Kitabı oku: «1932», sayfa 3

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Hier würde die Geschichte Moogs enden, wären die Zeiten beschaulicher gewesen, aber Moog war nicht nur Einars Sohn, nicht nur der auserwählte Neffe der Baronin Sustschina-Einar, er war auch Zeitgenosse und Opfer einer revolutionären Ära. Alle Erzieher des Menschengeschlechtes trachten danach, einen neuen, einen von Grund auf verbesserten und tief geläuterten Menschen in die Natur- und Humangeschichte einzubringen. Auf Biegen und Brechen, also eher auf Brechen, waren all diese sozial-pädagogischen Programme gegen die menschliche Unvollkommenheit durchzusetzen, was Hermann Karl Einar, der Krieger, nach Anschauung und nach seiner Überzeugung als einen hundertjährigen, einen ewigen Krieg bezeichnete.

1. Kapitel

BERLIN. Einar, Moog Hermann Karl durchwandert das Labyrinth des Bahnhofes Friedrichstraße, eine imposante mehrgeschossige Konstruktion unter- und überirdischer Bahnsteige, Treppen, Schleusen, Türen, Schalter und Aufzüge. Er passiert die erste einer Reihe von Kontrollstationen, reicht seinen Reisepass hin, nimmt nach Aufforderung seinen Hut herunter, zeigt gleichmütig seine linke, dann die rechte Seite seines Profils und wartet das Ergebnis der Prüfung ab. Im Inneren des Schalters wird gegenwärtig sein Pass untersucht, werden seine Lebensdaten in den Rechner eingegeben. Die Erlaubnis zur Einreise in diese Stadt, Berlin Hauptstadt der DDR, hängt vom Ergebnis der Überprüfung seines Passes ab. Nicht dass er Grund zur Unruhe hätte, keinen aktuellen jedenfalls; zudem ist er solche Prozeduren auf Reisen gewöhnt. Hier jedoch wundert es ihn immer wieder erneut, dass er beim Übergang von der einen auf die andere Seite nicht nur den Staat, die Ordnung wechselt, sondern dass er seine innere Mitte verliert, ein anderes Ich, das Alter Ego eines Fremdlings verliehen bekommt.

Am nächsten Schalter erhält er seinen Pass zurück; es ist ihm erlaubt, sich vierundzwanzig Stunden lang in dieser Stadt aufzuhalten. An einer der nächste Kontrollstellen wird der Inhalt seiner Reisetasche durchgesehen. Sie enthält einige Gegenstände, die Moog Einar auf Reisen nicht entbehren mag, das Rasierbesteck etwa, kleinere Wäschestücke, manches andere noch. Merkwürdigerweise beanstandet der Zöllner das Fehlen von Büchern; ihm fällt auf, dass ein Reisender mit Kurzaufenthalt im Berliner Osten, ein Doktor phil. ja immerhin, nichts Entsprechendes mit sich führt, sei es, um einem Verwandten, oder einem seiner Fachkollegen zuzuschmuggeln, was dieser nicht besitzen darf, keine Literatur, kein Buch der anderen Seite, keine Zeitungen und Zeitschriften. Listig erklärt der im Wechseln seiner Identität erfahrene Einar dem Zöllner die reale Lage, dass seines Wissens Mitnahme wie Einfuhr jeglichen bedruckten Papiers als in hohem Grade staatsgefährdend den sofortigen und sogar dauernden Ausschluss von den Reiseerleichterungen im innerdeutschen Verkehr nach sich zöge, es ihm daher geraten erschien, ohne belastenden Lesestoff zu einem Besuch der Stadt Berlin, Hauptstadt der DDR, aufzubrechen, und somit allen Verwicklungen aus dem Wege zu gehen, er, ein Rentner überdies und völlig harmlos. Schweigend wird Einars Deutung der Verhältnisse im kleinen Grenzverkehr nicht akzeptiert, er wird berichtigt, es handele sich nicht um den innerdeutschen, sondern um den Verkehr zwischen zwei souveränen, Hoheitsrechte ausübenden wahren Staaten, allerdings zufällig auf deutschem Boden liegend. Er darf jedoch die überprüften Gegenstände eigenhändig einpacken, was er ohne zu murren tut, er wendet sich einem der Ausgänge zu, muss noch die Eintrittsgebühr in die Stadt entrichten und wird endlich nach einer letzten und schon recht oberflächlichen Kontrolle ans Tageslicht entlassen ...

