Kitabı oku: «Letzter Weckruf für Europa», sayfa 5

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Rückfall in den Nationalismus

Aber zurück zur Befreiung der Jahre 1989/1990, zu dieser friedlichen Revolution: Unsere östlichen Nachbarn mussten nach der Teilung Europas allzu lange auf der stalinistischen, und nach Stalins Tod auf der sowjetischen Seite der Geschichte leben. Und sie haben sich auf unterschiedliche Weise vom Joch der Unterdrückung, von Einparteiendiktatur, Misswirtschaft und Funktionärsmissbrauch befreit. Das war und ist eine historische Leistung, für die wir sie bewundern müssen. Aber warum erleben wir dort seit einigen Jahren den Rückfall in den Nationalismus? Das Phänomen ist überall zu beobachten, und es gibt dazu inzwischen unterschiedliche Erklärungsversuche, die darauf gründen, dass wir mitten in einer technologischen und gesellschaftspolitischen Entwicklung stehen, die weit über Europa hinausgeht. Das ist schon ein Teil der Erklärung: Diese vielfältigen Veränderungen machen Angst. Da liegt der Rückzug in das Vertraute, und das ist auf verführerische und trügerische Weise auch die Nation, durchaus nahe.

Heute, 30 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung und nachdem die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) den ewigen Frieden ausgerufen hat, leben wir plötzlich wieder mitten in einem nationalistischen Gepolter, das sich durch ganz Europa bis in kleine Regionen zieht. Der Ton wird lauter und aggressiver. Institutionen, die für das Gemeinsame stehen, wie die Europäische Union, werden von den Rechten diffamiert. Selbst gemäßigte Politiker gehen auf Distanz zur EU, um bei nationalen Wahlen zu punkten. Wird aus Nationalismus wieder Chauvinismus, die Verachtung der anderen? Da werden wir sehr genau hinschauen und hinhören müssen.

Die Rolle des Staates

Aber nicht nur die komplizierte und kriegerische Geschichte macht das Zusammenleben in Europa schwer, auch der Blick der Bürger auf den Staat und andere Autoritäten unterschiedet sich massiv zwischen Palermo und dem Polarkreis, zwischen Lissabon und Limassol. Viele Italiener sehen den Staat als Einrichtung, gegen die man sich zur Wehr setzen muss, zumindest, indem man ihm die Steuern vorenthält. Deutsche wollen korrekt sein, Österreicher neigen mit der Habsburger-DNA im Blut zu einer beachtlichen Hörigkeit gegenüber Obrigkeiten. In Ländern des ehemaligen Ostblocks reagieren Menschen auf Anweisungen aus Brüssel skeptisch, weil sie früher von einer anderen, fernen Zentrale gesteuert wurden. Franzosen wehren sich gegen Präsidenten, denen sie aber eine fast imperiale Ausstattung zugestehen, und in Großbritannien ist persönliche Freiheit traditionell ein wichtigerer Wert als in den anderen europäischen Staaten. Das klingt klischeehaft, ließ sich aber auch in der Corona-Krise verfolgen, wobei Boris Johnson mit seiner freizügigen Strategie gegen das Virus erfolglos blieb.

Überall haben Politikerinnen und Politiker ein Gespür, die nationalen Emotionen anzusprechen. Und wenn es einen Außenfeind gibt, dann sind plötzlich auch Grenzen willkommen. Nationale Grenzen helfen allerdings nicht gegen ein Virus, regionale Blockaden schon eher.

