Kitabı oku: «Das Erbe», sayfa 3
An der Rückwand des Zimmers lief eine Holzleiste entlang. Hier spießten die Redakteure abgelesene Seiten auf. Jetzt steckte Pilgramer seine Karikaturen an, eine von Holz, eine von Schelsky, von Koblenz, natürlich auch eine von ihr. Sie lobte alles.
«Also, Herr Stadtarchitekt, ich bin hundemüde. Gehen wir?»
Er nickte und ging ihr voran aus dem Zimmer. Den Fuß zog er unsicher nach. Sie erkundigte sich, ob der Bruch ganz ausgeheilt wäre, und er sagte unbestimmt, ja, krank geschrieben sei er aber noch.
Die Straßen unten waren still, ein paar Autos parkten vor der Redaktion, über den Häusern stand blasser Lichtschein. Sonst war die Nacht dunkel und träge. Während Pilgramer die Wagentür aufschloß, fragte er, wohin er sie bringen solle.
«Für mich lohnt es kaum noch, zu Bett zu gehen, ich muß ganz früh raus, eine Knochenmühle.» Sie stieg ein, fingerte Zigaretten heraus und rauchte.
Er fuhr los. Über die Straße spannte sich die Eisenbahnbrücke, von der eine endlose Leuchtschrift Nachrichten ausstrahlte. Sie waren Stunden alt und überholt. Sie gingen in eine Kneipe, bestellten Weinbrand und Kaffee. Ihre Knie berührten seine, da sie sich an einem der kleinen runden Tische gegenübersaßen. Er wußte nicht, wohin mit den langen Beinen, und streckte sie seitlich aus.
«Wie groß sind Sie eigentlich», fragte Lisa,
«Wie Napoleon.»
«Der war doch wohl klein?»
Er nickte.
Sie fand, er sähe seinem Großvater ähnlich, mit dem länglichen Gesicht, dem dichten, schon ergrauten Haar. Was sie reizte, war die lebhafte, unbekümmerte Art, mit der er sich gab, sie bewunderte alle Leute, die leichter mit dem Leben fertig wurden als sie. Wahrscheinlich war er unpünktlich und unzuverlässig.
Pilgramer sagte: «Ist Ihre Arbeit das Richtige für Sie?»
«Ach wo», sagte sie, «welche Arbeit ist das Richtige für eine Frau? Wir müssen immer gut sein, immer besser als die Männer.»
«Daran ist was Wahres», sagte er, «dazu seh ich aber keine Alternative. Verlangt man den Frauen weniger ab, legen sie das sofort gegen die Männer aus,»
Aus Erfahrung wußte sie, daß ihr dieses Gespräch, einmal begonnen, jeden Charme nehmen würde. Zänkisch würde sie sich die paar Minuten vermiesen, gäbe sie jetzt nicht klein bei. «Na ja, ich bin eine ganz gute Journalistin», erklärte sie verwegen, weil er diese Behauptung nicht nachprüfen konnte.
Das Gespräch lief nun leer, drehte sich eine Zeit lang um belanglose Sachen, es war zu spät, um umzukehren, und zu früh, sich dem anderen zu öffnen. Man hatte sich dreimal gesehen und oberflächlich geredet. Da war es gut, daß der Wirt Feierabend gebot. Pilgramer zahlte und sie gingen.
«Riskieren Sie es zu fahren, wenn Sie getrunken haben?»
«Ich habe den Weinbrand nicht angerührt», sagte er.
Sie mußte sich zufriedengeben, ließ sich nach Hause bringen, verabschiedete sich verdrossen, um eine Hoffnung betrogen, stieg in ihre Wohnung hinauf und beschloß zu baden. Beim Duschen verflog ihre Müdigkeit, und sie bereute, Pilgramer weggeschickt zu haben. Der saß jetzt in seinem Zimmer und hörte Radio, oder er war woandershin gefahren. Sie hockte sich in den Sessel, zog das Telefon heran, zögerte aber, Pilgramer anzurufen. Falls der Anruf schiefging, würde sie eine schlimme Nacht haben. Auch solche geringfügigen Mißerfolge ertrug sie nur schwer. Angestrengt lauschte sie auf das Rufzeichen, entschlossen, einfach aufzulegen, sollte sich der alte Herr melden. Aber Lab meldete sich. Sie brachte es doch nicht schlankweg fertig, ihn zu bitten, zu ihr zu kommen, Händchen halten zwei Uhr nachts, nachdem sie ihn mit dem Schwindel verabschiedet hatte, sie sei elend müde.
