Kitabı oku: «Inspiriert und inspirierend - die Bibel», sayfa 2
3. Das Mittelalter
Das Mittelalter führt diese Sicht weiter: Nicht nur die Mystiker, sondern auch die scholastischen Theologen reden in prallen Bildern von der Lebensfülle der Schrift: Schatz, Süßigkeit, Weinberg, Silber, Leuchte – das sind nur einige Bilder, die Odo von Cluny gebraucht. Für Bruno von Asti sind die Evangelien ein Paradiesesstrom, für Hildebert von Tours ist die Bibel ein Lustgarten mit allen Früchten, für Petrus von Blois ist die Schriftlesung Speise, Atem und Leben, wie die Harfe Davids, die den Trübsinn Sauls erleichterte.
Weil die Schrift inspiriert ist, ist sie Lebensquelle. Auf Grund ihres Ursprungs im Geist Gottes kann sie – über den buchstäblichen Sinn hinaus – „geistlich“ ausgelegt werden – das war schon die Überzeugung der alten Kirche. Das Mittelalter systematisiert diesen Umgang mit der Bibel, indem es die Lehre vom „vierfachen Schriftsinn“ entwickelt. Sie findet am klarsten ihre Formulierung in dem berühmten Merkvers Anselms von Dänemark (13. Jhd.):
Littera gesta docet,
quid credas, allegoria,
moralis, quid agas,
quo tendas, anagogia.
„Der Buchstabe lehrt, was geschah“ – es gibt einen buchstäblichen Sinn, den „Literalsinn“. Aber darüber hinaus hat der Schrifttext einen „allegorischen Sinn“, der einem sagt, woran man glauben soll. Drittens gibt es einen „moralischen Sinn“, der lehrt, was zu tun ist. Schließlich erklärt der „anagogische Sinn“, wohin wir streben; er spricht von unserer Zukunft, von dem letzten Ziel, auf das wir zugehen und für das wir bestimmt sind (griech. „anago“ = hinaufführen).
Als Beispiel können die Verse der Psalmen dienen, in denen von Jerusalem die Rede ist. Was ist mit „Jerusalem“ gemeint? Selbstverständlich die Stadt in Palästina mit ihrer zentralen Bedeutung für das Volk. Das ist der „Literalsinn“. Für den Christen hat „Jerusalem“ aber auch einen „allegorischen Sinn“, d. h. es sagt noch etwas anderes (alla agoreuein = anderes sagen): Der Christ kann alles das, was über Jerusalem gesagt ist, auf das neue Gottesvolk, die Kirche, beziehen. Wenn er betet: „Jerusalem, du starke Stadt, dicht gebaut und fest gefügt“ (Ps 122,3), dann sieht er darin einen Hinweis auf die Kirche, der Christus zugesagt hat, dass sie die Mächte der Unterwelt nicht überwältigen werden (Mt 16,18). Und er kann noch weitergehen und besonders dort, wo an Jerusalem eine Aufforderung gerichtet ist, diese als Aufforderung an sich selber sehen: „Jerusalem, preise den Herrn“ (Ps 147,12); in diesem dritten, „moralischen“ Sinn ist „Jerusalem“ die menschliche Seele. Und schließlich kann der Blick auch in die Zukunft gehen, auf die ewige Vollendung hin: Der Beter erinnert sich, dass die Offenbarung des Johannes von einem endzeitlichen Jerusalem spricht, das vom Himmel her einst niedersteigen wird (Offb 21,10), und sieht alles, was er in den Psalmen über Jerusalem liest, als Hinweis auf die endgültige Vollendung („anagogischer Sinn“).
Die letztgenannten drei Sinndimensionen lassen sich auch gut von den drei „göttlichen Tugenden“ her verstehen: der allegorische Sinn hat mit dem Glauben zu tun, der moralische Sinn mit der Liebe, der anagogische Sinn mit der Hoffnung des Christen.