Der britische Historiker Ian Kershaw nennt in seinem 2018 erschienenen Buch Achterbahn – Europa 1950 bis heute die Europäische Union eine „Kompromissfabrik“. Ihre Schwungräder und Kurbelwellen bewegen sich langsam. Kershaw: „Das System ist nicht für Tempo und Dynamik gemacht, sondern dafür, zu verhindern, dass eine Macht die Vorherrschaft erreicht.“ Andere verglichen die EU mit der Springprozession im luxemburgischen Echternach: zwei Schritte vor, einer zurück. Viele Krisen wurden aber so bewältigt, und dass kein Land in Europa die anderen dominiert, ist das Erfolgsgeheimnis. Im Vertrag von Maastricht haben sich die damals zwölf Mitgliedsländer verpflichtet, die Gemeinschaft zu einer politischen Union auszubauen. Alle Staaten, die seither beigetreten sind, haben diese Verpflichtung übernommen. Die Europäische Union hat also alle Grundlagen, um gemeinsam durch diese Krise zu kommen, wenn die Nationalstaaten nur wollen. Und wenn diese so entschlossen sind, wie sie es im Vertrag von Maastricht vereinbart haben.

KAPITEL 4
ENTSCHLOSSEN
MAASTRICHT BRACHTE DIE UNVOLLENDETE UNION

Entschlossen – dieses ausdrucksstarke Wort steht gleich fünfmal in der Präambel des Vertrages von Maastricht. Er wurde am 7. Februar 1992 in der niederländischen Stadt unterschrieben und sollte die zwölf Staaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) in eine Union für gemeinsames Handeln nach innen und außen weiterentwickeln, was in wichtigen Bereichen auch gelang. Aber von dieser geforderten Entschlossenheit war vor allem zu Beginn der Corona-Pandemie so gar nichts zu spüren.

Nun kann es für eine weltweite Seuche keinen günstigen Zeitpunkt geben, aber im Frühjahr 2020 erwischte das Corona-Virus ganz Europa zu einem besonders heiklen Zeitpunkt. Es war genau 30 Jahre her, dass nach dem Zerfall des Sowjetblocks und der darauffolgenden Unabhängigkeit der 15 Sowjetrepubliken überall in Osteuropa demokratische Regime entstanden. Erst vor 30 Jahren wurde in Europa der Zweite Weltkrieg durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag offiziell beendet, Vertreter der beiden deutschen Staaten und der vier Alliierten unterzeichneten am 12. September 1990 in Moskau diesen Vertrag. Erst jetzt war Deutschland ein souveräner Staat, die vier Siegermächte hatten ihre Rechte aufgegeben. Endlich durften die Menschen in den beiden bis zum Mauerfall verfeindeten deutschen Staaten ihre Wiedervereinigung feiern. Aber 30 Jahre nach diesen weltpolitisch überraschenden und so erfreulichen Ereignissen befindet sich die Europäische Union bereits seit Jahren in einer tiefen Krise. Diese zeigt sich unter anderem darin, dass Medienfreiheit und Rechtsstaatlichkeit in ehemals kommunistischen Ländern eingeschränkt wurden. Journalisten und Richter geraten in einigen Staaten unter Druck, statt der Betonung der Menschenrechte hören wir in einigen Staaten wieder völkische Parolen rechtsextremistischer Gruppen, in Ungarn sogar von der Regierung. Bei der Art, wie nach dem Austritt der Briten aus der Union über das Budget der nächsten sieben Jahre gestritten wurde, war der Geist von Maastricht auch nicht zu spüren. Der Brexit wurde zwar am 31. Jänner 2020 vollzogen, aber das künftige Verhältnis zwischen der EU und Großbritannien ist nach wie vor nicht geklärt. Immerhin: Vielen Briten wurde während der Corona-Krise klar, dass ein funktionierender Handel mit dem Kontinent gerade in schwierigen Zeiten überlebenswichtig ist.

Der heftig ausgetragene Streit zwischen Nord und Süd, zwischen Ost und West, zwischen den „frugalen Vier“, also Dänemark, Holland, Österreich, Schweden auf der einen und dem Rest der EU auf der anderen Seite, war und ist ein Symbol für das Auseinanderdriften einer Staatengemeinschaft, die erst 2013 durch die Aufnahme Kroatiens auf 28 Mitglieder angewachsen und durch den Brexit wieder auf 27 geschrumpft ist. Über Geld wurde in der Union immer gestritten, wobei die Lösung in Zeiten von Helmut Kohl und Maggie Thatcher einfacher war. Die Britin rief „I want my money back!“ und der Deutsche hatte immer das Scheckbuch dabei, durchaus zum Vorteil der starken, exportorientierten Industrie der Bundesrepublik.