Nun wundert es ihn aber doch, nicht darüber befragt worden zu sein, welchen Geschäften er denn an diesem vierten Novembertag des Jahres 1989 nachzugehen gedenke, eines besonderen, eines bedeutenden Tages, wie sich erweisen wird. Und er selber hätte kaum darauf eine genaue Antwort geben können. Es war eben ein Zufall, kein dringend notwendiger Besuch steht auf seinem Tagesprogramm, eine Visite, von der er nicht weiß, wie sie ausgehen wird, vor der er sich länger als ein Jahrzehnt gedrückt hat. Indessen ist Einar schon ein Stück in die ihm gut bekannte Friedrichstraße hineingekommen, kurz vor der Weidendammer Brücke hält er und blickt auf das trübgraue Wasser der Spree und vor ihm liegt ein gewaltiges Pensum Stadt und deutscher Geschichte, ein Lehrkapitel für Moog Einar, seiner Profession nach ein Historiker für neuere Geschichte. Viele Jahre ist er nicht hier gewesen, seit dem Tode Isolde Einars, seiner Mutter, nicht mehr. Es gab einfach keinen Grund, Berlin aufzusuchen. Er ließ sie im Norden der ausgedehnten Stadt zur letzten Ruhe betten, in der Familienruhestätte der Einars, obschon sie nie eine Einar gewesen ist und keine hätte werden können. Und obendrein die erste und einzige Tote des Familiengrabes, einer Ruhestätte seinerzeit für eine Ewigkeit angelegt. Totensonntag steht vor der Tür; und es gehört wohl zu den über die Tage hinausgehenden Sohnespflichten, ihr einen Kranz oder wenigstens einen Handstrauß aufs Grab zu legen, das übrigens von den Friedhofsgärtnern gepflegt wird.

Einar entscheidet keinen Besuch der Grabstätte, nicht heute, zu weit bis hinaus nach Weißensee, endlose Lauferei dazu. Nun, ihm, einem alternden Streithahn, Schwertbruder und abgedanktem Historiker wird sicherlich neben manch anderem liegengebliebenen auch diese Unterlassung nachgesehen werden. Einem Einfall folgend, vielleicht durch den Anblick eines der gerade frei vorbeibummelnden Taxis ermuntert oder angeregt, hält Einar das Auto an und nennt eine Straße in Treptow, die Straße, die heute vielleicht ganz anders heißt, als damals, um das Haus zu suchen, in welchem er einige Zeit gelebt hat, die Kinderjahre und etliche seiner Jugend. Der Fahrer, im Bilde über den Fahrgast, wie es scheint, beobachtet ihn verstohlen im Rückspiegel, vielmehr beobachten sich beide, der im Fond und der am Volant. Einar hat wenig Lust, sich in ein Gespräch einzulassen; er lebt gerade inkognito, er hat soeben die eine Persönlichkeit abgegeben und will es nicht riskieren, entweder als der erkannt zu werden, der es ist und einmal war oder aber in eine weitere Rolle hineinzukommen. Lange dauert die Fahrt bis Treptow ohnehin nicht. Würde er den Weg durch das Zentrum genommen haben, wäre er Zeuge einer Veranstaltung geworden, die Folgen zeitigte.

Er steht auf der Straße, er ist erstaunt, wie wenig sich hier verändert hat. Diese Allee war einst sehr ruhig, ihre Rückfront scheint auch heute noch zeitlos-still zu sein, bis auf die vorbeirasselnden Züge der S-Bahn, der Park gegenüber war wie eine Oase, zumindest in seiner Erinnerung. Das heruntergekommene Haus aber zeigt auch heute noch, was es einst gewesen, eine teure Residenz für Ärzte, Anwälte, Akademiker. Die Fassade mit Erkern und Balkons, mit hohen und breiten Fenstern, mit steinernen Figuren neben der Eingangstür erzählt von Wohlstand und von Verfall. Hier residierte einst Moogs Vater, der Anwalt und Strafverteidiger Doktor Einar sen., hier empfing er die Klienten, befehligte er seine Referendare und seinen Bürovorsteher und dieser die Kanzlisten; zuzeiten wimmelte es fast von angestellten und hospitierenden Jüngern der Jurisprudenz, Zivilisten und Uniformierten. Zuweilen überließ Einar auch die vielen Amtsgeschäfte seiner Schwester; der berühmte Strafverteidiger zog sich zum Aktenstudium zurück, erschien wieder auf der Bildfläche, voller Tatkraft, möbelte sein Büro auf, hetzte von Termin zu Termin, sich und seine Untergebenen nicht schonend. Die letzten Jahre von Weimar, dieses von politischen Leidenschaften überkochende Berlin ließen dem Anwalt kaum noch Zeit zu stiller wissenschaftlicher Tätigkeit; er hatte ein Reichstagsmandat der NSDAP inne, er zählte nicht zum engsten, wohl aber zum engeren Kreis der politischen Führung der SS; seine gesellschaftlichen Beziehungen waren weit verzweigt.