«Ich bin hungrig», sagte sie, «und ich hab nichts im Hause, wie finden Sie das?»
«Hungrig auf was», fragte er.
Sie schwieg.
«Schließen Sie unten auf», bat er.
Als sie aufgelegt hatte, schlug ihr Herz laut und unregelmäßig, ihr natürlicher Zustand sozusagen. Sie tat irgendwas, blätterte in einem Buch, ging schnell nach unten und schloß die Tür auf. Noch auf der Treppe hörte sie ein Auto, sie dachte, er wird doch hoffentlich so viel Anstand haben und die Chaise eine Straße weiter parken.
Sie gingen zusammen nach oben. Er fragte, ob sie nun essen wolle, was sie auf den Gedanken brachte, er sei vielleicht doch fischig. Bei den meisten Männern konnte man ja vor Verlangen vergehen, ohne daß die was merkten. Dafür stellten sie Forderungen, wenn einem nicht danach zumute war. Vielleicht war der Lange hier anders, dafür sprach allerdings nicht mehr als ihre Einbildungskraft. Sie schauerte in dem Morgenrock, er bemerkte es und sah sie aufmerksam an.
Während er sich auszog und sie wartend neben ihm stand, verglich sie Lab mit Zebo und den anderen, mit denen sie geschlafen hatte. Es gehörte zur Rolle der Emanzipierten, sich den Partner zu wählen. Lisa wußte, daß sie zum guten Teil markierte. Man ging so leicht auseinander, wie man zusammenkam, durch eine Reihe von Zufällen, und der Partnerwechsel an sich war reizvoll. Lisa hielt sich für eine moderne Frau mit Kind, die sich ihr Leben einrichtete. Ob sie überhaupt mit einem zusammenleben konnte und nicht einem Traum nachhing, bezweifelte sie stark. Nervös, überreizt und sensibel, kam sie auch selten zur Liebeserfüllung. Von allen Zuständen fürchtete sie jedoch den des Alleinseins am meisten.
Er küßte sie, und Lisa fühlte etwas wie Eifersucht auf die andere, die es geben mußte, mit der er zusammenlebte und Kinder hatte. Sie dachte sich in diese Verhältnisse intensiv hinein, obwohl sie wußte, wo er lebte und mit wem.
Sie tat nichts, ließ sich leicht zur Couch ziehen, streifte auf sein Verlangen den Morgenrock ab und legte sich hin. «Wenn ich dich nicht angerufen hätte, wärst du auch gekommen?»
«Wahrscheinlich, aber nicht heute.»
Sie fühlte sich unter Wert behandelt - wahrscheinlich, aber nicht heute - hieß doch, ich wäre nicht gleich mit dir ins Bett gestiegen, aber da du es offenbar nötig hast, also bitte. Sie kannte ihn immerhin ein paar Wochen, drängte sich an ihn und vertagte das Gerede.
Dieses Später war nach einer Viertelstunde.
«Weißt du was? Ich müßte doch eigentlich müde sein, ich bin es aber nicht, ich bin einfach satt, glücklich, aufgekratzt.»
Sie hätte jetzt gern mit ihm über alles Mögliche geredet. Über seine komische Familie, über ihr Kind, ihre Mutter, doch sie verschob die Fragen auf eine bessere Zeit. Sie legte sich in seinen Arm, sah nach unten zu seinen Füßen und stellte fest, daß seine Beine fünf Meter lang sein mußten.
«Nie was von Perspektive gehört?»
«Nein», sagte sie, «doch. - Hast du Schuft deinen klapprigen Rolls Royce wenigstens nicht vor meiner Tür abgestellt?»
«Wegen der Leute?»
«Du», sagte sie ernst, «eines hab ich gelernt in den paar dreißig Jahren meines Lebens, die traurige Masse ernst zu nehmen, die legen einen ganz schnell und so gründlich rein, wie man sich's nicht träumen läßt. Diese Art Ächtung kenne ich, sie hat mir für immer Respekt vor den Müllers und Krauses beigebracht.»
Er schüttelte den Kopf.
«Doch», sagte sie.
«Meinetwegen, vor deinem Haus ist jedenfalls Parkverbot.»
«Außer dir hat das noch keiner gemerkt.» Sie lachte lautlos.
«Bist du geschieden, mehrmals geschieden, wie viel Kinder hast du?»
Sie fragte sich, ob es ihr recht sei, daß er keine Vergangenheit hatte. Das konnte ja auch bedeuten, daß er sich stets vorgesehen, alle mit allen betrogen hatte.
«Fast so schlimm wie eine saubere Kaderakte», bemerkte sie.