Die Werte der Union klingen wunderbar

Die Konflikte, die vor der Corona-Krise virulent geworden waren, lassen sich aber nicht mit Geld allein beseitigen, denn es geht plötzlich um das Wertefundament Europas. Werte? Sind sich alle Regierungen einig darüber, auf welchen Fundamenten Europa nach den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts errichtet wurde? Theoretisch vielleicht, aber die national befeuerten Emotionen, aus denen wieder ein völkischer Furor werden könnte, spielen eine immer größere Rolle. Dabei haben alle Länder, die später in mehreren Wellen der Europäischen Union beigetreten sind, den Vertrag von Maastricht unterzeichnet. Mit diesem haben im Februar 1992 die zwölf damaligen Mitglieder Belgien, Dänemark, Deutschland, Griechenland, Spanien, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Portugal und Großbritannien die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zur Europäischen Union weiterentwickelt. Und zwar mit vielen Werten, Grundsätzen und sich daraus ergebenden Verpflichtungen. Die Länder erklärten in Maastricht, eine Europäische Union zu gründen, und zwar

ENTSCHLOSSEN, den mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften eingeleiteten Prozess der europäischen Integration auf eine neue Stufe zu heben,

EINGEDENK der historischen Bedeutung der Überwindung der Teilung des europäischen Kontinents und der Notwendigkeit, feste Grundlagen für die Gestalt des zukünftigen Europas zu schaffen,

IN BESTÄTIGUNG ihres Bekenntnisses zu den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit,

IN DEM WUNSCH, die Solidarität zwischen ihren Völkern unter Achtung ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihrer Traditionen zu stärken,

IN DEM WUNSCH, Demokratie und Effizienz in der Arbeit der Organe weiter zu stärken, damit diese in die Lage versetzt werden, die ihnen übertragenen Aufgaben in einem einheitlichen institutionellen Rahmen besser wahrzunehmen,

ENTSCHLOSSEN, die Stärkung und die Konvergenz ihrer Volkswirtschaften herbeizuführen und eine Wirtschafts- und Währungsunion zu errichten, die im Einklang mit diesem Vertrag eine einheitliche, stabile Währung einschließt,

IN DEM FESTEN WILLEN, im Rahmen der Verwirklichung des Binnenmarkts sowie der Stärkung des Zusammenhalts und des Umweltschutzes den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt ihrer Völker zu fördern und Politiken zu verfolgen, die gewährleisten, dass Fortschritte bei der wirtschaftlichen Integration mit parallelen Fortschritten auf anderen Gebieten einhergehen,

ENTSCHLOSSEN, eine gemeinsame Unionsbürgerschaft für die Staatsangehörigen ihrer Länder einzuführen,

ENTSCHLOSSEN, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu verfolgen, wozu auf längere Sicht auch die Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik gehört, die zu gegebener Zeit zu einer gemeinsamen Verteidigung führen könnte, und so die Identität und Unabhängigkeit Europas zu stärken, um Frieden, Sicherheit und Fortschritt in Europa und in der Welt zu fördern,

IN BEKRÄFTIGUNG ihres Ziels, die Freizügigkeit unter gleichzeitiger Gewährleistung der Sicherheit ihrer Bürger durch die Einfügung von Bestimmungen über Justiz und Inneres in diesen Vertrag zu fördern,

ENTSCHLOSSEN, den Prozess der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas, in der die Entscheidungen entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip möglichst bürgernah getroffen werden, weiterzuführen,

IM HINBLICK auf weitere Schritte, die getan werden müssen, um die europäische Integration voranzutreiben.

