sprecher des österreichischen Bundesheeres, Oberst Michael Bauer, kam irgendwann auf die Idee, auf der Plattform Twitter, wo Streit auch nicht immer zivilisiert abläuft, mit historischen Friedensschlüssen für historische Bildung zu sorgen. Der erste belegte Friedensvertrag geht auf das Jahr 2.740 v. Christus, auf das Sumererreich zurück, das erste Friedensabkommen in Europa wurde 449/448 v. Chr. geschlossen: der Kalliasfrieden zwischen dem Attisch-Delischen Seebund und dem persischen Achämenidenreich, das nach Europa expandiert war. Der griechische Heerführer Kallias und König Artaxerxes beendeten dadurch die Perserkriege, vorläufig zumindest. Alexander der Makedonier marschierte 334 v. Chr. wieder gegen die Perser und wurde durch die vielen Kriege in seinem kurzen Leben zu Alexander dem Großen. Der jüngste Friedensvertrag, paraphiert am 21. November in Dayton, Ohio, und unterzeichnet am 14. Dezember 1995 in Paris, beendete die Kriege nach dem Zerfall Jugoslawiens zwischen Serbien, Kroatien und Bosnien.

Der Holocaust veränderte (vorerst) alles

In den Ersten Weltkrieg waren die europäischen Großmächte und ihre Führer, die noch dazu großteils miteinander verwandt waren, wie Schlafwandler getaumelt, so der Titel des Buches des Historikers Christopher Clark aus dem Jahr 2012. In über vier Jahren starben 17 Millionen Soldaten auf den Schlachtfeldern und Zivilisten an den Kriegsfolgen. Im November 1918 sah die Welt anders aus, drei Reiche waren untergegangen, das des Zaren, das der Habsburger und das der Hohenzollern. Die Friedensverträge, geschlossen in den Pariser Vororten, wollten mehr bestrafen als befrieden. Manche Historiker sehen die Zeit von 1914 bis 1945 wie einen großen Krieg, aber Hitler wollte mehr als die Revanche für einen ungerechten Frieden, er wollte auch mehr als „Lebensraum im Osten“. Die Vernichtung des Judentums war sein Ziel, und deren Durchführung war so erschreckend genau geplant wie der Fahrplan der Deutschen Reichsbahn. Die Amerikaner kamen spät, aber sie kamen. Den Holocaust konnten auch sie nicht mehr verhindern. Dass eine Kulturnation wie die Deutschen dazu fähig war, beschäftigt noch heute das Gewissen der deutschen Politik, und auch das offizielle Österreich hat spät, aber doch Verantwortung übernommen. 70 Millionen Tote kostete der Zweite Weltkrieg, 6 Millionen Juden wurden ermordet, zum Teil nach schrecklichen Qualen in den Vernichtungslagern, aber auch nach erniedrigenden Aktionen durch Zivilisten. Es ist und bleibt ein großes Wunder, dass die Todfeinde vieler Jahrhunderte schon kurz nach dem Krieg mit dem größten Friedenswerk der europäischen Geschichte begannen, indem sie die Verfügung über Kohle und Stahl unter eine gemeinsame Verwaltung stellten. Seither ist Versöhnung ein großes europäisches Thema, mit dem sich freilich viele am Balkan noch schwertun.

Der Zerfall Jugoslawiens: Kein Ende der Geschichte

Die Jugoslawien-Kriege zeigten, dass mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der kommunistischen Ideologie nicht das Ende der Geschichte gekommen war, wie der amerikanische Politologe Francis Fukuyama geschrieben hat. In einem Essay aus dem Jahr 1989 und seinem berühmt gewordenen Buch mit ebendiesem Titel drei Jahre später stellte er die These auf, dass sich liberale Demokratie und Marktwirtschaft endgültig durchgesetzt hätten. Immerhin, im November 1990 wurde die Charta von Paris unterzeichnet. Darin riefen die Staaten Europas, die auf ihren Territorien nicht nur eigene Massenvernichtungswaffen, sondern auch Bomben und Raketen der Russen und Amerikaner stationiert hatten, den ewigen Frieden für den kriegerischen Kontinent aus. Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die seit November 1972 in Helsinki an der Respektierung von Staaten, Grenzen, aber auch Menschenrechten arbeitete, war damit nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zerfall des Ostblocks zu ihrem friedlichen Ende gekommen.