«Hör mal», sagte er unvermittelt, «was würdest du denn an meiner Stelle tun, warten auf die Semperoper, die vielleicht nie mehr aufgebaut wird, zu Schelsky gehen und Städte auf dem Meeresgrund ausdenken oder in den Wolken; zu Koblenz? Ich habe einfach keinen vernünftigen Einfall.» Er seufzte. «Ewig geht es so nicht weiter.»
«Darüber sprechen wir mal, wenn ich wieder einigermaßen denken kann.»
Er zog die Decke herauf und deckte sie zu.
«Ich muß unbedingt um halb sechs raus, vergiß es nicht.»
«Ich weck dich schon», sagte er.
5
Der alte Herr deutete auf seinen mit Schreibarbeit überladenen Tisch, ließ sich in dem alten bequemen Sessel nieder und bat den frühen Gast mit einer Handbewegung, auf dem Stuhl neben ihm Platz zu nehmen. Das tat Koblenz, während sich der junge Pilgramer ins Unvermeidliche schickte, in die Küche ging, Weißbrotscheiben röstete und Kaffee kochte.
Im Arbeitszimmer des Seniors konnte man sich kaum drehen. Beide Längsseiten waren mit Regalen vollgestellt, in denen sich Schriftkram, Ordner, Rollen, Bücher türmten. Selbst auf dem Fußboden stapelten sich Bücher. Und der Schreibtisch des alten Herrn nahm ein Drittel des Zimmers ein. Obgleich es nicht gemütlich aussah, fühlte man sich in diesem Zimmer wohl, dank einer genialen, großzügigen Unordnung.
«Ein bißchen eng, nicht?»
«Daran leidet diese ganze Gesellschaft, daß alles ein bißchen zu eng ausfällt», entgegnete der alte Herr, bückte sich und holte aus der Tiefe eines Schreibtischfaches einen Band mit uralten vergilbten Fotos. «Die Artikel Ihres Vaters habe ich seinerzeit mit Vergnügen gelesen», fuhr er fort, «leider sind mir die Bände verbrannt, in denen ich die Zeitschrift sammelte. Ihr Vater war Bankier?»
Der alte Herr warf einen Blick auf das Parteiabzeichen der Einheitspartei am Rock des Doktors, hüstelte unecht und schlug das Album auf.
«Sehen Sie, was ich hier habe, es wird Sie interessieren. Das war im Frühjahr 1904. Auf der heutigen Karl-Marx-Allee. Sie müssen wissen, daß ich ein ziemlich großes Areal im alten Osten erworben hatte. Wir bauten damals in einem Konsortium, das heißt, ich war Teilhaber unter vielen. Allerdings gelang es mir doch, mich so zu setzen, daß ich nicht übers Ohr gehauen werden konnte. Ich bin damals so etwas wie der Oberbauleiter für alle Häuser gewesen, ein junger Mann mit wenig Erfahrung, einen interessanten Vertrag hatte ich auch. Mit meinem Gesamtvermögen hatte ich persönlich zu haften. Manchmal reichte mein Gehalt nicht aus, um alle laufenden Verpflichtungen abzudecken. Zwei Jahre lang habe ich in dieser Baracke gelebt, gearbeitet, geschlafen und gegessen, manchmal auch gehungert.» Er fischte das Foto heraus und zeigte es dem Doktor. «Im Winter stand ich alle zwei Stunden auf, um zu heizen. Einmal fand mich der Polier halb erfroren. Ich hätte Straßburger umbringen können und diese Bande Kommerzienräte, aber ich habe die Zähne zusammengebissen und durchgehalten. Trotzdem war ich schließlich pleite, ich mußte etwas tun.»
«Was haben Sie getan», forschte Koblenz gespannt.
«Ich habe geheiratet, mein Herr», sagte der alte Herr übel gelaunt, «das war damals manchmal der einzige Ausweg, falls man nicht die Kugel in den Kopf vorzog.»
Koblenz blätterte in dem Album, da war ein Foto mit einer Wagenreihe vor der Baugrube, offenbar vor Beginn der Tiefbauarbeiten aufgenommen, überschwere Belgier vor die Wagen geschirrt. Es gab noch keine Bagger und hätte es sie gegeben, würde man sie nicht eingesetzt haben, Menschenkraft war billiger.