Diese Systematisierung des Umgangs mit der Schrift entspricht einem Grundzug mittelalterlicher Theologie: Das Bild vom „finsteren Mittelalter“, das von Irrationalität und Unaufgeklärtheit beherrscht ist, ist ja ein Konstrukt der Neuzeit, das den neueren Forschungen nicht standhalten kann. Die mittelalterliche Scholastik hat vielmehr eine hohe Meinung von der menschlichen Vernunft: Sie ist Gottes Gabe, uns geschenkt, damit wir Gottes Geheimnis tiefer ergründen können. „Fides quaerens intellectum“ – Glaube, der die die Vernunft sucht, also ein Glaube, der sich selber tiefer zu verstehen sucht –, das ist das Programm des Anselm von Canterbury (1033–1109). Und die Hochscholastik entdeckt die Philosophie des Aristoteles neu als hervorragendes Mittel für logische Klarheit und präzises Denken. Wie alle theologischen Themen, so wird auch das Geheimnis des göttlichen Ursprungs der Schrift mit Hilfe der Vernunft durchleuchtet. Wenn mittelalterliche Theologen über die Schriftinspiration nachdenken, haben sie also – neben dem bereits erwähnten spirituell-pastoralen Interesse – eine dogmatische Intention: Es geht darum, die christlichen Glaubensinhalte tiefer zu verstehen.
Dabei wird immer mehr die Philosophie des Aristoteles zu Hilfe gerufen. Was die Frage der Inspiration der Bibel betrifft, so leistet die aristotelische Ursachenlehre einen wichtigen Dienst: Aristoteles unterscheidet zwischen vier Arten von Ursachen: Material-, Formal-, Wirk- und Zielursache. Wenn zum Beispiel ein Tisch hergestellt wird, dann geht es nicht ohne Holz oder einen anderen Stoff – die „Materialursache“ (causa materialis). Das allein ist noch kein Tisch, wenn er nicht in eine bestimmte Form gebracht wird, zu der beispielsweise eine waagrechte Platte und in der Regel vier Beine von gleicher Länge gehören – die „Formalursache“ (causa formalis). Jemand muss in diesem Sinn das Material bearbeiten – der Tischler ist die „Wirkursache“ (causa efficiens). Und er täte es nicht, wenn er nicht ein Ziel hätte, etwa dass man auf diesem Gegenstand dann essen oder schreiben kann – der Tisch kommt nicht zustande ohne eine „Zielursache“ (causa finalis). Aber nochmals zurück zur „Wirkursache“, dem Tischler. Er ist die „Haupt-Wirkursache“ (causa efficiens principalis), aber er brächte den Tisch nicht zustande, wenn er nicht Werkzeuge hätte – diese bilden die „Instrumental-Wirkursache“ (causa efficiens instrumentalis). Dieses Modell überträgt man nun auf die Entstehung der Schrift und beschreibt Gott als den „Haupt-Urheber“ (auctor principalis), den menschlichen Autor als den „Instrumental-Urheber“ (auctor instrumentalis).
Der biblische Schriftsteller als „Instrument“ Gottes? Diese Begrifflichkeit hat später viel Widerspruch hervorgerufen. Ist da nicht der Vorstellung von einem willenlosen Werkzeug wieder Tür und Tor geöffnet – einer Sichtweise, die gar nicht dem entspricht, wie zahlreiche biblische Schriftsteller ihre eigene Arbeit sehen und wie die heutige Bibelwissenschaft die Entstehung der Bibel beschreibt? Aber der Begriff „Instrument“ lässt sich auch anders deuten. Natürlich schwingt im Begriff der „Instrumentalursache“ der Gedanke der Abhängigkeit von der „Hauptursache“ mit: Die Kreide kann nicht schreiben, wenn sie nicht von jemandem bewegt wird. Aber sie bringt auch ihre Eigenart mit ein: Mit einer gelben Kreide kann man keinen weißen Strich ziehen. Oder ein anderes Beispiel: Für einen Domorganisten ist es ein Graus, auf einer einmanualigen, defekten und verstimmten Orgel spielen zu müssen. Keiner kann etwas vom wirklichen Können des Musikers erahnen, wenn der Künstler sich auf diesem Instrument abquält. Das Instrument – das weiß jeder Organist – bestimmt das Ergebnis zu einem wesentlichen Teil mit. Es bringt seine Eigenart ein. So bezeichnet z. B. die mittelalterliche Scholastik Jesu Menschheit als Instrumentalursache unseres Heils. Hier kann mit dieser Redeweise auf keinen Fall die Passivität des „Instruments“ gemeint sein. Vielmehr geht es um das Miteinander von Gottheit und Menschheit im Werk der Erlösung und um den wesentlichen Anteil, den die Menschheit Jesu am Heilswerk hat. Und ähnlich ist es beim Zustandekommen der biblischen Bücher: Der menschliche Schriftsteller bringt seine persönliche Individualität ein und prägt die Texte, die er schreibt, wesentlich mit. So gesehen, ist das Bild vom „Instrument“ und die Rede vom biblischen Schriftsteller als einer „Instrumentalursache“ keineswegs eine Abwertung der menschlichen Mitwirkung.
