Kitabı oku: «Das Erbe», sayfa 2

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Lab sieht, im Vordergrund des unbekannten Bildes von Lovis Corinth steht Pilgramer, Labs Großvater, trägt einen schwarzen Schlapphut, einen Kalabreser, ein Cape aus schwarzem weichem Stoff. Gepäck hat ihm der Maler Corinth nicht gegeben, ausgenommen eine Tasche aus grauem Zeug. Unter dem Hut ist wenig vom Gesicht zu erkennen, wenig, aber genug, knöchern Nase und Kinn, die Wangen sind eingefallen, die Haut gelbbraun. So hat ihn Corinth gesehen, nicht als blutenden, nackten Samson, sondern als harmlos unpolitischen Wanderer.

Lab denkt, auf der Höhe der «Märkischen Wachsschmelze» hat sich Pilgramer vielleicht gesetzt, ein gefällter Baum mag dort gelegen haben, eine dünne schwarze Zigarre hat Pilgramer seinem Etui entnommen, angezündet, und rauchend mag er geträumt haben. Dort liegt die Stadt, das Ziel, liegen Reichtum und Glück. Der Baumeister und Architekt, so wird er sich später nennen, Wilhelm Pilgramer aus Logau, gerade zwanzig, ledig, flüssig durch eine kleine vorweggenommene Erbschaft, will sich in Berlin niederlassen, um Karriere zu machen. Er will ein Schlüter oder ein Schinkel werden. Es wird alles ganz anders kommen. Die Augen Pilgramers haben die Stadt vielleicht wachsen sehen, über die mild zarte Silhouette hinaus, eine Traumstadt, die seinen, Pilgramers, Stempel trägt. Es kam anders, aber doch so ähnlich, zuletzt wehten die schwarzen Banner des Untergangs über Pilgramers Werk, vergessen ist, was immerhin unter Mühen errichtet, so schlecht es gewesen.

Von Wahrnehmbarem ging der Maler Lovis Corinth aus, beauftragt von dem Architekten Hubalek, ein Bild des alten Pilgramer zu malen, eines das bleiben sollte.

In Bildern besteht der Schatz unseres Glücks, in den leuchtenden Bildern des Scheins. Weshalb hat der Schein solche Macht über uns? Weil ihm Zweideutiges·anhaftet, weil der Zauber der Verführung zum Träumen vom Schein ausgeht. Wir existieren stärker in der Ferne zur Wirklichkeit als in dieser selbst, und wir sehen die Welt stets im Bild der Welt, unser Handeln ist durchherrscht von Bildern, notiert Lab.

Und mischt sich ein. 1902 sah der alte Herr Pilgramer so aus, wie ihn der Maler Lovis Corinth gesehen haben will? Pilgramer nahm das Bild an, wahrscheinlich gefiel ihm das Zwielichtige darin. Es entsprach seiner Neigung, sich zu verkleiden, hier spielte er den kalabresischen Briganten. Auf die Rückseite des Bildes schrieb er: P., aus Italien kommend.

Aus Italien kam Pilgramer nicht unmittelbar, weiß Lab. Zumindest war er vorher in Logau, beriet mit seinem Vater, was er tun sollte. Palazzi bauen wollte er, statt dessen baute er Wohnungen, wurde Bauherr, Bauleiter, Mieter, Vermieter, alles gegen seinen Willen. Gefragt war die Mietskaserne, nicht das Palais.

Lab, den Faden weiterspinnend, sieht, wie Pilgramer die Zigarre fortwirft, sich erhebt und in die Stadt hineingeht. Die Straße steigt leicht an,- der Lichtenberg ist noch so gut wie unbebaut -, senkt sich wieder ab. Pilgramer geht an Baustellen vorbei, die ihn unberührt lassen. Fuhrwerke rollen auf der breiten Straße, Pilgramer hätte auch von Westen oder Süden in die Stadt einziehen können, überall würde sich ihm ein ähnliches Bild geboten haben. Was weiter? Straßburger. Lab kennt den alten Straßburger nicht mehr, aber draußen in Mahlsdorf in der Villa, eine der Sünden Hubaleks, liegt ein Schriftwechsel zwischen dem alten Pilgramer und Straßburger, vergilbt und vergessen, nicht von Lab vergessen. Straßburger schreibt, Pilgramer möge bedenken, was er ihm verdanke, bittet um Hilfe, und Pilgramer antwortet förmlich: Bezug nehmend auf Ihr Schreiben vom, und er könne wenig tun, kämpfe selber mit Schwierigkeiten ... In einem anderen Brief an den Emigranten Hubalek: Sehe ich mich gezwungen, aufgrund Ihrer Handlungsweise die Beziehungen zwischen uns zu lösen ...