Das Notariat der Kanzlei war in einem hohen saalartigen Raum der Vorderhauswohnung im ersten Stock untergebracht gewesen. Man hatte die Wände durchbrechen lassen; auf den Aktentischen und Ablagegestellen türmten sich die Handordner, Zeitungen und Zeitschriften und lose Blattsammlungen neuer Erlasse und Gesetzesnovellen. Die eine Wandhälfte war überdies dem großen Areal von Gesetzesbüchern und Nachschlagewerken vorbehalten. Von diesem Raum aus gelangte der zugelassene Klient in den Arbeitsraum des Anwaltes, dem Allerheiligsten, dem inneren Bereich der ganzen Kanzlei. Der Anwalt beaufsichtigte und verwaltete die Vermögen zahlreicher Politiker und manche Nachlässe oder Vermächtnisse. Hinter dem Schreibtisch Einars war eine mächtige, übermannshohe Metallplatte in die Wand eingelassen, die im Halbrelief ausgeführte Figur eines mit weit gespreizten Beinen prunkenden Ordensritter, den weißen Mantel mit dem schwarzen Kreuz der Brüder vom Deutschen Orden über dem Brustharnisch, das blanke breite Schwert mit der Spitze vor sich in den Boden gepflanzt, die in Stahl steckenden Hände über dem Griff gekreuzt. Hinter dem halb geöffneten Helmvisier war kein Gesicht zu erkennen, ein Panzerreiter, eine trotzige Kampfmaschine ohne Antlitz. Vor diesem Bildwerk pflegte die Sustschina, die Tante, ihrem jungen Neffen die Glaubenslehre der Einars zu verkünden. Er kannte die Geschichte des Ordens, den Aufstieg und Fall in der Schlacht bei Tannenberg gegen das vereinigte polnisch-littauische Heer, kannte die tragische Gestalt des Hochmeisters Ulrich von Jungingen, wusste all die überlieferten Namen der Verteidiger der Marienburg auswendig, ehe er lesen gelernt hatte; die Tante sprach ihm von den leuchtenden Stränden der Bucht, erzählte von der düster-schönen Stadt Riga, ihren prächtigen Häusern, dem mächtigem Palais der Einars in der Bremer Straße, dem Fleiß und der Macht der Deutschen neben den Russen. Im Bücherschrank des Vaters waren die Fotos mit dem sagenhaften Fluchtschlitten Einars aufbewahrt, nein, eingeschreint, er selber in der Wolfsschur mit einem Gewehr in den Händen, ein hagerer, bärtiger Mann mit blitzenden Augen. Hier stand aber auch die Prachtausgabe der Werke Puschkins in Goldschnitt und geprägtem Leder, stand manch kyrillisches neben den deutschen Klassikern, Herder zumal, Goethe, Hölderlin, wurde die riesige alte Familienbibel gezeigt, kaum zu bewegen für einen Knaben und um die halbe Welt mitgeschleppt. Im Arbeitszimmer roch es nach Juchten und nach Tee, nach dem süßlich duftenden leichten Tabak orientalischer Zigaretten, nach Gewehröl aus dem offenen Waffenständer. Berlin besaß damals eine bemerkenswert große russische Kolonie. Die Mehrzahl der adligen Emigranten zog den Berliner Westen als Wohnsitz vor; sie mieteten sich in die stattlichen Häuser in Wilmersdorf ein. Sie wirtschafteten in teuren Pensionen, falls sie Geld genug hatten. Für einige war Berlin nur Durchgangsort, sie reisten weiter nach Paris, London, wanderten nach Amerika aus, durchzogen den Kontinent, aber sie kamen, solange sie auf Papiere und Geld warteten, häufig zum Anwalt; ehemalige Fürsten, hohe zaristische Beamte nahmen bei ihm und der Baronin Sustschina-Einar ihren gewohnten Tee, kamen, um russisch zu sprechen, sich wie in Rußland zu fühlen.

»Nun, German Karlowitsch, Sie haben es hier wie in St.-Petersburg, nicht wahr?«

»Gewiss, Exzellenz, übrigens ein Verdienst meiner Schwester, der Baronin.«

Die Geschäfte gingen gut, mit glücklicher Hand erwarben die Geschwister einige Häuserkomplexe hinzu; sie bebten vor Tatendrang, entschieden schnell und kühn. Seine Prozesse führend, vorsichtig abwägend, setzte sich der Anwalt bei den Gerichten durch. Tagelang überließ er seiner Schwester die Aufsicht über Praxis und Geschäfte, betraute sie mit heikler Korrespondenz. Selten musste er an ihren Maßnahmen etwas bessern; seit ihrer Flucht über die Ostsee hatte sich die Baronin endgültig gefunden; sie war ihrem Bruder vollständig ergeben, wie er es erlernt hatte, sich auf ihre Instinkte zu verlassen ...