Neben diesem „dogmatischen“ Interesse an der Schriftinspiration spielt auch die apologetische Intention weiterhin eine Rolle. Das gilt zumindest für die lehramtlichen Dokumente: Das erste ökumenische Konzil, das die Schriftinspiration erwähnt, ist das Konzil von Florenz (1442). Dem Konzil zufolge bekennt die Kirche „ein und denselben Gott als Urheber des Alten und des Neuen Bundes, das heißt, des Gesetzes und der Propheten sowie des Evangeliums; denn die Heiligen beider Bünde haben unter Einhauchung desselben Heiligen Geistes gesprochen; sie (d. h. die Kirche) nimmt ihre Bücher an und verehrt sie; sie werden unter folgenden Titeln erfasst …“5 Primär geht es zwar nicht um die Bücher, sondern um die beiden Heilsordnungen des Alten und Neuen Testaments, und ausdrücklich abgelehnt wird das dualistische Denken mancher Gruppen, die das Sichtbare und das Unsichtbare auf zwei gegensätzliche Prinzipien zurückführen und einen Gegensatz zwischen dem Gott des Alten Testaments und dem des Neuen Testaments sehen. Aber die Inspiration der „Heiligen beider Bünde“ hat eine unmittelbare Konsequenz für die Bücher des Alten und Neuen Testaments, sie begründet den im Folgenden umschriebenen Kanon der heiligen Schriften.
Es kann also festgehalten werden: Im Mittelalter findet sich auch das apologetische Interesse, stärker in den Vordergrund jedoch rückt die dogmatische Zielrichtung des Nachdenkens über die Schriftinspiration. Letztere ist immer eingebettet in einen spirituell-pastoralen Kontext; es gibt keine Trennung zwischen Theologie und Mystik, zwischen Glaubensreflexion und Spiritualität.
Allerdings verlagert sich im Spätmittelalter das Interesse immer mehr auf den dogmatischen Bereich. Allmählich beginnen Theologie und Mystik auseinanderzutreten. Je mehr Spiritualität als etwas Persönlich-Subjektives gesehen wird, theologische Reflexion hingegen als etwas Wissenschaftlich-Objektives, desto mehr trennt sich auch der Gedanke der Schriftinspiration von seinem spirituell-pastoralen Wurzelgrund. Er nimmt immer intellektualistischere Züge an. Die Einseitigkeit verstärkt sich noch in der Theologie der Neuzeit.
4. Die Neuzeit
Die Philosophie als Dienerin der Theologie – so sahen es die Theologen des Hochmittelalters in ihrer optimistischen Sicht, dass die Vernunft letzten Endes dazu beitrage, den Glauben tiefer zu verstehen. Der Theologe wurde faktisch zum „Gärtner der Vernunft“6. Dass die Autorität der Vernunft eines Tages in Gegensatz zur Autorität der Bibel und des kirchlichen Lehramts treten kann, ahnte man damals noch nicht. Es wird jedoch Wirklichkeit zu Beginn der Neuzeit. Neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse und ein daraus erwachsendes neues Weltbild lassen die Frage auftauchen, wie sich die Autorität der Vernunft und der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zur Autorität der Bibel verhält. Verstärkt wird die Infragestellung in den folgenden Jahrhunderten noch durch den Aufschwung der historischen Forschung, die viele Anfragen an die historische Glaubwürdigkeit der Bibel stellt.