Pilgramer mag bis zum Alexanderplatz gekommen sein, denkt Lab, vielleicht wird er sich den Rest des Weges geschenkt haben, erkennend, daß die Straße, die er seit Stunden gegangen ist, ohne Unterbrechung ins Zentrum führt, eine wichtige Ausfallstraße, die wichtigste in Richtung Osten. Er nimmt eine Pferdedroschke oder ein Mietauto, falls es das 1902 schon gab, wahrscheinlich die Pferdedroschke. Der Kutscher mustert den Mann, der aussieht wie einer der wandernden Italiener mit ihren Gipsifigüri, den kleinen Statuetten aus Alabastergips, schönes und schlechtes Wetter anzeigend, weißer Kitsch. Die Kutsche rollt über den Alexanderplatz, die Königstraße, rollt über die Schloßbrücke, vorbei am Neptunbrunnen, damals direkt vor dem Schloß, schwenkt ein in die Friedrichstraße. Damit hätte Pilgramer gesehen, was Berlin an Architektur zu bieten hat, abgesehen von dem Rest Linden und dem Pariser Platz. Pilgramer ist auf den bevorstehenden Antrittsbesuch bei Straßburger eingestellt. Er entlohnt den Kutscher und steht vor dem Haus in der Oranienburger Straße, das ist Stadtkern, Alexanderplatz ist nicht weit, Monbijou. Neu sind die Häuser nicht, niedrig sind sie auch.

Es ist das gleiche Haus, in dem sich Lab vor ein paar Tagen den Knöchel brach, einen komplizierten Bruch zog er sich zu, er kann nicht gehen, nicht Auto fahren, nicht arbeiten, liegt zu Hause, das heißt, er liegt nicht mehr, er sitzt an seinem Arbeitstisch und blättert in einem Album. Ein Foto aus jenen Jahren findet sich, würde Lab keins gefunden haben, hätte er es sich gedacht, Straßburger in einem der Zimmer, Pilgramer am Tisch sitzend, und eine ältere Frau. Regale ziehen sich längs der Wände hin, vollgestopft mit Büchern, Papierrollen, Bauplänen wahrscheinlich. Wo an den Wänden ein freier Platz ist, hängt ein Ölbild oder ein Stich, gerahmt, bunt durcheinander, ein Porträt von Liebermann, daneben eine Aquatinta nach Canaletto. In der Mitte des Raumes, an das hohe schmale Fenster gerückt, der Schreibtisch, eine lange Holzplatte, auf zwei Böcke gelegt, dient als Ablage für Zeichnungen, der Fußboden Parkett.

Lab denkt, es wird so gewesen sein, Pilgramer läutet, die Frau auf dem Bild, eine Schlampe mit wabbligem Busen, steht in der Tür, fragt wer Pilgramer sei, was er wünsche. Pilgramer wird gesagt haben, wer er ist, und in das Zimmer geführt worden sein, in dem später die Aufnahme gemacht wurde.

Komm Se man, sagt das Weib, Se wer’n schon erwartet. Sie schlurft voran durch winklige, kurze Korridore, gefolgt von dem schüchternen jungen Pilgramer, stößt eine Tür auf, schiebt den Gast hinein. Det issa, Herr Rat.

Is jut. Straßburger wird das Zimmer beherrscht haben, Straßburger, vielleicht fünfzig, vielleicht älter, trägt eine schwarze Hose, über dem Bauch offen, schwarze Lackschuhe, als wolle er zu einem Ball, aber er trägt keinen Frack, sondern nur ein Hemd und darüber eine kurze Hausjacke aus dunkelgrünem Samt. Straßburgers Augen hinter dem zitternden Pincenez an langer dünner Schnur sind wässrig, die Lider zucken vor Übermüdung. Lidsäcke hängen unter den Augen, schlaff sind die Wangen von Krankheit oder Genuß, blau geädert die Hände, gealtert, Sklerose verratend.

Er habe Pilgramer früher erwartet, sagt Straßburger, mit raschem Blick die Gestalt vor sich erfassend, das Aufgeblasene, Lächerliche, das also ist Pilgramer, Maurer gelernt im väterlichen Betrieb, solider Betrieb, Handwerk, Gewerbeschule hinter sich, in München studiert. So etwa, an Kindern und Enkeln soll sich erfüllen, was einem selber versagt blieb. Und ganz zum Schluß ermöglichte der Alte dem Sohn ein Jahr Italien, etwas verspätete Italomanie, Italien ist längst vorbei, aber Logau ist schließlich Provinz. Da kommt alles ein halbes oder ein ganzes Jahrhundert später an.