Moog betrat das Haus und suchte sich zu erinnern. Von seinem Zimmer aus hatte er die Kuppel der Sternwarte sehen können. Wurde der große Refraktor ausgefahren, dann stand der Knabe Moog gewiss am Fenster, ohne ganz zu verstehen, welchen Sinn und Zweck das gewaltige Rohr wohl haben mochte. Über seinem Arbeitstisch hing er eine Karte des Sternhimmels. Dieses stille Zimmer, sein Refugium und sein eigentliches Reich in dieser Welt, hatte er nicht lange bewohnen sollen. Es war beschlossen, ihn in die Fremde zu schicken. Nun, alles kam dann anders, in Folge der nationalen Revolution, aber Moog hatte zum ersten Male empfindlich gespürt, wie sehr er Schachfigur in der Hand des Vaters war, gelenkt von seinem Willen.

An einem Ende der Wohnetage, der zweiten über der Kanzlei, hatte sich die Baronin einquartiert, mit der Verwaltung ihrer Häuser befasst, mit den juristischen Aufträgen des Bruders und der Politik beschäftigt. Auch im inneren häuslichen Bezirk war sie der Motor, sie trieb den Neffen zum Lernen, die Schwägerin zur Überwindung ihres Bedürfnisses nach Ruhe und ihrem Hang zum Luxus an. Isolde, Moogs Mutter, repräsentierte die Einars nur ungenügend, nach Meinung der Tante. Gelegentlich hielt die Baronin, wie sie allgemein genannt wurde, in ihrem kleinen Salon Zirkel, zu welchem man in zierlich gestochener Schrift auf kleinen Kärtchen geladen wurde; einen Empfangstag lehnte sie als bürgerlich ab. Der Lebensstil ihres Bruders hätte auch keinen festen Tag zugelassen. Sie hielt Verbindung zu einigen Künstlern und Literaten der Stadt, nicht den Erstklassigen der Cliquen aus dem Berliner Westen, aber die ihr genehmen. Einer dieser gediegen arbeitenden, jedem bloßen Experiment abgeneigten, hatte nach einem Foto das naturalistische Ganzbild des ermordeten Gardekapitäns vor einem düsteren Hintergrund gemalt. Es maß anderthalb mal zwei Meter, beherrschte fast eine ganze Wand des Salons und gab der Baronin Gelegenheit, auf die Frage eines mit der Familiengeschichte nicht vertrauten Gastes, wer denn der imposante Herr auf dem Bild sei, zurückhaltende Antworten zu geben, es anderen überlassend, dem Fremden die Sache zu erläutern. Der Mann war tot, sie seine Witwe ...

Moog entsann sich des Verlegers Rewald, der eigentlich hier nichts zu suchen gehabt hätte, würde er nicht durch die Förderung eines Favoriten der Baronin, einem schriftstellernden jungen Offizier, des Privilegs teilhaftig geworden sein, ihren Salon zu beleben. Zu Rewald standen die Geschwister überdies in geschäftlichen Beziehungen; er war der Verleger des berühmten Buches, Einars großen Erlebnisberichtes, »Hinter den Linien«. Die Erlöse daraus waren beträchtlich, die Verbindung für beide Seiten vorteilhaft. Rewald, ein Riese mit mächtigen weißen weichen Händen, fleischig wie die Tatzen eines Bären und genau so empfindsam, machte sich wenig aus dem russischen Tee, aber er hatte seine Gründe, die Einladungen der Deutsch-Baltin anzunehmen und das wässrige Zeug aus ihrem Samowar zu trinken. Weiter pflegte sich regelmäßig ein stiller Mann im blauen Marinetuch einzustellen, der allgemein mit Kapitän angesprochen wurde, aber niemals das Wort nahm, was selten war in dieser aufgeregt redseligen Zeit, und der doch als ein bekannter Frondeur des Zeitalters galt. Dieser Mann, den der Anwalt in einem Prozess verteidigt hatte, als jener unter Anklage stand, Schiffbrüchige ermordet zu haben, der verurteilt worden war und entflohen, der unerkannt lebte, stand nun unter dem Schutz der Geschwister. Unter die Gäste mischten sich junge Leutnants und Fähnrichs aus dem baltischen Freikorps, sämtlich ohne Einkommen und alle ohne Zukunft, in schäbige Windblusen gehüllt, halb verhungert, aber von der Baronin mit Aufmerksamkeit behandelt, die ehemaligen Kriegskameraden des Anwaltes aus der Bürgerkriegszeit und von diesem mit kleineren Geldsummen unauffällig und taktvoll unterstützt. Frauen fehlten im Salon der Tante, ausgenommen sie selbst und die Schwägerin Isolde natürlich, Moogs Mutter. Auch der Anwalt versäumte selten eine dieser Soireen. Lachend bezeichnete er den Salon der Schwester als einen Gefechtstand ...