«Bei tiefer Grube mußten die Kutscher mitunter sechs Gäule einspannen», erläuterte der alte Herr, «aber die Häuser lagen günstig, an der ersten Bahnlinie nämlich, zwischen Potsdamer Platz und Stralau. Da hatte Straßburger seine Hände im Spiel gehabt. Bauspekulation. Straßburger kannte als Regierungsbaurat natürlich alle Vorhaben, er wußte, wo Bahnen entlanggeführt werden sollten, und nutzte seine Stellung aus, um zu spekulieren, kaufte Grundstücke oder ließ sie durch Strohmänner erwerben. Erwischt wurde er nie, der alte Fuchs. Schön war es nicht, was wir bauten; klein, lichtlos, Einzimmerwohnungen mit Küche, ohne Diele oder Korridor, Kochstuben, Toiletten auf den Treppen, aber Wasserleitungen bis in die Wohnungen hinein. Fortschritt also, Ausdruck eines neuen Gefühls, sozialerer Denkweise - alles Quatsch.» Er beugte sich vor, sah Koblenz an: «Die sozialere Denkweise kam ganz zum Schluß. Vorn, die Fassaden der Häuser, die waren gut, billig, hohl, Bau für den Massenbedarf ist immer hohl, die Zeitgenossen dürfen es nur nicht merken, und die Wohnungen in den Vorderhäusern waren den wohlhabenderen Schichten vorbehalten, Ärzten, Anwälten, die Allee blühte ja dann auch auf.»
Ein ulkiges Bild fand der Doktor, da war ein Brettergerüst aufgeschlagen, eine Art Bühne, geschmückt mit allerhand Grün, ein paar Reihen Leute, Zimmerleute in den schwarzen Samtanzügen, die Maurer in Weiß, andere Männer in Bratenrock und Zylinder, auch ein paar Uniformierte. Seltsam der alte Herr in seinem Kalabreser und einem Cape.
«Baubeginn», erklärte der alte Herr, «so was müssen Sie gesehen haben, die Gewerke in ihren Trachten, die Reimsprüche auf gutes Gelingen, und hinterher der Tanz, nur Männer, junge natürlich und Musik. Es wurde auch gesoffen, aber alles ging doch nach den strengen Regeln des altehrwürdigen Handwerks zu. Sie dürfen nicht vergessen, daß die meisten Handwerker ja vom Lande kamen, na, die Traditionen verloren sich auch bald. Dieses Feiern vor Baubeginn war ganz gut, man lernte sich kennen, Betriebsklima sagt man heute ja wohl, morgen beginnt die schwere Arbeit, das strenge Bauregime, die Leute bekamen ja noch Lohnabzüge für jedes Vergehen, das hatte ich genau gestaffelt, ich habe uns manche Mark dadurch hereingeholt, Herr Doktor. Es kamen auch Tage, wo die tiefe Baugrube zum See wurde, wo jeder Handschlag eine Anstrengung bedeutete, wo die Rampen zu gefährlichen Rutschpartien für Mensch und Tier wurden. Gearbeitet mußte aber werden; und drei Kubikmeter Erde, von Hand bewegt, sind nicht viel, wie Sie sicherlich wissen. Hin und wieder kam nur ein Wagen mit einem Kubikmeter aus der aufgeweichten Grube, und das mit Ach und Krach.»
Dann fand Koblenz eine Menge Bilder von dem alten Herrn, ihm wurde manches klar. Hier formte sich die neue Generation Unternehmer, die harten Burschen, nicht die Unternehmer des rohen Kapitalismus mit verschwommenen patriarchalischen Vorstellungen, sondern die Leute, die den Kampf mit den Gewerkschaften aufnahmen, die ihn sogar suchten, die zäh um jeden Bruchteil eines Pfennigs zu kämpfen verstanden.
Der alte Herr war damals ein junger Bauleiter, die großen bäuerlichen Hände des ehemaligen Maurers, schon nicht mehr grob, waren kraftvoll, sensibel, hatten immer die dünne Brasil zwischen den Fingern. Bartkoteletten in dem braungelben hageren Gesicht, Haar stieß hinten auf den weißen umgelegten Kragen, lang aufgeschossen die Figur. Ein junger, energievoller Kerl, bereit, jede Strapaze auf sich zu nehmen, sich mit Gott und der Welt wegen eines Bankkontos zu schlagen.
Koblenz hätte diesem Bild gern zugestimmt, wäre nicht die Frage nach dem Wofür unbeantwortet geblieben. Es ging doch wohl um Profit. Dieser Straßburger und das Konsortium werden wahrscheinlich heilfroh gewesen sein, einen jungen Kerl gefunden zu haben, der ihnen die Kohlen aus dem Feuer holte, mehr Unternehmer als Architekt, der hoffte, ja worauf? Ein Ingenieur, ein Antibürger?