Der Vater Pilgramers, sagt Straßburger, habe geschrieben, den ehemaligen Kollegen um Hilfe für den Sohn ersucht. Wo hat er den Brief? Straßburger sucht auf dem Tisch herum, findet den Brief nicht, gibt das Suchen auf und lächelt, da sei Pilgramer, was hat er vor?

Pilgramer, verwundert vielleicht über das Rastlose, die Hast, wie er meint, verärgert über den gleichgültigen Empfang, er kommt von einer Bildungsreise immerhin, hätte gegebenenfalls viel zu erzählen, wenn er nur gefragt würde, nimmt den Hut herunter. Was Straßburger rate? Wo und wie beginnen?

Straßburger wird nicht sofort geantwortet haben angesichts dieser Einfalt, er hat ja nicht auf Pilgramer gewartet, er hat ihn erwartet, vielleicht auch gehofft, er käme nicht, aber da steht er und fragt direkt, was er tun soll. Straßburger nötigt also den jungen Menschen, Cape und Tasche abzulegen, sich zu setzen, zwei Stühle sind da, unbequeme Stühle, die auffordern sich kurz zu fassen.

Ob Pilgramer Phantasie habe, fragt Straßburger rasch, ob er sich vorstellen könne, wie es aussähe, wenn täglich zweitausend Menschen kämen, täglich, ein dauernder, ununterbrochener Zuzug aus den Provinzen. Da säßen sie auf ihren Körben und Kisten, mit Sack und Pack gekommen, das letzte Geld für die Fahrkarte ausgegeben, auf irgendein vages Versprechen hin gekommen, einem Schlepper in die Hände gefallen. Gott wisse, wo diese Menschen alle bleiben. Eine Ware, eine ausgebreitete Haut, auf der Parasiten nisteten. Jetzt zum Beispiel stecke man in der Baukrise, allgemein in der Krise, im Grunde genommen stecke man überhaupt in einer ausweglosen Lage. Diese Leute würden das Faß einmal zum Überlaufen bringen, Rekruten für die Bebelpartei. Wenn man ihnen helfen und sich selbst helfen wolle, müsse man schnell billige Wohnungen bauen. Selbst die Bürokratie sehe in diesem Fall durch die Finger. Das etwa die Richtung, in der sich ein junger Mann zu entwickeln habe, solle etwas Vernünftiges auf die Beine gestellt werden.

Lab denkt, Pilgramer wird den Rat beobachtet haben, in dessen Gestalt etwas Bewegung gekommen ist, Teilnahme, und dann mag Pilgramer seine Tasche geöffnet haben, mag die Früchte seines Italienaufenthalts ausgebreitet haben, mit spitzer Feder ausgeführte Zeichnungen berühmter Bauwerke, nach der Natur angefertigt oder nach Stichen kopiert. Kuppelhallen, Säulen, Arkaden, Höfe, Springbrunnen, nicht zu vergessen die Zypressen. Schön wird Straßburger geantwortet haben, sehr schön, nicht ohne Ironie über die Gutgläubigkeit und Unwissenheit; Palazzi solle er ja aber nicht bauen, woher die Mäzene nehmen? Man gebe uns Mäzene, wolle man Vergile haben. Das sei von Martial. Pilgramer hat sicherlich viel gelernt, wenig Brauchbares, wie man überhaupt wenig Brauchbares außerhalb der Praxis lernen kann. Aber Straßburger schlug vielleicht vor: Jetzt frühstücken Sie mit mir.

Beim Frühstück, bei weichen Eiern und weichen Semmeln, Mokka, Sahne, Konfitüre, Honig - gegessen wurde wahrscheinlich in der Küche, jenem dunklen, zum Lichtschacht liegenden Raum, das schlampige Weib mag sie bedient oder mit am Tisch gesessen haben -, hat sich das Gespräch den praktischen Fragen zugewendet.

Ob Pilgramer liquide, flüssig sei. Pilgramer erwähnt die kleine Erbschaft, will die Summe nicht nennen im Beisein der Dienstbotin, erwähnt allenfalls, daß er sich mit dieser Summe über Wasser zu halten gedenke, bis die Aufträge hereinkämen, da hoffe er auf die Unterstützung Straßburgers.

Reden Sie ruhig, sagt der, in dieser Küche wurden schon andere Maleschen gemacht.