Moog musste in die Volks- oder Gemeindeschule gehen. Er traf auf Kinder des unteren Mittelstandes zumeist; er verabscheute ihren Geruch und er hasste ihre Gewohnheiten, wollte auf Distanz bleiben, sah sich als Sohn seines Vaters von allen Mitschülern und Lehrern umworben. Vater und Tante hatten ihm bedeutet, es gezieme sich für ihn, dieses deutsche Volk wo nicht zu lieben, so doch zu behandeln wie ihnen gleichgestellt, mochte es sich auch anders verhalten. Durch Einladungen seiner Klassenkameraden war der junge Moog in andere Wohnungen gekommen, und er hatte gesehen, wie sich weniger Wohlhabende als die Einars einrichteten, nämlich behaglicher. Bei ihm Zuhause standen in den Dielen zwar mächtige dunkle Truhen und hohe alte flämische Schränke, aber selbst im Esszimmer waren die steiflehnigen Stühle mit ihren Sitz- und Rückenleder aufgeprägten Motiven nicht eben zum Sitzen gut. Nur die kleinen Zimmer der Mutter und der Salon der Sustschina waren freundlicher und ein wenig möbliert, der mit Sesseln und zerbrechlichen Tischen, die gläserne Vitrinen waren angefüllt mit dünnwandigem kostbarem Porzellan und den speziellen russischen Lackschachteln und ihren Märchenmotiven. Das Speisezimmer der Einars, ein dunkler langer Saal, wurde nur selten genutzt und nie geheizt. Dort befanden sich um einen langen Tisch vierundzwanzig Stühle mit den Wappen der alten Hansestädte im schwarzen Leder, und über einer Anrichte mit gewaltigen silbernen Schüsseln und Servierplatten hing ein Gemälde, auf dem leuchtend rote Früchte und allerlei erlegtes Wild, Rehe, Schnepfen und Enten, noch im Gefieder, auf schwerem grünen Samt lagen. Moog hatte, nicht ohne vermessenen Stolz auf diese Einrichtung, seine Kameraden durch die Wohnung führen dürfen und auf die erstaunte Frage, weshalb so viele Zimmer leer und ungenutzt blieben, keine andere Antwort als diese zu geben gewusst, so sei es immer gewesen in Riga, obschon er das Stadtpalais der Einars gar nicht kannte ...

Die Samoware aus Tula auf Tischen mit Intarsienarbeiten in den Zimmern, die Teegläser in metallenen Körbchen und die fingerhutgroßen Goldbecher aus den sibirischen Werkstätten, die lackierten Kästchen, leuchtende Blumen oder Troikas hatten Bewunderung und Staunen erregt, und Moog erkannte damals wie exotisch die Einars den Reichsdeutschen, diesen munter plappernden Berlinern zumal, erscheinen mussten. Das Russisch sprach er schon geläufig und fast so gut wie Deutsch, seine Muttersprache. Moogs Mitschüler in der örtlichen Gemeindeschule, in die er damals gehen musste, weil es dem Anwalt beliebte, ihn mit dem Volk leben und leiden zu lassen, behandelten ihn also achtungsvoll; selbst manch einer der Lehrer bemühte sich um die Gunst dieses jungen Schülers. Erst durch die Befragung, woher er komme und wer er sei, ging ihm denn auch auf, welche Entfernung der Vater bewältigt hatte, auf der Flucht vor den Feinden, Tausende Kilometer zwischen Riga und Wladiwostok, gewaltig und für einen Knaben ganz unvorstellbar, selbst mit der Transsibirischen Eisenbahn eine Reise von vierzehn Tagen. Das gab Moog einen Sonderstatus und in der Tat war er den eingeborenen Kindern in etwas schwer zu Benennendem überlegen. Eine frühe Reife vielleicht, aus der Lage dominierender Minderheiten begründete Ursache, Anlagen, die sich weiter vererbten. Jedermann war davon überzeugt, dass ihm eine große Zukunft gehöre. Ohne es zu wissen, war Moog auf seine künftige Rolle in der kommenden Gesellschaft vorbereitet worden; er wusste früh, früher als andere, dass diese Republik aus Weimar nur Übergang sein konnte und durfte. Im Grunde sah er in seinen Mitschülern ihm widerstrebende Obskuranten, bestenfalls Gefolgsleute, die er duldete, wie es zu seinen Pflichten gehörte, ihnen gegenüber unbedingt zuverlässig zu sein oder Loyalität ihnen gegenüber zumindest anzustreben. Alles lief bei ihm darauf hinaus, Ordnung zu halten, Ordnung letztlich in Natur und Gesellschaft als unverrückbar und ewig zu erkennen ...