Umso ernüchternder waren die Jugoslawien-Kriege, die im Sommer 1991 in Slowenien mit dem 10-Tage-Krieg begannen und erst 2001 mit dem albanischen Aufstand in Mazedonien endeten. Die Zahl der Toten in diesen blutigen Bürgerkriegen wird auf rund 200.000 geschätzt. 2,4 Millionen Menschen flüchteten vor Verfolgung aus ihrer Heimat, Verbrechen gegen die Menschlichkeit wurden vor einem internationalen Strafgerichtshof verhandelt, Täter wurden abgeurteilt. Viele Wunden sind auch heute noch offen, wie man bei jedem Gespräch in einem der betroffenen Länder erfährt. Wir müssen es so klar aussprechen: Krieg am Balkan kann es wieder geben. Unverbesserliche Nationalisten sprechen bereits von Grenzverschiebungen und dem Austausch von Bevölkerungsgruppen. So etwas geht nie friedlich. Und alle schauen weg. Ja, die Sonntagsreden gibt es, in denen für die Aufnahme der Westbalkanländer in die EU geworben wird. Und dann blockierte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron im Herbst 2019 die Aufnahmegespräche mit Albanien und Nordmazedonien. Angeblich war er beleidigt, weil seine Kandidatin für die EU-Kommission nicht akzeptiert wurde. Auch das ist Europa. Aber im Frühjahr 2020 gab es eine Wendung zum Positiven. Am 24. März beschlossen die EU-Staaten die Aufnahme von Beitrittsgesprächen mit den beiden Ländern.

Orbáns Spiel mit der Geschichte

Traumatische historische Ereignisse und das politische Spiel mit ihnen können die Wurzel für neue Konflikte werden. Das weiß ein Politiker wie Viktor Orbán, der die Geschichte seines Landes massiv für nationale Aufwallungen einsetzt wie kein anderer in Europa. Das Lustschloss Grand Trianon, das Ludwig XIV. im Park von Versailles erbauen hatte lassen, werden viele Ungarn nie persönlich gesehen haben, aber sie wissen, dass dort nach dem Ersten Weltkrieg, am 4. Juni 1920, ein Vertrag unterzeichnet wurde, der aus dem Königreich Ungarn einen deutlich kleineren Staat machte. Mit diesen „Pariser Vorortverträgen“ wurde der Erste Weltkrieg in aller Form beendet, auch mit einer Unterschrift der ungarischen Regierung, die damit auf zwei Drittel der Fläche des einstigen Königreiches zugunsten der Nachbarstaaten verzichtete. Zuvor hatten Tschechen und Slowaken die tschechoslowakische Republik ausgerufen, Siebenbürgen war Rumänien zugeschlagen worden und in Zagreb hatte sich der Staat aus Serben, Kroaten und Slowenen gegründet. Für die Ungarn war es extrem schmerzvoll, dass sie auch Gebiete hergeben mussten, in denen sie die Mehrheitsbevölkerung stellten. 3 Millionen Ungarn lebten fortan außerhalb der neuen ungarischen Grenzen, wo noch rund 7,6 Millionen ihr Zuhause hatten.

Es gibt eine eigene „Trianon-Forschungsgruppe“, deren Leiter Balázs Ablonczy in der Budapester Zeitung die Bedeutung des Wortes Trianon in einem Interview sehr anschaulich erklärte: „In Ungarn gibt es über Trianon – wie bei anderen Ereignissen des 20. Jahrhunderts auch – mehrere Erinnerungen, die grundsätzlich sehr politisch geprägt sind. Man denkt darüber auf der linken Seite anders als auf der rechten, daneben gibt es auch eine liberale und eine rechtsradikale Auffassung, die meistens unversöhnbar miteinander sind. Oft habe ich das Gefühl, dass Trianon in Ungarn gar nicht der Name des Friedensvertrags ist, denn wenn jemand darüber redet, spricht er nicht über den Vertrag, sondern über all das Übel und Unglück, das uns widerfahren ist. Ein Beispiel: Ich kam gestern am Flughafen an und auf dem Nachhauseweg fragte mich der Taxifahrer, wo ich war und was ich gemacht habe. Ich sagte, dass ich auf einer Konferenz über die Friedensverträge in Paris war, woraufhin er sofort drauflosredete, aber nach drei Sätzen sprach er überhaupt nicht mehr von Trianon, sondern darüber, wie schwer das Leben heutzutage ist und ob es vor der Wende besser war oder nicht. Das meine ich, wenn ich sage, dass Trianon der Name einer Tragödie ist.“

So wird aus einem hundert Jahre zurückliegenden Ereignis eine Projektionsfläche für aktuelle persönliche Probleme. Das ist auch deshalb möglich, weil in der kommunistischen Zeit das Thema Trianon tabuisiert war. Im Ostblock mussten alle Staaten „sozialistische Bruderländer“ sein, da durfte Nationalismus keine Rolle spielen. Offiziell. Der Schmerz, den viele Ungarn spürten, auch weil ihnen die Behandlung der ungarischen Minderheit in anderen Staaten nicht gefiel, wurde verdrängt. Und kann heute umso massiver missbraucht werden.