Pilgramer also nennt die Summe, sie erscheint ihm jetzt klein, aber Straßburger läßt weder Zustimmung noch Ablehnung hören. Erst nach einer langen Pause, nachdenkend, erklärt er, er wisse was Pilgramer denke, da komme er und bringe eine Masse ungereimter Vorstellungen mit, als Architekt wolle er sich niederlassen, mit den paar Mark hoffe er reich und berühmt zu werden, und weiter denke er, nach ein paar Jahrzehnten würden sich die Mühen und die Entbehrungen gelohnt haben. So könne es sein, so müsse es aber nicht sein, und in den meisten Fällen gehe es böse aus, ende mit Katzenjammer und Schlimmerem. Was er glaube, wie viel Leute herkämen? Pilgramer müsse sich anders etablieren, er müsse Grundbesitzer werden, schwer arbeiten werde er müssen, aber im Ganzen sei es ein sicherer Weg zum Erfolg. Die große Hausse wäre zwar vorbei, aber es reiche schon noch für Pilgramer und seinesgleichen. Er, Straßburger, werde sich umtun, als alter Freund des Herrn Vater, Grundstücke suchen, es irgendwie deichseln, statt all der Palazzi hatte Pilgramer Wolkenkratzer in Amerika zeichnen sollen, da läge die Zukunft. Straßburger könne beispielsweise selbst jetzt in der Krise gar nicht alle Aufträge vergeben, die ihm von der Industrie zugespielt würden, ganz einfach, es fehle an Fachleuten. Pilgramer müsse also Bauunternehmer werden, auch wenn ihm dieser Weg nicht gefalle.

Sachverständig mag das schlampige Weib genickt haben, und Pilgramer wundert sich über Straßburger, über die offene Sprache im Beisein der Aufwartung.

Fürs Erste sehen Sie sich ein bißchen in Berlin um, sagt Straßburger, während ich für Sie denke. In Berlin wird man schneller heimisch, als einem lieb ist.

Wat Sie nich saren, meint das Weib.

Straßburger wird erläutert haben, ohne sich stören zu lassen, da wäre der nationale Laden, sollte ihn wundern, wenn Pilgramer darauf nicht hereinfalle, auf den Heldenkaiser und seine kriegerischen Ambitionen, dann käme der liberale Laden, die Trödelbude, schließlich der rote Laden, das erwähnte Pulverfaß.

Sie, Herr Rat, kenn unsern Laden doch jarnich.

Er glaube nicht an das demokratische Schwänzchen, nicht nur gegen Demokraten würden nur Soldaten helfen, mehr noch gegen Sozialdemokraten, würde man ihnen nicht endlich das Wasser abgraben.

Wat glooben Sie überhaupt?

Und dann sprunghaft, beinahe wird Pilgramer die Art schon vertraut gewesen sein, wo er wohne? Nirgendwo? Er könne einstweilen hier wohnen, da habe ihn Straßburger immer parat, und Frau Hoffmann könne sich um ihn kümmern, das andere finde er reichlich in der nahen Friedrichstraße.

3

Pilgramer, ohne Verbände, bloß noch mit einem Stock als Gehhilfe, in der Oranienburger. Ohne Lisa, mit Schelsky und Kant, einem Stukkateur, suchte nach Wertvollem, er baute die Kamera auf und machte eine Reihe von Aufnahmen. Über der Fassade lag der blasse Schein einer verschleierten Sonne, richtiges Licht für Fotoaufnahmen also. Denkmalpfleger, Architekten, Stukkateure suchten den Stuck zu retten. An der alten bröckligen Fassade hingen breite Flatschen herab; Rosetten, Girlanden, Schnörkel lösten sich unter den Fenstern. Schelsky, zurzeit ebenfalls noch denkmalpflegender Architekt, bemerkte, die Sanierung, die Wiederherstellung, würden eine Masse Geld kosten, und Pilgramer verkniff sich eine gepfefferte Antwort. Er nahm weiter Maß, machte weiter Aufnahmen, um sie später auszuwerten, mit alten Entwürfen zu vergleichen, beflügelt von dem Ehrgeiz, Stilechtes zu bauen. Aber Schelsky hielt ihm entgegen, von Stil sei keine Spur zu entdecken.