«Eine Frage hätte ich aber doch», sagte Koblenz, das Album zurückreichend.
«Ich wollte durch Arbeit frei werden», sagte der alte Herr, die Frage vorwegnehmend, «was glauben Sie, wie oft ich schon nach dem Warum gefragt wurde. Mir graute davor, nach Logau zurück zu müssen. Es ging mir wie so vielen damals, ich fühlte mich in dieser trostlosen Stadt mit ihrem großmäuligen Volk und seinem rohen, ätzenden Witz, in dieser Skepsis und Resignation wie zu Hause. Ich war ein Berliner geworden. Alle Städte haben eine Ausstrahlung, Berlin hatte keine, Berlin war Strich, bestenfalls. In streng abgeschlossenen Vierteln wohnten die besitzenden Klassen, aber mir war klar, daß sich diese Struktur nicht erhalten lassen würde. In diese vornehmen Viertel schoben sich jetzt unsere neuen Straßenzüge. Wissen Sie, Berlin glich einem öffentlichen Haus, in das gehen konnte, wer Lust hatte. Drinnen empfing einen schaler Dunst, erwartete einen die Freundschaft von Zuhältern, Dirnen, Junkern und Soldaten, Studenten und Dienstboten. Hier war immer Karneval, Berlin war so leicht zu erobern, daß sich die Eroberung gar nicht lohnte. Man blieb einfach kleben, Berlin machte frech und bequem. Ich kannte doch manche Stadt, aber keine, in der man so leicht Anschluß fand. Man durfte sich die Gesellschaft, in die man geraten war, allerdings nicht näher ansehen. Hier wollte ich nicht mehr weg.»
«Würden Sie Ihrem Enkel raten, nach Theerberg zu gehen», fragte Koblenz.
«Wem kann man schon raten», sagte der alte Herr, «ich kann Ihnen meine Meinung sagen. Lab kommt nach seinem Vater, aber ihm fehlt, was mein Sohn in hohem Maße besaß, Angriffslust. Lab wurde alles zu leicht gemacht. Sie wissen wohl, wovon ich rede. Die Baustellen dürften heute genauso chaotisch sein wie zu meiner Zeit, da kann Lab sich kaum behaupten. Darauf ist er nicht vorbereitet.»
Koblenz schüttelte den Kopf. «Waren Sie vorbereitet?»
«Nein, mit einem wichtigen Unterschied, ich kämpfte, um zu überleben, Lab kann immer zurück, gut bezahlte und leichte Arbeit ist ihm sicher. Verstehen Sie, er gehört zu einer Schicht, die nie dem Wind ausgesetzt worden ist. Fachlich könnte er wohl mitkommen. Soweit ich das noch beurteilen kann, hat er einen sicheren Blick für Architektur. Seine Arbeit kann er auch organisieren»
«Das würde mir erst mal genügen, ich habe Leute mit weniger guten Voraussetzungen auf verantwortungsvollen Stellen»
«Ich sagte seine Arbeit, nicht die anderer Leute, Herr Doktor. - Mein Enkel muß das selbst entscheiden.»
Und Lab entschied, als sie um den Schreibtisch des alten Herrn saßen, Kaffee tranken und Toastbrot mit Butter aßen, als die Frage gestellt wurde, wie seine Antwort denn nun ausfalle. Koblenz war sich bewußt, daß er einem bloßen Gefühl folgte, wenn er den jungen Pilgramer nach Theerberg holte, wenn er ihm mehr zutraute als dem Durchschnitt.
«Wie weit seid ihr denn», fragte der junge Pilgramer, «läuft die erste Turbine schon?» «Wir reisen in diesen Tagen an. Es geht los», sagte Koblenz. «Die Semperoper wird schon seit Jahren wiederaufgebaut, das Institut läuft dir nicht weg, zehn Jahre Praxis auf einer Baustelle, und du hast sicheren Grund unter den Füßen.»
«Das eben ist das Verrückte, nie kann man machen, was man will. Da wird jemand Zootechniker mit der Vorstellung, er werde einmal Elefanten in Afrika vermehren oder Löwen in der Kalahari. Zuletzt züchtet er Schweinen eine neue Rippe an oder erfindet Rinder mit zwei Eutern», Lab.
«Nicht übel», bemerkte Koblenz.
«Also gut, ich versuch es», sagte der junge Pilgramer, «aber nicht Hals über Kopf. Ich muß mich hier erst freimachen.»
«Über Termine können wir immer noch reden», sagte der hartnäckige Doktor erleichtert.