Viktor Orbán spielt lustvoll mit dem Mythos Trianon und wird dabei auch kreativ. Am 4. Juni 2020 wurde in Budapest ein 100 Meter langes und vier Meter breites Denkmal fertig. Eine Art Rampe um rund 16 Millionen Euro soll ein „Denkmal der nationalen Einheit“ werden und die Menschen daran erinnern, wie groß Ungarn einmal war. Das Jahr 1913 wurde als Referenzpunkt gewählt, mehr als 12.500 Ortsnamen des Königreichs Ungarn wurden in die Rampe, die unter die Erde verläuft, eingemeißelt. Also auch viele Orte, die heute nicht mehr in Ungarn liegen und solche, die nie mehrheitlich von Ungarn besiedelt waren. Orbán spielt gerne das Opfer, da wird die EU-Zentrale auch zu „Brüssel, dem neuen Moskau“.

Die Europäische Gemeinschaft wurde gegründet, um den bis dahin üblichen Geschichtsrevisionismus durch den Abbau von Grenzen für immer zu beenden. Wenn es seit den Verträgen von Maastricht eine Europäische Staatsbürgerschaft gibt, dann muss ein Nationalstaat nicht mehr danach trachten, ehemalige Staatsbürger mit einem nationalen Dokument einzugemeinden. Genau das aber macht Orbán mit Angeboten für ungarische Pässe an Ungarn in Rumänien, der Slowakei und den Balkanländern. Genauso handelte die FPÖ, als sie mit der Idee spielte, Südtirolern die österreichische Staatsbürgerschaft anzubieten und diese Forderung sogar im türkis-blauen Regierungsprogramm von 2017 unterbrachte. Das sind rückwärtsgewandte Ideen, die bewusst Gräben aufreißen und den Nationalismus virulent machen sollen.

Osteuropa:
Rückfall in autoritäre Zeiten

In den Staaten des früheren Ostblocks schien es nach dem Fall der Mauer und der Beseitigung des Eisernen Vorhangs wirklich so, als würden dort Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte verankert werden sowie das Prinzip des Wohlfahrtsstaats, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg überall in Westeuropa entwickelt hatte. Immerhin hatten sich einige Völker ihre Freiheit gegen die lokalen kommunistischen Diktatoren, die mit den sowjetischen Panzern im Hintergrund herrschten, erkämpft, in einem zum Teil jahrzehntelangen Prozess.

Die Ungarn hatten sich schon 1956 gegen die sowjetischen Besatzer gewehrt, Tschechen und Slowaken 1968. Vergeblich. Im Jahr 1980 wurde der 37-jährige Elektriker Lech Wałęsa in Danzig Chef der neuen Gewerkschaftsbewegung Solidarność. Dort agierten endlich keine angeblichen Arbeiterführer mehr, die nur dem Staat und ihrer Ideologie dienen wollten, sondern echte Gewerkschafter, die für ihre Kolleginnen und Kollegen eintraten, auch mit Streiks. Das hatte Wałęsa schon zehn Jahre davor versucht und war deshalb verhaftet worden. Nun wurde er zum weltweiten Helden, den auch Kriegsrecht und Hausarrest nicht mundtot machen konnten. Neun Jahre später, im Sommer 1989, machte Wałęsa – in noch nicht wirklich freien Wahlen – den Christdemokraten Tadeusz Mazowiecki zum ersten nichtkommunistischen Ministerpräsidenten seit dem Zweiten Weltkrieg.

Auch andere Völker, die seit dem Krieg von sowjetischen Panzern beherrscht waren, lehnten sich auf. Am 7. Oktober 1989 beobachte ich in Ost-Berlin die offiziellen Feiern zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR, der Deutschen Demokratischen Republik. Unweit des Alexanderplatzes war eine riesige Tribüne aufgebaut, von wo aus der damals 77-jährige Staatschef Erich Honecker gemeinsam mit den anderen überwiegend greisen Mitgliedern des Politbüros und dem vergleichsweise jugendlichen sowjetischen Parteichef Michail Gorbatschow die Militärparade beobachtete. Auf der ehemaligen Stalinallee, die seit Herbst 1961 Karl-Marx-Allee hieß, demonstrierten Panzer sowjetischer Bauart die Macht des Militärs im „Arbeiter- und Bauernstaat“, tausende Soldaten marschierten im Stechschritt nach dem Vorbild preußischer Exerzierregimenter an den kommunistischen Führern vorbei. Ich stand ganz vorne, nahe dem Alexanderplatz, von wo auch viele Ost-Berliner die Szene mitverfolgten. Da trat ein DDR-Bürger einen Schritt nach vorne, an einen abgesperrten Bereich heran. Ein Volkspolizist wies ihn rüde an, wieder auf den Gehsteig zurückzugehen. Der Mann sah den Uniformierten an und fragte: „Warum?“ Das war eine Revolution im Kleinen, der Polizist schaute verwundert und drehte sich um. Als ob er geahnt hätte, dass das Geschehen nur mehr der letzte Akt einer schlechten Show war, die verzweifelte Farce einer Führung, die nur mehr wenige Wochen existieren würde.