Man muss diese Präambel mehrfach und genau lesen, da sie sehr differenziert formuliert ist. Entschlossen waren die Unterzeichner bei der Gründung einer Wirtschafts- und Währungsunion mit einer „stabilen Währung“, bei der „Unionsbürgerschaft“, dem „Subsidiaritätsprinzip“ und einer „gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“. Eine „gemeinsame Verteidigung“ wurde schon unter Vorbehalt genommen, dazu „könnte“ es kommen. Wobei der Nutzen einer gemeinsamen Verteidigung klar beschrieben wird: „Die Identität und Unabhängigkeit Europas zu stärken, um Frieden, Sicherheit und Fortschritt in Europa und in der Welt zu fördern.“ Das sollten wir tun, aber davon sind wir weit entfernt. So sind wesentliche Fortschritte, die für die EU überlebenswichtig sind, nur mit der Formulierung „in dem Wunsch“ eingeleitet: „Solidarität zwischen den Völkern unter Achtung der Kultur und der Geschichte“ sowie der „Ausbau der Demokratie“.

Immerhin, im Vertrag von Maastricht geht es nicht mehr nur um einen gemeinsamen Markt, um den Abbau von Zöllen oder Bewegungsfreiheit. Nein, hier werden die Grundlagen des Zusammenlebens für alle Bürgerinnen und Bürger genannt, wenn schon nicht in einem Staat, so doch in einer „Union der Völker Europas“: Freiheit, Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Solidarität und die Angleichung der Volkswirtschaften sind mehr als nur ein Ziel, diese Werte sind das Motto für ein grenzenloses Leben und Arbeiten. Außerdem wird die Achtung der unterschiedlichen Geschichte der Völker und die Stärkung der Kultur und der Traditionen proklamiert. Und schließlich ist der Vertrag von Maastricht auch die Grundlage für die Einführung einer gemeinsamen Währung, die auf der gemeinsamen Verpflichtung von Höchstgrenzen für die Defizite und die Verschuldung der Staaten beruhen soll.

Die Geschichte des Euro

Der Vertrag von Maastricht wurde im Februar 1992 in der holländischen Stadt unweit der deutschen Grenze im Februar 1992 unterzeichnet und trat im November 1993 in Kraft. Über eine gemeinsame Währung wurde allerdings schon seit vielen Jahren gesprochen. Der Luxemburger Ministerpräsident Pierre Werner hatte dazu bereits 1970 einen Bericht vorgelegt. Und auch in Deutschland, wo die harte D-Mark nach den Erfahrungen der Inflation nach dem Ersten Weltkrieg zum Gründungsmythos und Erfolg der Bundesrepublik gehörte, war die gemeinsame Währung schon länger vorstellbar. Außenminister Genscher sprach ab 1987 über eine Währungsunion, durchaus unterstützt von Bundeskanzler Kohl. Die konkrete Idee der gemeinsamen Währung ist also sehr viel älter als die deutsche Wiedervereinigung. Das ist wichtig zu erwähnen, weil immer wieder behauptet wird, der Euro sei der Preis, den François Mitterand für die deutsche Einheit verlangt habe. Umgekehrt ist es richtig: Die Regierung in Bonn plante die Währungsunion schon länger, wobei den Deutschen die Zusage, nicht für die Schulden anderer haften zu müssen, zentral war. Dieses Thema tauchte im Frühjahr 2020 im Zusammenhang mit möglichen Corona-Bonds auf (mehr dazu im Kapitel Geld ab S. 85). Eine klare Schwäche aber hatte die geplante Währungsunion von Anfang an: Die notwendige Position eines europäischen Finanzministers mit Verantwortung für ein gemeinsames EU-Budget gibt es bis heute nicht.