Ein Geometer werkelte mit seinen Gehilfen herum, hieß sie die Meßlatte bald hier, bald dort versetzen. Pilgramer sagte, jetzt werde hier ein Zeitalter vermessen, hier ungefähr mochte die Kutsche gehalten haben, jetzt Einbahnstraße, noch weiter eingeschränkt durch die Straßenbahn. Schelsky antwortete, er verstehe ihn nicht. Dann wiederholte er, daß er zum Jahresende ausscheide, in das Institut wechsele, er lade alle ein, ihm zu folgen, eine vernünftige, zukunftssichere Aufgabe zu übernehmen. Pilgramer würde sich besser für das Institut entscheiden, anstatt auf die Semperoper zu warten.

«Das fragt sich noch», sagte Pilgramer, ging durch den Torbogen, dessen Decke sich in der Mitte senkte. Kant sagte mißvergnügt, hier müßten erst mal neue Träger eingezogen werden, er könne es nicht verantworten, die Leute innen arbeiten zu lassen. Kant war kein Architekt, sondern Denkmalschützer, er selbst behauptete, Maler und Anstreicher zu sein. Er hielt auch wenig von dem Aufwand für das alte Zeug, wünschte auch ein Schloß oder eine Kirche zu restaurieren mit vielen kniffligen Arbeiten.

Es roch nach Schimmel, Feuchtigkeit. Geländer, Türen, alles Holz, dunkel vom Alter, war einmal durch die Hände von Kunsttischlern gegangen. An den Treppenwänden Mäander, freilich in stark verblichenen Farben, die bunten Glasscheiben ließen das Sonnenlicht nur gebrochen herein.

Lab, das Kürzel, das der alte Herr Pilgramer aus der lange Laban geformt hatte, skizzierte die Mäander auf Millimeterpapier, er fertigte lockere Aufrisse der Fenster an und beging das alte Haus wie eine Baustelle. Auf seinem Tisch zu Hause häuften sich die Unterlagen, Skizzen, Nachentwürfe. Dann betrat er, gefolgt von Schelsky und Kant, eine der schon geräumten Wohnungen im ersten Stock, eine lange Flucht mittelgroßer Zimmer, schwer stuckverziert die Decken, seit vielen Jahrzehnten immer nur abgewaschen, neu geweißt, die Türfüllungen und Zargen gebeizt, oft lackiert, die Türen hoch, schmal, verschnörkelt.

«In diesem Zimmer hat mein Großvater von 1902 an gelebt», sagt er zu Schelsky, verschweigend, daß noch ein anderer hier gelebt hatte, Straßburger.

Lab trat an das Fenster, entriegelte einen Flügel und öffnete ihn. Die Fenster gingen bis auf den Fußboden herunter, hatten aber keinen Balkon, sondern nur halbhohe geschmiedete Eisengitter. Nicht geschmiedet, meinte Kant, eben nicht. Die Blattornamente waren einzeln hergestellt und mit dem Eisen vernietet worden. Pfuscharbeit, wie sie damals aufgekommen, von Kunstschmiedearbeit keine Spur. Mit einer Stange tastete Kant die Decken ab. Merkwürdigerweise löste sich bloß der jüngere Putz, der alte Stuck blieb hängen.

Über die langen, schmalen Korridore betraten sie die dunkle Küche zum Lichthof, immerhin konnte der Raum etwas belüftet werden. Nach den Plänen sollten alle Hinterhäuser verschwinden, auf diese Weise wurden die Häuser in einer neu geschaffenen lockeren Anlage wieder bewohnbar. Kant ging allein weiter. Schelsky blieb, und Pilgramer setzte sich auf einen vergessenen Stuhl.

In dieser Wohnung also hatte der alte Herr gelebt, nicht sehr lange zwar, aber hier war etwas aus ihm geworden, mithilfe Straßburgers, der ihn in die Karten preußischer Baubürokratie blicken ließ, ihn in die Kunst einführte, Gesetze zu umgehen. Hier zeichnete der alte Herr Entwürfe, entwarf Fassaden, kaufte Grundstücke, formulierte Anträge. Vielleicht schreckte er im letzten Augenblick vor dem Wagnis zurück, und vielleicht hatte Straßburger höhnisch gesagt, wenn Sie Angst haben, junger Baumeister, dann scheren Sie sich zurück nach Logau. Und der alte Herr unterschrieb, was ihm vorgelegt wurde, gründete einen Baubetrieb in Mahlsdorf, dort, wo Hubalek später seine Jugendstilsünde beging.

Sicherlich hatte Straßburger auch diese Gründung mit einer Bemerkung gekrönt, eingetragen sind Sie hier nicht, eingetragen bleiben Sie mal ruhig in Schlesien, wer weiß, wozu es gut ist.