In diesem Herbst des Jahres 1989 veränderte sich ganz Europa. Östlich des Eisernen Vorhangs ganz radikal, im Westen zunächst unbemerkt. Mauer und Stacheldraht hatten auch dazu geführt, dass viele Menschen im Westen nur wenig über das Leben jenseits der Todesstreifen wussten. Am Balkan machten sich die ersten Vorboten nationaler Konflikte bemerkbar, die in blutige Kriege münden sollten. Und es ging alles sehr schnell: in Polen, Rumänien, Bulgarien, Ungarn, der ČSSR – die Tschechoslowakische Sozialistische Republik der Tschechen und Slowaken –, Estland, Lettland, Litauen.

Bereits am 10. November 1989, einen Tag nach Öffnung der Berliner Mauer, musste Todor Schiwkow als Generalsekretär der kommunistischen Partei Bulgariens zurücktreten. Er war seit 1954 im Amt gewesen. In Rumänien wollte Nicolae Ceaușescu beweisen, dass er sich zurecht Titel wie „das Genie der Karpaten“ oder „Sohn der Sonne“ verliehen hatte und glaubte, mit Hilfe des Geheimdienstes Securitate den Sturm der Demokratisierung des Ostens zu überleben. Nach kurzem Prozess wurden der Diktator und seine Frau Elena, laut Propaganda eine „Gelehrte von Weltruhm“, am 25. Dezember 1989 standrechtlich erschossen. Fotos und Videos sollten den Tod der beiden beweisen. In Ungarn fanden am 25. März 1990 die ersten freien Wahlen statt, Regierungschef wurde der Christdemokrat Joszef Antall. In Estland erklärte der Oberste Rat der Estnischen Sowjetischen Sozialistischen Republik unter dem Vorsitzenden Arnold Rüütel ausgerechnet am 8. Mai 1990, 45 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, seine erneute Souveränität von der Sowjetunion. Ab sofort nannte sich das Land Republik Estland, eine Bezeichnung, die 1991 zusammen mit den ebenfalls wieder unabhängigen Ländern Litauen und Lettland durchgesetzt wurde.

In Mittel- und Osteuropa waren die nationalen Zusammensetzungen und Grenzen weitgehend unbestritten, nur Tschechen und Slowaken gründeten am 1. Jänner 1993 ihre eigenen Staaten, nachdem sie sich zuvor mit einer Föderation geplagt hatten.

Die glücklichste Generation – in Westeuropa

Ich verfolgte diese Entwicklungen beruflich als Journalist – bis Jänner 1991 als Korrespondent in Deutschland und anschließend als Chef der politischen Magazine und Dokumentationen im ORF in Wien –, aber im Herzen vor allem auch als glückliches Nachkriegskind.

Meine Generation ist aufgewachsen mit dem Erlebnis des ständig zunehmenden, unbeschränkt scheinenden Wachstums. Alles wurde mehr, zunächst einmal der Wohlstand. Auch in Mittelklassenfamilien waren in meiner Kindheit Süßigkeiten noch eine Besonderheit, etwa, wenn jemand zu Besuch kam. Oder Fleisch, das es meistens nur am Sonntag gab. Eine Woche Ferien am Faaker See waren ein Ereignis, zwei Wochen in Lignano Luxus. Aber im Rückblick waren nicht die materiellen Erfahrungen so wichtig, sondern der spürbare Zuwachs an persönlicher Freiheit. Wir waren die erste Generation, die an den Universitäten mitbestimmen durfte, nach dem Universitätsorganisationsgesetz der SPÖ-Alleinregierung im Jahr 1975, damals zum großen Ärger der Professoren. Dabei war es der junge ÖVP-Unterrichtsminister Alois Mock gewesen, der schon im Jahr 1969 die Mitbestimmung in den Studienkommissionen eingeführt hatte. Ausgerechnet die schwarz-blaue Regierung Schüssel hat im Jahr 2000 die Mitbestimmung zurückgenommen. Dazu kam, dass meine Generation leichter im Ausland studieren konnte. Und schließlich waren wir dabei, als sich die Freiheit in ganz Europa ausbreitete. Was für ein Erlebnis für uns, was für eine Chance für Europa und seine Bürgerinnen und Bürger!