In diesem Kontext erhält die Rede von der Inspiration der Schrift eine neue Zielrichtung, die bis in die Theologie des 19. und des beginnenden 20. Jhds. hinein prägend sein wird: Das Nachdenken über die Inspiration der Schrift ist nun vor allem von dem Interesse geleitet, die Autorität der Schrift gegenüber allen Zweifeln und Bestreitungsversuchen zu untermauern. Weil die Schrift von Gott eingegeben ist, kann der Wahrheitsanspruch ihrer Aussagen nicht bezweifelt werden. Inspirationstheologie erhält damit eine vor allem apologetisch-defensive Zielrichtung. Man öffnet oder verschließt sich dabei in sehr unterschiedlichem Maße den Erkenntnissen der Natur- und Geschichtswissenschaften. Es finden sich rigoristische, aber auch differenzierte Sichtweisen des biblischen Wahrheitsanspruchs. Das Verhältnis der Göttlichkeit der Schrift zu ihrer Menschlichkeit und Bedingtheit wird sehr verschieden bestimmt.
So entwickelt die altprotestantische Orthodoxie die rigoristische Theorie einer „Verbalinspiration“ und einer absoluten Irrtumslosigkeit der Schrift. Der Heilige Geist hat die heiligen Schriften Wort für Wort diktiert. Für protestantische Theologen, für die die Schrift die Offenbarungsquelle schlechthin war („sola scriptura“ – allein die Schrift ist maßgebend!), musste eine stichhaltige Begründung der Autorität der Schrift eine besondere Bedeutung haben.
Dabei ist das Thema „Inspiration“ kein Kontroverspunkt zwischen Katholiken und Reformatoren. Es gibt zwar eine Reihe von Streitpunkten in Bezug auf die Bibel: Man streitet über den Umfang des Schriftkanons (gehören die in griechischer Sprache überlieferten alttestamentlichen Bücher dazu?), den Stellenwert einzelner Bücher im Vergleich zu anderen (so ist für Luther der Jakobusbrief eine „stroherne Epistel“, weil er die Bedeutung der Werke gegenüber der Bedeutung des Glaubens zu sehr betont) und um die Frage nach dem Verhältnis von Schrift und Tradition (ist allein die Schrift maßgebend, oder gehören Schrift und Tradition zusammen?).
Interessant ist übrigens in diesem Zusammenhang, dass es sich mit Beginn der Neuzeit in der katholischen Theologie – im Gegensatz zu einem undifferenzierten Sprachgebrauch bei vielen Theologen in Altertum und Mittelalter – durchsetzt, allein bei der Bibel von göttlicher „Inspiration“ zu sprechen. Den Einfluss des Heiligen Geistes auf die Entscheidungen der Konzilien und der Päpste hingegen, der sie vor Irrtum bewahrt, bezeichnet man nun als „negative Assistenz“ – ein Versuch der Unterscheidung und der Hervorhebung des besonderen Ranges der Schrift, der berechtigte reformatorische Anliegen aufgreift, sich jedoch zugleich deutlich vom reformatorischen „sola-scriptura“-Prinzip absetzt.
Im Unterschied zu diesen Kontroverspunkten gibt es bezüglich der Betonung der Inspiriertheit der Schrift keine Differenzen zwischen katholischen und protestantischen Theologen. Die Schrift ist inspiriert, und ihre Inspiration unterscheidet sie von allen anderen Texten. Im Gegensatz zum Altertum und Mittelalter wird also jetzt – bei katholischen wie bei protestantischen Theologen – „Inspiration“ zum Abgrenzungsbegriff für die kanonischen Bücher. Beide Konfessionen stehen gleichermaßen vor der Herausforderung, die Autorität der Bibel gegenüber den Infragestellungen der Neuzeit zu betonen und theologisch zu begründen. So nimmt es nicht wunder, dass sich auch auf katholischer Seite die Theorie einer „Verbalinspiration“ findet – am entschiedendsten vertreten von Domingo Báñez, einem spanischen Dominikanertheologen des 16. Jhds.