Es war gut, erst Jahrzehnte später zeigte sich, wie gut. Vorerst war ein Schild über die Einfahrt gekommen, Baugeschäft Pilgramer junior, Bureau Oranienburger Straße. Etwas Material hatte der alte Herr vielleicht auf Lager genommen.

Was mach ich mit einem Baugeschäft, Herr Rat?

Ja, was machen Sie mit Ihrem Baugeschäft, vorläufig machen Sie gar nichts mit Ihrem Baugeschäft.

Der Enkel setzte sich aus vielen Teilen ein Bild zusammen, sich bewußt, daß es so oder so, aber daß es auch anders gewesen sein konnte, einer der richtigen Gründer ist der alte Herr wohl nicht gewesen, dazu war es zu spät, aber um die Jahrhundertwende wurde der Osten noch stark bebaut, und daran hatte Pilgramer seinen Anteil. Der Enkel hat den Auftrag, eines der Häuser wiederherzustellen, das schon stand, als der alte Herr gerade ankam. Straßburger lenkte ihn klug. Jedenfalls hat der Maler Lovis Corinth den Pilgramer dieser Periode für sich entdeckt, die Eitelkeit des alten Herrn, und wie gesagt, der akzeptierte das Bild so, weil er anders war.

Lab, in der Wohnung, die dem alten Herrn einmal als Bureau diente, denkt jetzt an eine Fortsetzung des Gespräches mit dem alten Herrn. Er sieht den Großvater und fragt ihn, ob er das Haus erkenne, das alte Haus in der Oranienburger, Straßburger habe dort gewohnt, der alte Herr müsse sich doch gut daran erinnern können, falls er wolle.

Er erinnere sich gar nicht, antwortet der Großvater, und Straßburger habe seines Wissens in Friedrichshagen gewohnt, in einem riesigen Haus mit vielen Zimmern. Ein Schuldgefühl habe er nicht, fährt er fort, man habe wohl nichts machen können gegen die Zeitläufe, und Straßburger sei längst tot.

Lab redet. Wie das gewesen sei mit den Anfängen, den Grundstücken, dem Baugeschäft, weshalb der alte Herr seinen Idealen untreu geworden wäre? Jetzt kichert der alte Herr. Lab redet noch mehr. Wieso sich der alte Herr vor die Karre anderer spannen ließ, will er wissen. Viele alte Bauwerke würden jetzt restauriert werden, der Stadt solle ein Stück Geschichte zurückgegeben werden. Pilgramer winkt ab, soll zugrunde gehen, soll es doch, was sich nicht mehr erhalten kann, eine Stadt sei kein Museum.

Lab: Von Museum sei keine Rede, in die restaurierten Häuser werde neues Leben einziehen, die Wohnungen darin würden nach modernen Gesichtspunkten angelegt, mit sanitären Einrichtungen, an alles werde gedacht. Es kommt Lab auf die Wirkung an, die seine Rede auslöst.

Pilgramer senior nimmt ein gezeichnetes Blatt, dreht und wendet es und fragt, ob sie das alte Haus ganz einreißen wollten und neu wiedererrichten und was das für einen Sinn habe? Ausgeplündert sei er worden, poltert der alte Herr los, jawohl, von diesem Baujuden, Regierungsbaurat, Kommerzienrat, Schieber, Couponschneider. Daß alles anders gekommen sei, wäre wahrhaftig nicht diesem Straßburger zu danken, sondern Fred, dem Sohn, und Kamerad Schmiteinsky. So tief habe er, der Senior, damals in diesen schmierigen Bauunternehmungen gesteckt, Bau und Bauskandal hätten immer zusammengehört, nicht aus noch ein gewußt habe er. Hier winkt der alte Herr ab.

Lab, an die Familienlegende anknüpfend, zitiert, was er als Kind oft gehört, solche Legenden entstehen durch Wiederholung, vererben sich, einmal zu Wahrheiten umgeformt, Sie machen vorläufig gar nichts mit ihrem Baugeschäft.

Jetzt lacht Pilgramer, bequemt sich zu einer kurzen Rede, im Frühherbst also wären sie mit einer Kutsche in Richtung Westen gefahren. Alt wäre die Kutsche gewesen, trotz des Spritzleders, einer Art Lederkasten, hätten sie erbärmlich gefroren, sie hätten die Pferdebahn nehmen können, aber Straßburger habe Droschken bevorzugt.

Lab denkt, ein Spuk, ein Unsinn, es ist die Leere dieses Zimmers und der Druck, sich doch mal entscheiden zu müssen, aber das Spiel mit Gedanken und Erscheinungen lockt.