Die neue Freiheit führte zur Öffnung der Grenzen, und die EU war und soll Garant dafür sein, dass die Europäer nicht mehr gegeneinander Krieg führen werden. Diese Hoffnung bewegt mich bis heute. Was für ein Glück haben wir gehabt, dass wir nach dem schrecklichsten aller europäischen Kriege geboren wurden. Doch das bringt eine riesige Verantwortung mit sich, die niemals selbstverständliche Errungenschaft der Freiheit und des Friedens für die nächsten Generationen zu erhalten.

Jedes Volk muss mit seiner Geschichte leben, deshalb ist es so wichtig, dass wir sie kennen. Die Lehren der Geschichte strahlen stets länger in die Politik und das Zusammenleben in der Gegenwart aus, als den Nachgeborenen lieb sein kann. Denn es ist nicht immer einfach, die Traumata und Verwundungen, die aus der Vergangenheit herüberstrahlen, zu verstehen. Wir Österreicher wissen um die manchmal noch spürbaren Auswirkungen unseres Bürgerkriegs des Jahres 1934. Die oft zum Hass gesteigerte Abneigung zwischen „Schwarzen“ und „Roten“ macht sich zum Teil bis heute bemerkbar. Dazu kommt, dass viele unserer Vorfahren wenig heldenhaft und sicher auch verblendet ihre Grenzen, Plätze und Herzen öffneten, als Adolf Hitler am 12. März 1938 einmarschierte und sich die Opportunisten aller Lager mit den braunen Horden verbrüderten. Aus dem bereits latenten widerlichen Antisemitismus des Alltags in Österreich wurde der mörderische in der Ostmark. Carl Zuckmayer schildert in seiner Autobiografie, dass er sowohl die ersten Tage der Nazi-Herrschaft in Berlin Ende Jänner 1933 als auch den Einmarsch Hitlers in Wien erlebte und wie er den Unterschied zu Berlin sah: „Nichts davon war mit diesen Tagen in Wien zu vergleichen. […] Was hier in Wien entfesselt wurde, war der Aufstand des Neids, der Missgunst, der Verbitterung, der blinden, böswilligen Rachsucht – und alle anderen Stimmen waren zum Schweigen verurteilt.“ Die 1930er Jahre hatten Not und Armut gebracht, auch in Österreich, aber es waren nicht nur die Hungernden und Arbeitslosen, die ihre jüdischen Nachbarn plötzlich quälten, verhöhnten und schließlich ermordeten. Es waren auch Juristen und Ärzte dabei, die zunächst auf den Straßen Wiens Juden erniedrigten und dann in den Konzentrationslagern über Leben und Tod entschieden.

Österreich hat nach Krieg und Shoah länger gebraucht als Deutschland, um sich zu den Verbrechen der Hitlerzeit zu bekennen. Dort wiederum zeigte die AfD in den letzten Jahren ganz offen, dass sie die bisherige Einigkeit der deutschen Politik, den Holocaust als einmaliges Verbrechen in der Geschichte der Menschheit zu sehen und zu verurteilen, nicht mittrug. Nein, die Nazi-Zeit war kein „Vogelschiss der Geschichte“, wie AfD-Chef Gauland bewusst verharmlosend meinte.

Wir haben unsere Freiheit – sowohl in Deutschland als auch in Österreich – von den Alliierten geschenkt bekommen. Oder, um es ganz menschlich zu sagen: von den Soldaten, die für unsere Befreiung gekämpft haben. An dieser Stelle muss ich an den wunderschönen Strand in Rayol – Canadel-sur-Mer unweit von St. Tropez denken. Dort kann man einen herrlichen Urlaub verbringen. Aber wer mit offenen Augen über die kleine Landstraße oberhalb des Strandes geht, sieht dort eine Gedächtnisstelle für die Gefallenen des Afrika Kommandos, das am 15. August 1944, nach der Landung der Alliierten in der Normandie im Juni, den Süden Frankreichs befreite. Dort wird mit weißen Kreuzen einiger christlicher französischer Soldaten gedacht, die bei der Landung am Strand gefallen sind, aber maurische Figuren erzählen auch von muslimischen Uniformierten in den Reihen der Befreier.