Genauer sollte man bei dieser Auffassung, die dem Inspirationsverständnis der altprotestantischen Orthodoxie gleicht, von „mechanistischer Verbalinspiration“ sprechen; es wird nämlich später noch eine andere Theorie der „psychologischen Verbalinspiration“ geben, die den Einfluss Gottes auf die Formulierungskraft des Autors in einem ganz anderen Sinn beschreiben wird. „Mechanistische Verbalinspiration“ besagt hingegen, dass man sich die Einwirkung Gottes auf den biblischen Schriftsteller wie die eines Diktierenden zu seinem Sekretär vorstellt; man könnte also auch von einer Theorie des „göttlichen Diktats“ sprechen.
Die Vertreter dieser Theorie berufen sich darauf, dass das lateinische Wort „dictare“ in der Tradition häufiger auftaucht, wenn das Tun Gottes beschrieben wird. Sie übersehen jedoch, dass dieses Wort in der Regel nicht als „diktieren“, sondern als „eindringlich sagen“ zu übersetzen ist.7
Daher ist es verständlich, dass die Theorie des göttlichen Diktats, der „mechanistischen Verbalinspiration“ nicht im gesamten katholischen Raum Zustimmung findet. Zur gleichen Zeit entwickelt in Löwen der Jesuit Leonhard Leys (bekannt als Lessius) die Alternative einer „Real-Inspiration“: Der Heilige Geist bezeugt die Richtigkeit der Inhalte (res); es ist für die göttliche Inspiration der Schrift aber nicht notwendig, dass die einzelnen Worte (verba) vom Heiligen Geist inspiriert sind. Es ist auch nicht notwendig, dass die einzelnen Wahrheiten und Aussagen unmittelbar vom Heiligen Geist dem Schreiber selbst eingegeben seien; der Autor braucht keine „neue“ Erleuchtung oder direkte Offenbarung; es genügen eine besondere göttliche Anregung zum Schreiben und der Beistand Gottes beim Schreiben, der vor Irrtum bewahrt.
Beiden Richtungen geht es darum, den Wahrheitsanspruch der Bibel gegenüber den neuzeitlichen Infragestellungen zu verteidigen. Dazu scheinen sie auch allen Grund zu haben: Im Zuge der Aufklärung beginnt man nämlich, die Offenbarungsansprüche des Christentums kritisch zu überprüfen. So versucht der Hamburger Philosoph und Theologe H. S. Reimarus (1694–1768) aufzuzeigen: Die Wundererzählungen der Bibel sind in sich so widersprüchlich, dass sie für vernünftige Menschen unglaubwürdig sind. Sein Paradebeispiel ist der Durchzug der Israeliten durch das Rote Meer. Mit logistischem Scharfsinn rechnet er aus, dass eine so große Schar mit Frauen, Kindern, Greisen, Vieh und Wagen unmöglich eine so unwegsame Strecke in so kurzer Zeit zurückgelegt haben kann, wie die Bibel behauptet. Mit ähnlicher Akribie deckt er in den Ostererzählungen der Evangelien die Widersprüche zwischen den einzelnen Zeugen auf und versucht so die Auferstehung als frommen Betrug zu entlarven. Er bestreitet auf diese Weise grundlegend den übernatürlichen Charakter der Bibel und der jüdisch-christlichen Offenbarung überhaupt. Er will zwar nicht das Christentum zerstören, sondern nur die Anhänger einer „natürlichen“ und „vernunftgemäßen“ Religion verteidigen und ihnen einen Freiraum schaffen. Aber die Brisanz seiner Argumentation wurde von den christlichen Theologen sehr wohl erkannt.
Die Bibelkritik der Aufklärung führte zu verschiedenen Reaktionen: Evangelischerseits rückte man von der altprotestantischen Verbalinspirationslehre ab und wurde immer vorsichtiger in der Verwendung des Inspirationsbegriffs. Oftmals verstand man unter „Inspiration“ nur noch die inspirierende Kraft der Schrift und scheute sich, die Bibel noch als „inspiriert“ zu bezeichnen. Man sprach lieber davon, dass die Bibel die Urkunde der Offenbarung sei. – Katholischerseits versuchte man eher, den Inspirationsgedanken mit allen Mitteln zu verteidigen und mit der Inspiriertheit der Bibel den Wahrheitsanspruch der Schrift zu untermauern.