In dem kleinen Salon der Tante gab es also bequeme Sessel und Sofas, Tische und Stühle mit zierlich geschweiften Beinen. Es saß sich ganz angenehm bei ihr. War Einar in der Kanzlei oder, zwangsläufig ein häufiger Fall, in seinem Arbeitszimmer, hielt sich die Sustschina bei ihm auf. Die Geschwister bemühten sich vergeblich, einen Prozess gegen die lettische Republik in Gang zu bringen. An sich waren ihre Ansprüche zwar völker- und staatsrechtlich fragwürdig, Lettland inzwischen völkerrechtlich anerkannt, aber: par in parem non habet iurisdiktionem. Lettland war ein Staat, die deutsche Republik auch. Durch ihre Heirat mit dem ermordeten Stabskapitän war die Baronin zur Erbin oder Miterbin seiner Hinterlassenschaft geworden, das sie nicht in Besitz nehmen konnte. Indessen lag der Fall komplizierter und etliches auf russischem Boden. Unzweifelhaft war Sustschin in seiner Todesstunde russischer Staatsbürger gewesen; so weit es seinen Grundbesitz betraf, lag dieser jedoch heute zum Teil auf sowjetrussischem Territorium. Das sozialistische Rußland hatte die sustschinschen Liegenschaften enteignet, Wälder und Ackerland, durch die normierenden Kräfte der Revolution. Der lettische Staat schließlich, ebenfalls Erbe oder Expropriateur, verwies auf zu schließende Staatsverträge, in denen solche persönlichen wie auch die staatlichen Ansprüche dauerhaft geregelt werden sollten, könnten. Allerdings entschädigte das Reich die aus den ehemaligen afrikanischen Kolonien vertriebenen Siedler aufgrund einer Vereinbarung zwischen der britischen Mandatsregierung und den Deutschen mehr oder minder gerecht und jedenfalls bewusst säumig und verschleppend, nicht aber die aus dem Osten vertriebenen. Angesichts dieser Lage riet der Anwalt seiner Schwester zu einem Vergleich, falls die Letten bereit wären, überhaupt einen zu schließen, aus welchen Gründen auch immer, was 1932 freilich wenig wahrscheinlich. Dieses schwache nachgiebige und tief gedemütigte Deutschland der Weimarer Republik war eben leider auch kein Verbündeter in diesem Streit. Das zuständige Reichsministerium des Äußeren vertröstete, obschon es wie gesagt die aus den Kolonien Süd- und Ostafrikas vertriebenen Farmer entschädigte. Einar vertrat einige von ihnen gegen das Reichsentschädigungsamt, zähen alten Siedlern, denen die Summen zu gering ausfielen, die der deutsche Staat ihnen anbot. Moog hörte die Verhandlungen zwischen seinem Vater und der Tante gelegentlich mit an, ohne dass ihm die Tragweite dieses Streites aufging. Aber er begriff, dass ihnen etwas weggenommen worden war, etwas, dass Gewalt und Unrecht bedeutete. Und er bewunderte beide, den energischen Vater und die leidenschaftlich kühle Tante ...

Neben Selbstdisziplin und Härte verband die Geschwister eine brennende Kampfes- und Arbeitslust. Moog fand weder seinen Vater noch die Sustschina jemals ohne Beschäftigung. Auch wenn sie nur grübelnd über Briefen und Prozessakten saßen und versuchten, diese störrischen Letten zur Herausgabe ihres Erbes oder belegbarer Legate zu bewegen, die der Stabskapitän zu Lebzeiten errichtet hatte. Hier ging es um alles, um Familienerbe, um Ehre und um Geschichte ...

Die Witwe Sustschins besaß die deutsche Staatsbürgerschaft, wie auch ihr Bruder. Sie ließ sich Visitenkarten drucken und hieß nun Helga Katharina Baronin Sustschina-Einar. Von ihr ging eine alte unerschütterliche Zuversicht aus. Hochgewachsen wie ihr Bruder, mit geraden Schultern, einem schlanken Hals und dichtem dunklen Haar, in das sich breite silberne Strähnen zu mischen begannen, hatte sie die gefährlich aufblitzenden Augen der leicht Erregbaren, die sich durch eine Kraftanstrengung zur Ruhe zwingen. Sie war von unberechenbarem, unnahbarem Stolz, von einem eisigen Hochmut und der Schrecken des Hauspersonals, wie der Kanzlei. Da sie immer bestimmt hatte, war ihr herrschen zur Natur geworden; einzig ihren Bruder ließ sie gelten. An seinen politischen Zielen nahm sie nicht nur Anteil, sie verfocht sie noch bedingungsloser als er selber. Seine verzweigten Geschäfte und politischen Verstrickungen zwangen ihn oft genug zu pragmatischen Entschlüssen, was er selber als ein mit der Politik verbundenes Übel betrachtete: Politik ist Schicksal, lautete sein Wahlspruch. Er hasste die parlamentarische Demokratie, die ihm als Mandatsträger Immunität sichert; er verabscheute den Parteienstaat. Seit er das Reichstagsmandat errungen hatte, musste er überdies auch noch gewisse Rücksichten auf die Empfindlichkeiten manch eines seiner Mitstreiter nehmen, zumal auf den einen, Strasser, den Vorsitzenden der Fraktion, einer Macht in der Partei und ein Intrigant ...