Was halten Sie von Berlin, hat eventuell Straßburger gefragt, eine naheliegende Frage, und anstelle Pilgramers antwortet Lab, nichts halte er von Berlin, alles sei abscheulich, krude die Leute, ungebildet, die ganze Stadt wirke auf ihn wie ein Albtraum, wie ein Steinbruch, es wimmle von Militär, jeder Schutzmann komme sich vor wie ein General und habe dem Bürger gegenüber auch die Macht eines Generals, dessen Soldaten eine feindliche Stadt besetzt hielten. Sonderbar wäre nur, daß man sich trotzdem nach ein paar Monaten hier wie zu Hause fühle.

Straßburger nickt, die Stadt wäre nie anders gewesen, hier habe man nie gewohnt, hier sei man verwaltet worden. Wenige Jahrzehnte zurück habe es noch mehr Soldaten, Dienstboten und Huren gegeben als Bürger, sein Urgroßvater sei noch Schutzjude gewesen. Dieses Verhältnis habe den Charakter des Berliners, falls es so etwas je gegeben habe wie den Berliner, geprägt. Dummheit, Rohheit, Angst, vielleicht ändere sich das jetzt, wo die unteren Schichten ein eigenes Bewußtsein entwickelt hätten.

Wahrscheinlich, denkt Lab, ist die Kutsche durch das Brandenburger Tor gerollt, nicht durch die Mitte, sondern durch die Seitenpassage. Dann ist es weiter durch parkähnliche Straßen entlanggegangen. In einer Villa hat ihnen ein Diener die Mäntel abgenommen, sie in ein Zimmer geführt. Lab kann das nicht wissen, er hat nur einen Anhaltspunkt für diesen Vorgang, einen vergilbten Vertrag, von einer Gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaft ist die Rede, deren Teilhaber der alte Herr wurde, Teilhaber auf Grund eines ausgetüftelten Modus. Könnte Lab den alten Herrn zu einer Äußerung bewegen, würde Pilgramer vielleicht sagen, man habe ihn nicht am Geschäft beteiligen wollen, damals, wäre nicht die Lage seiner Grundstücke gewesen, von Straßburger, dem Herrn Baurat vorsorglich mit Blick auf den Bebauungsplan für ihn, Pilgramer, erworben. Jetzt saß die Bande Teilhaber in der Klemme, mußte ihn, Pilgramer, ganz einfach aufnehmen, mußte ihm die Bauaufsicht übertragen, gegen ein anständiges Honorar, mußte ihm weiter ein Vorkaufsrecht einräumen.

Lab kann sich schon vorstellen, daß es zu einem mächtigen Krach gekommen war, Straßburger schließlich entschied. Der war Beamter, hielt die Fäden in der Hand, und er entwickelte vielleicht den Rahmen, in dieser Größenordnung sei noch nie gebaut worden. Die Herren Teilhaber lächelten ratlos, zupften die verblichenen Bärte, das werde ein teures Unternehmen. Straßburger: Die Herren mögen bedenken, daß der junge Mann, ein tüchtiger und fleißiger junger Mann, ein Pfand in der Hand hielt, seine Grundstücke. Man hätte sich nicht mit Ihnen einlassen sollen, Straßburger!

Auf der Rückfahrt, erklärt Pilgramer dem nachdenkenden Lab, wäre dann die Rechnung zwischen ihm und Straßburger beglichen worden. Straßburger hätte gesagt, ein schönes Stück Geld habe ich Ihnen verdient, Ihre Zukunft habe ich soeben teuer verkauft, eine feine Rendite werden Sie mal einheimsen, dann haben Sie den alten Straßburger längst vergessen.

Lab ging ans Fenster. Pilgramer hat damals an den Regierungsbaurat gezahlt, zwanzig, dreiundzwanzig Prozent, für ihn, war es eine kalte Dusche, er zog aus, die Periode in diesem Zimmer endete rasch. Lab fühlte sich plötzlich nicht mehr wohl, er suchte jetzt Entschuldigungen für den alten Herrn. Ein Sumpf, das ist leicht gesagt. Die Verhältnisse, es waren nur die Verhältnisse. Lab verriegelte das Fenster und verließ das Gebäude.

4

Holz meldete sich, und Zebosinski gab ihr ein Zeichen durch das Fenster des Korrektorzimmers. Lisa konnte sich nicht denken, was der Chef vom Dienst von ihr wollte, jetzt, wo die letzte Seite im Schiff stand. Nichts Gutes ahnend, ging sie nach oben zu Holz ins Zimmer. Der dokterte noch an der Seite herum. Böse sagte Lisa, es gehe auf zwölf, aber Holz ließ sich nicht stören, auch wenn die Zeit noch so sehr drängte, nach der Devise, laß dir Zeit, es ist eilig. Holz hatte einen dunklen Schnurrbart zu rötlich schimmernder Glatze, blühend roten Lippen und gesunden weißen Zähnen.