Der alte Herr Pilgramer lächelte skeptisch.
Zweites Kapitel
1
Im Aprillicht erweckte das Terrain die Vorstellung eines großen Buddelkastens, über den ein Panzerangriff hinweggerollt war.
Auf der gesamten Fläche standen weder Baum noch Strauch. Zwischen den von Planierraupen aufgehäuften Erdwällen ragten noch vereinzelt Hausruinen empor; sie erinnerten an das Dorf Theerberg, das sich mit seinen Ausbauten bis hierher erstreckt hatte. Der lehmgelbe Boden zeigte die Abdrücke von Ketten und die Reifenprofile hochachsiger Transportfahrzeuge. Über die Ebene verteilten sich Bagger, Raupen und Kräne.
Menschen gab es, verglichen mit diesem Aufwand an Maschinen, nur wenig, aber die Vorstellung drängte sich auf, daß der Angriff irgendwo strategisch geleitet wurde. Planlos lief das Unternehmen nicht ab. Das Fehlen von Menschen irritierte, ließ Fragen aufkommen. Wozu diente diese Flurbereinigung? Hinzu kamen die Stille und das Fehlen intensiven Sonnenlichtes. Das blasse Aprilwetter mit dem trügerisch glasigen Himmel verhieß Regen oder Graupelschauer. Die Atmosphäre schien wie elektrisch geladen, und es war schwer, die Temperatur zu bestimmen. Von Zeit zu Zeit strich ein eisiger Wind über das Land. Fehlte er, so herrschte eine ermüdende Schwüle.
Begrenzt wurde das Feld von einem flachen Streifen Wald; was sich an den Seiten befinden mochte, verbarg der Frühdunst. Eine Bahnlinie berührte die Ebene. Hin und wieder rollte ein Zug auf den Geleisen in diese oder in die andere Richtung.
Auf einer mit Schlaglöchern übersäten Straße arbeitete sich eine Lastwagenkolonne in Richtung der Ebene vor. Rechts des Weges fiel die Böschung steil ab. Sie gab den Blick auf eine große Geländesenke frei, die von einem breiten Wassergraben durchschnitten wurde. Er erweiterte sich an zwei Stellen seenartig. Längs der Straße standen schiefe Lichtmaste mit durchhängenden Leitungen; etwa auf der Mitte der Senke zweigte ein Fahrweg zur Mülldeponie ab. Diese schob sich zwanzig Meter hoch von der Böschung aus zum Graben vor, sie hatte den Graben fast erreicht.
An den Straßenbäumen lösten sich die Rinden. Darunter glänzte das Holz gelblich wie Elfenbein. Durch dieses Spalier vergifteter Bäume wand sich die Autoschlange. In dem leeren schwarzen Geäst der toten Bäume hockten Tausende von Krähen und Möwen. Über der ganzen Deponie hoben und senkten sich Schwärme krächzender Aasvögel.
Weiter oben, wo der Wind stärker die Luft bewegte, brannte es. Fetter schwarzer Qualm lagerte über der städtischen Mülldeponie. Hinter dem Graben stieg das Gelände wieder an. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, wo die Kippe einmal enden würde. In nicht sehr ferner Zukunft mußte sie den gegenüberliegenden Rand der Senke erreicht haben und diese samt dem Graben zu einer Fläche vereinen. Noch weiter jenseits des Grabens zog sich ein flacher Höhenzug hin mit einem Aussichtsturm, der trotz des Dunstes gut zu erkennen war. Wie zum Hohn hatte sich ein Holzschild erhalten, Naturschutzgebiet, die Eule als Wahrzeichen darüber; es verschwand allmählich unter dem Müll der Zivilisation. Die Luft war mit dem Pesthauch verwesender organischer Stoffe erfüllt. Hin und wieder hatten die Räder der Wagen Ratten erfaßt. Ihre Kadaver bildeten einen schlüpfrigen Belag auf der Straße.
Dicht gedrängt saßen die Männer auf den Pritschen der Lastwagen. Einige rauchten und warfen die Kippen durch die hinten geöffnete Plane. Mit großem Sicherheitsabstand quälten sich die Wagen durch die Schlaglöcher. Es wäre zwecklos gewesen, den Aufbrüchen auszuweichen. Schon der Versuch führte die Wagen in ein anderes Loch, das vielleicht noch schlimmer war. Die Fahrer, die den Weg schon kannten, fuhren mit niedrigen Gängen. Ihre Hände umklammerten die Lenkräder, bereit herunter- oder heraufzuschalten.