Letzteres wurde ab der Mitte des 19. Jhds. bis zur Perfektion getrieben: Die Kirche stand immer noch unter dem Schock der Französischen Revolution von 1789, die die „Göttin Vernunft“ auf den Thron gehoben und die Macht des Klerus gebrochen hatte, und unter dem Schock der Säkularisation von 1803, die die jahrhundertelange Verbindung von staatlicher und kirchlicher Macht beendet hatte. Man fühlte sich bedroht, wusste sich in der Defensive, sah in der Aufklärung mit ihrer Betonung der „humanitas“ (der Menschlichkeit) und der „ratio“ (des Verstandes) einen Irrweg, setzte auf emotionale Frömmigkeit und Tradition, scharte sich um den Papst als Garanten der wahren kirchlichen Lehre und entwickelte eine katholische Trutzburgmentalität. Man glorifizierte das Mittelalter, orientierte sich an der Scholastik und entwickelte eine „neuscholastische“ Theologie, mit deren Hilfe man die Festigkeit des Glaubens wiederzugewinnen und gegen alle Irrtümer, die ja besonders im 19. Jhd. heftigst zu wuchern schienen, zu verteidigen hoffte.
5. Das Erste Vatikanische Konzil
Die katholische Abgrenzungsmentalität prägte auch das Konzil, das Papst Pius IX. 1869 einberief: Es sollte sich mit den Zeitirrtümern, insbesondere mit dem Rationalismus auseinandersetzen und die Grundlagen des Glaubens sicherstellen. In diesem Zusammenhang werden auch die Fundorte der Glaubenswahrheiten benannt, also die Heilige Schrift und die Tradition. Im Großen und Ganzen werden allerdings nur die Bestimmungen der Konzilien von Florenz und Trient wiederholt. Auffallend ist jedoch, dass erstmals ein Konzilsdokument ausdrücklich die Inspiration der Schrift behandelt – während Florenz lediglich von der Inspiration der Heiligen des Alten und Neuen Bundes explizit gesprochen und eher implizit auch die Inspiration der Autoren der Schriften mitgemeint hatte. Hier aber wird nun ausdrücklich festgehalten: Die Bücher des Alten und Neuen Testaments hält die Kirche „nicht deshalb für heilig und kanonisch, weil sie allein durch menschlichen Fleiß zusammengestellt und danach durch ihre Autorität gutgeheißen worden wären; genau genommen auch nicht deshalb, weil sie die Offenbarung ohne Irrtum enthielten; sondern deswegen, weil sie, auf Eingebung des Heiligen Geistes geschrieben, Gott zum Urheber haben und als solche der Kirche selbst übergeben worden sind“ (DH 3006).
Zwei Theorien werden mit diesem Text abgelehnt; zum einen die Auffassung: Ein biblisches Buch ist ein von Menschen geschriebenes Buch und wird dadurch Heilige Schrift, dass es durch die Kirche approbiert, also in den Kanon aufgenommen wird.8 Dagegen erklärt das Konzil zu Recht: Eine kirchliche Entscheidung kann einer Schrift, die reines Menschenwerk ist, nicht die Qualität einer heiligen Schrift verleihen. – Zum anderen wird die Auffassung abgelehnt: Inspiration bedeutet nichts anderes, als dass die Heiligen Schriften die Offenbarung ohne Irrtum enthalten.9 Zu Recht betont man dieser Theorie gegenüber: Dann wären auch alle Konzilentscheidungen inspiriert, denn auch sie enthalten die Offenbarung irrtumsfrei.
Was demgegenüber positiv unter Inspiration zu verstehen ist, beschreibt das Konzil nur sehr zurückhaltend mit drei Aussagen: 1. Die Bücher sind unter der Einhauchung des Heiligen Geistes geschrieben. 2. Sie haben Gott zum Urheber. 3. Sie sind als solche der Kirche übergeben.
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