Als Anwalt neigte er eher zum außergerichtlichen Vergleich, wo er sich zivilrechtlich betätigte, was seltener geworden war, und wenn eine gerichtliche Entscheidung gegen seinen Antrag ausfallen konnte, ließ er sich mäßigend hören; in der Fraktion scheute er den langen Streit. Moog entsann sich eines Tages, als sie dem Führer vorgestellt worden waren, der sich aus Anlass einer Parteikontroverse kurzfristig in Berlin aufgehalten hatte. Sie trafen ihn in einer Stube des Hotel Kaiserhof, seinem Berliner Hauptquartier; der Führer saß an einem kleinen Tisch, umgeben von zahlreichen Leuten, Männern und Frauen, und der Anwalt reichte ihm verschiedene Papiere zu. Aber der Führer drehte die Akten unschlüssig, was er damit tun sollte, hin und her, und reichte sie dem Anwalt zurück. Frank solle es sich ansehen, entschied er. Dann hatte sich Einar vorgebeugt und dem Führer etwas zugeflüstert, worauf dieser den Kopf zu ihnen wendete; die Sustschina und er, Moog, traten heran. Laut hatte der Anwalt gefragt, ob er sich erlauben dürfe, dem Führer Schwester und Sohn vorzustellen? Der Führer erhob sich und machte eine Verbeugung, in vollendeter Höflichkeit, sagte der Baronin mit leiser Stimme ein freundliches Wort, strich ihm, Moog, mit der Hand über den Schopf, und lud sie mit einer Armbewegung zum Sitzen ein. Es war eine private Begegnung; in dem Gespräch, das der Führer mit der Sustschina führte, war von ganz normalen Dingen die Rede, vom Wetter, von Autos und von Pferden und der Führer bedauerte, wenig von diesen schönen edlen Rassetieren zu wissen. Dann trat ein Mann an den Tisch und beendete diese Begegnung. Der Führer erhob sich und sagte wie bedauernd: »Meine Parteigenossen ... «

In den Tagen nach diesem unerwarteten Höhepunkt hatte sich die Tante in sich zurückgezogen, um das Erlebnis dieser Begegnung zu verarbeiten. Sie sprach später selten über ihre Empfindungen; der Anwalt schwieg übrigens zu den gelegentlichen euphorischen Äußerungen seiner Schwester über den Eindruck, den der Führer auf sie gemacht hatte. Ihre Hingebung an den von ihr sehr verehrten Mann, einer Lichtgestalt, schien der Anwalt nicht ganz zu teilen. Frauen empfinden anders, ward ihm vom Vater auf seine Frage geantwortet worden. Moog hatte lediglich die Erinnerung an einen körperlich nicht sehr großen und ziemlich zerstreuten Mann bewahrt, der in Eile war ...

Während der Abwesenheit Einars hatte die Tante seine Erziehung geleitet und hartnäckig einen Mann und Krieger aus ihm zu formen versucht. Sie hielt Reitpferde, eine passionierte Dressurreiterin, und wenn der Knabe ins Frühstückszimmer kam, fand er sie im Reitkleid vor, vom Frühstall kommend oder dahin aufbrechend. Seit seinem fünften Lebensjahr nahm sie ihn mit nach Münchehofe, einem Nest an der großen östlichen Heerstraße nach Frankfurt, wo sich ihr Anwesen befand, ein kleines Gehöft aus Stallungen mit einigen Boxen zum Einstellen ihrer Pferde, einem Wohnhaus und dem Abreitplatz, alles betreut von einem ehemaligen, durch einen Reitunfall hinkenden Jockey und einem alten Mann als Stallgehilfen. Sie brachte auch hin und wieder ein Vollblut auf die nahe Hoppegartener Rennbahn, nahm aber den Rennsport nicht wichtig genug, um sich auf ihn einzulassen. Auch Moogs Vater war für das Turnier zu beschäftigt mit Beruf und Mandat, auch nicht mehr jung genug, zeigte sich bei Gelegenheit im Stall, oder er begleitete sie auf einem Warmblut, einem kraftstrotzenden Hannoveraner ins Gelände, der biss und schlug, einem wahren Kampfstier, den nur der Anwalt zu bändigen verstand. Erst nach der Morgenarbeit begann ihr Arbeitstag an der Seite des Bruders. Die beiden Erwachsenen tranken Tee, Moog Kakao, und erst gegen Ende des manchmal ausgedehnten Frühstücks etwa an Sonntagen erschien Isolde Einar, die Mutter, eine Langschläferin und nichts bezeugt ihre eigentümliche Stellung in der Familie mehr als die Nachsicht, mit der die dominierenden Geschwister diese kindische Undiszipliniertheit und Schlafsucht behandelten. Das Verdienst der Gattin des Anwaltes bestand darin, seine, Moogs Mutter zu sein, die Mutter eines Knaben, der zu vielen Hoffnungen berechtigte und auffallend schön zu sein ...