«Du hast wohl kein Zuhause», sagte Lisa patzig.

«Reg dich nicht auf», sagte Holz. «Bist doch Mutterns Beste.»

Die Lampe warf einen runden Fleck auf die Umbruchseite.

Lisa beschloß keinen Krach anzufangen. Ein Krach würde nur bedeuten, daß ihr Holz einen langen Sermon hielt. Holz konnte übrigens auch anordnen, solange er Chef vom Dienst war. Sie nahm ihm die Seite weg. «Ist sonst noch was?»

«Ja, der Denkmalpfleger sitzt nebenan und sieht dein Feuilleton durch, korrekter Mensch, wie es scheint»

Sie täuschte Vergeßlichkeit vor. «Denkmalschützer? Keine Ahnung.» Dann, als dämmere es: «Ach ja, die Häuser in der Oranienburger. Der hatte doch einen Unfall, das Geländer brach, war schon doll, kann ich dir sagen. Ist der wieder gesund? Er hat die Sachen noch mal sehen wollen? Korrekt? Ich weiß nicht, pingelig.»

«Laß ihn nicht zu lange warten», sagte Holz «ich muß weg.»

Sie versprach es. Das paßte ja fein, daß Pilgramer hier war, Holz weg mußte und die Nummer im Sterben lag.

«Hast du noch was», fragte Holz, die allgemeine Frage, bevor man sich verdrückte, wenn nichts vorlag.

«Nach Hause will ich», sagte Lisa, «ich muß morgen früh raus, den Jungen zum Kindergarten bringen. Haben wir wieder um acht Sitzung? Ihr müßt doch spinnen.»

Sie brachte die Korrektur an die Maschine, quittierte das Gemaule des Setzers mit einem Schulterzucken und verschwand erst mal in die Damentoilette. Ihr Gesicht sah grau und abgespannt aus, das rötliche Haar war fettig und nicht locker, wie sie es sich wünschte. Morgen früh mußte sie als Erstes, noch vor der Sitzung, unbedingt zum Frisör. Mit dem Kamm strich sie das Haar glatt und verknotete es hinten. Dann ließ sie kaltes Wasser über das Gesicht laufen, trocknete es ab, rieb es mit Reinigungsöl ein und spülte kalt nach. Sie fühlte, wie sich die Haut straffte. Den Rest erledigte sie mit schwarzen und roten Stiften.

Der Metteur war schon gegangen, die Seite lag fertig da, Lisa wischte ihren Namen darunter, sich ganz auf den Setzer verlassend oder auf Zebosinski. Der kam heraus, als er sie in der Gasse entdeckte.

«Ich muß noch mal rauf, warte nicht auf mich. Ich hab noch was bei Holz zu tun.»

Zebosinski, zu dem sie eine lockere Beziehung unterhielt, für die sie keinen Begriff wußte (das ist doch nichts, der ist ja auch viel zu jung aber ganz nett), hielt sie am Arm fest.

Sie mochte solche Berührung nicht und machte sich energisch los: «Was fällt dir denn ein?»

«Holz ist gegangen.»

Sie fauchte: «Ich hab nicht gesagt, daß ich was mit Holz zu tun habe, sondern bei Holz. Außerdem bin ich dir keine Rechenschaft schuldig, das wollen wir mal klarstellen.»

Sie ärgerte sich auch über sich selbst.

«Gott, bist du dumm, wenn man was will, bricht man doch keinen Streit vom Zaune.»

Im Fahrstuhl holte sie tief Luft. Was kann einen viel beschäftigten Architekten dazu bringen, mitten in der Nacht zwanzig Zeilen zu lesen, die überdies schon besprochen worden sind. Korrektheit? Na schön, aber das hätte bis morgen Zeit gehabt. Mal sehen, vielleicht entspinnt sich doch mal was Vernünftiges.

Tasche schlenkernd betrat sie das Zimmer. Pilgramer saß auf dem Schreibtisch, einen Zeichenblock auf den Knien, und strichelte darauf herum.

«Entschuldigen Sie», sagte Lisa, «ich hatte unten noch mit dem Umbruch zu tun. Haben Sie alles gelesen?»

Er sprang vom Tisch, reichte ihr die Hand. «Alles in Ordnung.»

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