Auch die politische Union war im Sinn von Kohl und Genscher. Aber wie diese weiter ausgebaut werden würde, verbunden mit Verfassungsänderungen in allen Mitgliedstaaten, war in Maastricht nicht klar. Der Vertrag definiert es auch nicht konkret. Die logische Konsequenz, ein föderales Europa mit einer Zentralregierung und Kompetenzen in den Ländern, traute sich niemand zu formulieren. Der britische Historiker Ian Kershaw spielt in seinem bereits zitierten Buch Achterbahn auf die Geschichte an: „Wie hochherzig die Vision (einer politischen Union) auch war – die zu einem guten Teil eine Reaktion auf die dunkle Vergangenheit Deutschlands darstellte und Kohls starkes persönliches Streben widerspiegelte, die nationalistischen Dämonen, die das Land einst in den Abgrund geführt hatten, für immer auszutreiben – sie hatte nie die geringste Chance, Wirklichkeit zu werden.“ Aus vielen persönlichen Gesprächen mit Helmut Kohl weiß ich, wie wichtig ihm die Einbindung Deutschlands in Europa war. Manchmal konnte man den Eindruck gewinnen, dass er sogar ein gewisses Misstrauen gegen seine Landsleute hegte, dass er eine Rückkehr der „nationalistischen Dämonen“, wie Kershaw sie nennt, nicht ausschloss.

Der Vertrag von Maastricht kam in einer Phase, in der die westeuropäischen Staaten nach dem Ende des Ostblocks ihr politisches System bestätigt sahen: Rechtsstaat und soziale Marktwirtschaft gehören untrennbar zusammen und sind Garant für den Wohlstand. Es war auch klar, dass die ehemaligen kommunistischen Staaten das machen würden, was sie schon nach 1945 gerne gemacht hätten, nämlich dieses System zu übernehmen, weil es mehr Wohlstand versprach. Da ist es nur verständlich, dass Zeitdauer und Kosten dieser grundlegenden Veränderungen unterschätzt wurden. Am Abend des 2. Dezember 1990, nach der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl, die Helmut Kohl einen großen Sieg brachte, führte ich ein Interview mit dem Intellektuellen der SPD, Peter Glotz. Er meinte damals, dass Kohls Wahlversprechen von den „blühenden Landschaften im Osten“ nicht so leicht zu erfüllen sein wird. Aber, so Glotz: „Wir werden das insgesamt schaffen, auch wenn es sechs oder sieben Jahre dauern wird.“ Da war der Skeptiker Glotz viel zu optimistisch, wie wir heute wissen.

Der lange Weg zum Brexit

Der Vertrag von Maastricht hat in einigen Ländern zu einer heftigen Debatte darüber geführt, wie viel Souveränität die nationalen Regierungen und Parlamente in die Union übertragen wollen, vor allem in Großbritannien. Dass die Briten weder das Pfund gegen den Euro noch ihre Bank of England gegen die Europäische Zentralbank austauschen würden, war klar. Aber die Briten waren nie so stark, wie sie gerne wären. Am „Schwarzen Mittwoch“, dem 16. September 1992, mussten sie aus dem Europäischen Wechselkursmechanismus aussteigen. Sie konnten das Pfund nicht mehr ausreichend stützen. Weder Tony Blair, ab 1997 sozialdemokratischer Premierminister des „Dritten Weges“, noch seine Nachfolger Gordon Brown und der konservative David Cameron schafften es, die Stimmungsmache gegen Europa in ihren Parteien und vor allem in den Boulevardmedien einzufangen. Cameron wollte sein Heil in einem Referendum am 23. Juni 2016 suchen, da die Umfragen seit Jahren eine knappe Mehrheit für einen Verbleib in der EU signalisierten. Aber nicht einmal alle seine Minister argumentierten gegen den Austritt: Justizminister Michael Gove warb für den Austritt, Innenministerin Theresa May verdiente sich den Spitznamen „U-Boot“, niemand wusste, wofür die spätere Premierministerin stand. Cameron verlor und trat zurück.