Vom mütterlichen Zweig der Familie wusste Moog wenig, aber doch so viel, dass es sich um keine vollwertigen Menschen handelte. Isolde war eine geborene Arzt. Ihre Eltern betrieben in Lübeck eine musikalische Lehranstalt, ein Konservatorium, wo junge Damen und Herren auf das Studium an einer staatlichen Musikhochschule vorbereitet wurden, und zwar in Gesang, Klavier, Violine und einigen weiteren Instrumenten. Moogs Großvater trug sogar einen Titel, Professor, er hatte ihn verliehen bekommen oder ihn sich einfach angemaßt, wie die Baronin vermutete. Aber der Professor Arzt konnte seine Kritiker auch auf gewisse Erfolge bei der Einstudierung und Aufführung der großen Bach-Werke im Lübecker Dom verweisen. Er hatte eine viel gelobte Biografie des großen Organisten Dietrich Buxtehude verfasst, und er mischte sich in alle Streitereien zeitgenössischer Kirchenmusiker ein und hielt Umschau nach neuen Kampffeldern. Seine Gattin, Isoldes Mutter, immerhin doch eine ehemalige Kammersängerin mit einem schrillen Organ, brachte eine Schar Eleven bei ihrer Heirat in das Etablissement. Unter väterlicher Anleitung hatte die kleine Isolde das Klavierspiel erlernen, dank mütterlicher Unterweisung ihre Altstimme ausbilden müssen, da es zum Sopran nicht gereicht hatte, mit nur mäßigem Erfolg. Ihr fehlte es an Ehrgeiz. Als Choristin war sie im Winter 1914 nach Riga gekommen und hatte die Aufmerksamkeit Einars anlässlich eines Konzertes geweckt. Der Anwalt liebte an der Musik vor allem die großen erhabenen Chorwerke der Orgelmusik. Andererseits besaß er jedoch genügend Verständnis für dramatische Opern und Symphonien, um mit Genuss immerhin zuzuhören. Die jugendliche Sängerin in der ersten Reihe des Chores war ihm wegen ihrer zierlichen Gestalt aufgefallen; es war bitterkalt, draußen wie drinnen im Dom, und Einar lud den Chor kurzerhand mitfühlend zur Bewirtung in sein Haus. Zwischen ihm und der jungen Sängerin standen Lebensjahre; die Baronin, selbst gerade verehelicht, mit ihrem Stabskapitän, blieb gegenüber der sich anbahnenden Liebe ihres Bruders zu dem jungen Ding zurückhaltend, vielleicht aus geschwisterlicher Eifersucht, vielleicht auch aus anderen Gründen; sie war gelegentlich auch Prophetin. Der Anwalt erfuhr schließlich, dass der kleinen Choristin, da sie in der Musik versagt hatte, bestimmt worden war, der Menschheit karitativ zu dienen, ihre Wunden zu verbinden und zu heilen und fremden Schmerz zu lindern. Allein ihm schien, dieses Mädchen sei wohl doch zu Besserem bestimmt, als zur Krankenschwester. Isolde war im dritten Kriegsjahr seine Frau geworden, er hatte sie entführt, als die Musikerfamilie der Heirat nicht dienlich schien. Isolde lebte also schon in seinem Hause, als die Heiratserlaubnis endlich vom Professor, ihrem Vater, nach haltlosen Duellforderungen, wie der unsinnigen Drohung mit gerichtlicher Verfolgung des Mädchenraubes und lautstarken Invektiven erteilt wurde. Wahrscheinlich aber waren die Arzts am Ende heilfroh gewesen, eine ihrer zahlreichen Töchter versorgt zu sehen. Kurzum, es handelte sich um eine Liebesheirat, um eine Leidenschaft, die sich der Anwalt mitten im Krieg geleistet hatte, zum Zeichen, dass er nicht beabsichtigte, ausschließlich dem Kriegsgott zu dienen ...

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