Nicht alle Wagen transportierten Menschen, sogar die Mehrzahl nicht. Der größte Teil war mit Zelten und Ausrüstungsgegenständen beladen. Auf einem, am Schluß der Kolonne fahrenden, Tieflader war ein Kran festgekeilt. Das gelbe Warnlicht, das auf dem Dach des Transportfahrzeuges rotierte, zeigte auch das Ende der Kolonne an.
Nur schwer kam die Vorausabteilung voran. Der an der Spitze rollende Personenwagen, der leichter bewegt werden konnte, hielt alle Augenblicke an dem abschüssigen Rand der Deponie, um die Kolonne aufrücken zu lassen. Ein letztes Mal hielt der Pkw am Ende der Müllkippe. Von dort führte die Straße weiter über eine Brücke, hinter der sich die wuchtigen Tore einer alten Schleuse befanden, ins Dorf. Es war kein großes Dorf. Neben der Schleuse stand ein Gasthof, der folgerichtig «Zur Schleuse» hieß.
Die Leute in dem Pkw ließen die übrigen Fahrzeuge herankommen. Dann wies jemand die Lkws ein. Sie verließen die Straße und rollten auf einen ziemlich großen Parkplatz um sich in fast militärischer Ordnung nebeneinander aufzureihen. Als die Männer in den Gastraum gingen, begann es zu regnen.
2
Fünfzehn Menschen verteilten sich an die für sie reservierten Tische. Mindestens zwei Wochen lang sollten die Leute der Vorausabteilung in den Gästezimmern der «Schleuse» wohnen. Noch war unklar, ob sie dann in Zelte übersiedelten oder in eine der Baracken. Gallas vermutete, daß der vorhandene Platz in den Baracken kaum für die Stäbe reichen würde. Auch in einer anderen Runde als unter Bauarbeitern wäre der vierunddreißigjährige Gallas aufgefallen, ein entschlossener Alleingänger, widersprüchlich bis in die Fingerspitzen. Es gab nur wenige, denen Gallas nicht mißtraute, und noch weniger, die er nicht angegriffen hatte. Gallas, grauäugig, mit kurz geschnittenem, fast blondem Haar, ließ nie einen Zweifel an seiner Unfehlbarkeit zu. Er war der geborene Herausforderer; wenn er nachdachte, kniff er die Augenlider zusammen und hob die Mundwinkel leicht an. Deshalb erschien er ewig im Zorn, und dieser starken, nach außen gerichteten Natur entsprach auch sein Körper. Gallas war wie geschaffen für Strapazen. Er suchte sie beinahe.
Die Ankunft im Dorf besserte seine Laune nicht gerade. Jetzt hätte er einen gebraucht, an dem er sich reiben konnte, aber erstens waren die anderen mit Essen beschäftigt, und zweitens kannten sie ihn. Um einer Kleinigkeit willen mit Gallas in Streit zu geraten lohnte nicht, der würde den Krach bis auf die Spitze treiben. Gallas schob die Suppe beiseite und zog sich das Hauptgericht heran, Fleisch und junge Erbsen. An dem Essen war nichts auszusetzen, und so schwieg er.
Sie würden für Monate in der «Schleuse» essen, und aus Erfahrung setzten sie keine hohen Erwartungen in die Küche der «Schleuse». Später würde in der Kantine gekocht werden, was unter Umständen nicht besser war.
Weichand, der älteste in der Vorausabteilung, fünfzig vielleicht, ein fleischiger Mann, der an Freßsucht litt, zog seinen Rucksack heran, öffnete ihn und entnahm ihm ein Eßbesteck. Außerdem legte er ein kleines Weißbrot heraus, das noch nicht angeschnitten war. Er brach es in der Mitte wie ein Stück Holz und begann genußreich Suppe und Brot zu essen.
Verdrossen über die Ruhe Weichands, nervös vom Stillsitzen und der Tatsache, daß nichts geschah, sagte Gallas: «Wetten, daß der Dicke das ganze Brot auffrißt?»
Friedlich grinsend aß Weichand weiter, sein Bauch stieß gegen die Tischkante. Er schob den Stuhl zurück und setzte sich bequemer.
«Den bring mal aus der Ruhe», brummte Gallas.
«Laß ihn in Frieden», sagte Fouché. «Die könnten uns unsere Zimmerschlüssel geben. Ich will mich hinhauen, heute spielt sich ja doch nichts mehr ab.»
Fouché kannte Gallas von anderen Baustellen. Fouché saß steif auf seinem Stuhl und hob den Löffel an den Mund, als müsse er die Suppe schluckweise prüfen. Er sprach altmärkische Mundart, G wie J: «Sieh mal, Jallas, die janze Jejend is een Dreck.»