Der Brexit hat viel mit den Lügen von Nigel Farage mit seiner Partei UKIP und Boris Johnson zu tun, wobei der heutige Premierminister noch primitiver als Farage argumentierte und die Ziele der EU mit denen Napoleons und Hitlers verglich. Die 350 Millionen Pfund pro Woche, die Johnson für das nicht sehr moderne britische Gesundheitssystem versprach und auf Autobussen plakatierte, hätte dieses in der Corona-Krise dringend gebraucht, aber natürlich auch nach dem Brexit nicht bekommen. Neben den Lügen der Brexiteers waren wohl zwei Punkte ausschlaggebend für den Abschied der Briten aus der Union: die Angst vor mehr Zuwanderung und die Überhöhung des Begriffes der Souveränität. „Wir wollen wieder selbst entscheiden, was für unser Land gut ist.“ Diesen Satz hörte man in so gut wie allen Straßenumfragen von der Insel. Was Souveränität in Zeiten der internationalen Arbeitsteilung und der Globalisierung bedeutet, wurde nicht hinterfragt, Boris Johnson hat es aber als Premierminister erlebt. Als er – noch nicht vom Corona-Virus befallen – keine strenge Ausgangsbeschränkung einführen wollte, richteten ihm die Franzosen aus, dass sie die Grenzen auch für den Warenverkehr schließen würden. Die Bewohner der britischen Inseln brauchen aber neben vielen anderen Produkten auch Lebensmittel und Medikamente vom Kontinent. So un-souverän sind sie also.

Ihre Souveränität hätten die Briten in ihrer (knappen) Mehrheit gerne zurückgehabt, was immer sich die einzelnen Bürger darunter vorgestellt haben. Solidarität wollten die Erben Churchills aber nicht mehr üben. Sie hatten zwar nach 1990 dringend benötigte Arbeiter aus den ehemaligen Ostblockstaaten geholt, aber nun fürchteten sie die Zuwanderung durch Flüchtlinge. Das Wort Solidarität, das im Vertrag von Maastricht steht, wollte man aber auch in anderen Staaten nicht mehr hören.

KAPITEL 5
SOLIDARITÄT
VIEL WIRD GEREDET VON SOLIDARITÄT, MANCHES GETAN

Das Wort Solidarität steht in der Einleitung zum Unionsvertrag von Maastricht. Die Solidarität sei „zwischen ihren Völkern unter Achtung ihrer Geschichte, ihrer Kultur und ihrer Traditionen zu stärken“. Ein großes Wort, das in seiner Auslegung freilich sehr dehnbar ist. In der griechischen Staatsschuldenkrise nach 2010 wurde über die Solidarität zwischen ärmeren und reicheren Ländern oft diskutiert, aber dazu später. Beim Geld hat man sich in Europa stets noch eher einigen können als bei der Aufnahme von Menschen. In der Flüchtlingskrise 2015 haben wir intensiv erlebt, wie schnell es mit der Solidarität vorbei ist und wie unterschiedlich die Nationalstaaten das Zusammenleben in Europa sehen.

Dabei zeigte sich die Schwäche der Europäischen Union schon viel früher, und zwar beim Umgang mit Krisen außerhalb ihres Bereiches und bei der Behandlung von Schutzsuchenden. Im Sommer 2012 trafen sich die Innenminister der EU in der zypriotischen Hauptstadt Nikosia zu einem informellen Ratstreffen. Der Bürgerkrieg in Syrien dauerte bereits über ein Jahr, die Innenminister sprachen über einen großen zu erwartenden Flüchtlingsstrom aus Syrien. Das EU-Vorsitzland Zypern stellte dabei einen Evakuierungsplan für 200.000 (!) Menschen vor. Es sollten bald Millionen das Land verlassen, wobei es auch innerhalb Syriens bereits starke Fluchtbewegungen gab. Dabei müssten die Geheimdienste zu diesem Zeitpunkt schon genauere Erkenntnisse gehabt haben, von denen die Öffentlichkeit natürlich nichts erfuhr.

Die österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) erklärte damals, Österreich erwarte Flüchtlingsströme, deren Ausmaß sei aber nicht abzusehen. Kursierende Zahlen seien reine Spekulation. Tatsächlich gab es zu diesem Zeitpunkt einen Anstieg von syrischen Asylwerbern um 144 Prozent im Vergleich zum Jahr 2011, was umgerechnet aber nur 368 Personen entsprach. Mehr als 80 Prozent von ihnen wurde Asyl zuerkannt. Johanna Mikl-Leitner im Sommer 2012: „Weil der Anstieg in nächster Zeit nicht vorhersehbar ist, habe ich Verteidigungsminister Norbert Darabos (SPÖ) um eine Versorgung in den Kasernen ersucht. Wir müssen der völkerrechtlichen Verantwortung nachkommen.“ Als sich Darabos skeptisch zeigte, Flüchtlinge in Kasernen aufzunehmen, polterte die spätere niederösterreichische Landeshauptfrau: „Die Antwort ist sehr zynisch und grenzt an Geschäftemacherei am Rücken der Flüchtlinge. Sollte Darabos am Dienstag nicht beim Ministerrat sein, werde ich das Gespräch mit dem Bundeskanzler suchen.“ Mikl-Leitner fand aber auch klare Worte gegenüber den anderen Ländern: „Sieben EU-Staaten, darunter Österreich, betreuen mehr als 80 Prozent der Asylwerber. Ich appelliere an andere, Flüchtlinge aufzunehmen. Es gilt faire Lastenteilung.“

Faire Lastenteilung? Die hat es in der EU in den folgenden Jahren, als dann wirklich Millionen Menschen Schutz suchten, nicht gegeben. Ausgerechnet Sebastian Kurz, der im Dezember 2018 österreichischer Bundeskanzler wurde, hat diese Fairness nie eingefordert, obwohl Österreich deutlich stärker belastet war als viele andere Länder und immer noch ist. Vor allem aber ist bis heute unverständlich, warum die klaren militärischen Analysen, die es überall in der EU gab und die besagten, dass der Bürgerkrieg in Syrien noch lange andauern und mehrere Flüchtlingswellen verursachen werde, nicht zu einer klaren Krisenstrategie der EU geführt hat. Die Kommission hatte keinen Plan, und die damals noch 28 Regierungschefs, die sich gerne so viel wie möglich unter sich ausmachen, haben auch keine Einigung über eine gemeinsame Vorgangsweise gefunden.

Zunächst war nur klar, dass das Dublin-Verfahren, wonach jeder Antrag auf Asyl im ersten EU-Ankunftsland gestellt werden muss, schon bald nicht mehr funktionieren würde. Damit war die gesamte Last auf Griechenland abgewälzt, aber geholfen wurde den Griechen ebenso wenig wie später den Italienern, als Boote voller Flüchtender über das Mittelmeer kamen.

Es handelt sich hier um ein generelles Problem der Politik in demokratisch verfassten Einheiten: Die Vorbereitung auf die Abwehr künftiger Krisen kostet Geld und bringt keinen Ruhm. In der Krise aber wollen sich „Führer“ bewähren oder zumindest markig auftreten. So sind Demokratien sehr oft nicht auf große Herausforderungen vorbereitet. Bei der Corona-Krise war es ähnlich. Jeder musste wissen, dass es zu Pandemien kommen würde, aber kein Staat war vorbereitet. Und Vorschläge der EU-Kommission wurden nicht aufgegriffen.

Die Ablehnung der Aufnahme von Verfolgten hatte oft finanzielle Gründe, besonders bei Viktor Orbán, aber auch ideologische. Im Sommer 2015 spielte der Ungar, der spät seinen Glauben entdeckt hat, seine Rolle als „Verteidiger der Christenheit“ bestens, wenn auch gleichzeitig in der ewigen Rolle des Zynikers, wo doch Zynismus dem Religionsgründer Jesus ganz fremd war. Als tausende Flüchtlinge am Budapester Ostbahnhof Keleti lagerten, setzte Orbán sie in Busse Richtung österreichischer Grenze. Merkel wolle sie ja haben, so Orbán, der gleich dazusagte, was sein Motiv war: „Wir glauben, die Länder der EU haben das Recht zu entscheiden, ob sie mit vielen Muslimen zusammenleben wollen oder nicht. Wenn Sie das wollen, dann können Sie das. Wir wollen das nicht und wir haben das Recht zu entscheiden, dass wir keine große Zahl an Muslimen in unserem Land haben wollen.“

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