Kachulla, der beste Beobachter in der Gallas-Gruppe, hatte daraus einen Spitznamen für Fouché geformt, Jewiejot. Gerufen wurde Fouché meist Futsch.
Alles Aufziehen ließ Fouché indessen kühl. In dieser Gruppe galt er als der erste Mann nach Gallas. Übrigens hielt er selbst viel von sich und auf sich. Sein Geld trug er in Exquisitläden, von deren Kleiderständern er sich sein Aussehen borgte. Was unnötig war, denn Fouché, jung, schwarzbärtig, wirkte auf Frauen und pflegte eine philosophische Veranlagung: «Sieh mal, Jallas, wie eener arbeitet, das siehste meistens daran, wie er anjezojen jeht.» Er hob den Zeigefinger bis in Augenhöhe.
Gallas schob die Hand Fouchés weg und sagte nachsichtig: «Leck mich mit deinen Theorien, euch bring ich schon auf Trab, meinetwegen nackt.»
Kachulla sperrte, lautlos lachend, seinen Rachen auf: «Galli-Galli.»
Kachulla war ein kleiner fuchsartiger Mann, der sich ständig umsah, als erwarte er einen überraschenden Angriff. In seinem spitzen Gesicht lagen braune Augen dicht beieinander. Mit Kachulla gab es oft Ärger, ein unbeständiger Charakter, der sie schon einmal verlassen hatte, um freilich bald wiederzukommen. Kachulla hatte wegen eines Totschlages gesessen. Er genierte sich wegen seiner Gefängnisstrafe und antwortete, nach den Gründen befragt, mürrisch: «Wegen Alkohol.»
Mit Ausnahme Weichands standen die Männer an diesem Tisch ungefähr im gleichen Alter, und Gallas sagte sich, daß diese Gruppe wahrscheinlich den Kern bilden werde. Er empfand etwas wie freundliche Nachsicht gegenüber den anderen und rätselte beim Essen darüber, wie er sie einsetzen würde. Er hätte sie aufteilen können, zur Aufmunterung für die Schlappschwänze und Marschhinker. Das wäre die eine Möglichkeit gewesen, aber Gallas, der sich selbst und andere mit den Worten: «Na los, dalli, dalli» in Atem hielt, woraus der findige Kachulla galli-galli gemacht hatte, dachte weiter. Sie stellen hier die Elite dar. Der Gallas-Clan bestimmte die Norm, die durchschnittliche Höhe des Einkommens. Sie galten als Querköpfe, standen auf keiner Bestenliste, aber sie wurden dringend gebraucht. Alle Gallas-Leute arbeiteten ungewöhnlich gut, nach alten Vorstellungen von Qualität. Das machte sie bei manchen Bauten unentbehrlich. Sie wußten von ihrem Ruf und von seiner Kehrseite; daß sie nie genannt wurden, machte ihnen nichts aus. Dieser Trupp hatte eine Geschichte und ein großes Selbstbewußtsein.
Als Gallas jetzt die Möglichkeit andeutete, sie aufzuteilen - eine Frage, nichts weiter, zumindest für Gallas -, sprang ihn Fouché an: «Du hast sie wohl nicht alle? Denkst du, ich bin hier zum Spaß? Soll jeder sehen, wo er bleibt.»
«Immer sachte.» Innerlich stimmte Gallas Fouché zu. Es ging natürlich um Geld. Denn weshalb drückte man sich draußen in Dreck und Speck herum, während die Arschlöcher sich in den Büros die Hände an der Heizung wärmten? Na also.
An den übrigen Tischen herrschte Schweigen. Es wurde gegessen. Dann bestellten die Leute Bier und Schnäpse. Alle blieben sitzen, in Erwartung, wie sich der Rest des Tages gestalten würde.
3
Obgleich ihnen in der «Schleuse» sechs Tische vorbehalten waren, hatten die Männer nur vier davon besetzt. Zwei Vierertische waren zusammengeschoben worden, so daß jetzt acht Mann zusammensitzen konnten. An dem dritten Tisch saßen die restlichen drei der fünfzehn. Was auf den ersten Blick wie zufällig aussah, war der Anfang eines Zusammengehörigkeitsgefühls, oder anders ausgedrückt, der Cliquenbildung. Die Männer kannten sich noch nicht gut genug. Freundschaften bestanden noch nicht, aber instinktiv nickten die am Achtertisch zusammen, spürend, daß sie sich irgendwie ähnelten.