Kitabı oku: «Hema - Das Herz einer indischen Löwin», sayfa 4

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Auffangstation in seelischer Not

An diesem Freitag erwachte ich bereits mit starkem Schwindel und Übelkeit. Ich riss mich zusammen und versuchte, die Kinder zu wecken und anzuziehen. Das Meiste davon erledigte ich mit geschlossenen Augen. Wir konnten mit der Krippe vereinbaren, dass mein Mann die Kinder morgens auf dem Weg zu Arbeit bereits bringen durfte und abends auch wieder holen. Das, obwohl wir immer noch in der Eingewöhnungsphase waren und die Kinder somit eigentlich erst ein paar Stunden in der neuen Krippe sein durften. Deshalb musste ich der Krippenleiterin mitteilen, dass ich aktuell leider nicht in der Lage war, das alleine zu meistern, und ich morgens um halb acht auch noch niemanden um Hilfe bitten konnte. Ich war froh, dass diese Vereinbarung so klappte, und dankbar dafür, dass meine Kinder sich so toll in der neuen Krippe machten, sodass das überhaupt möglich war.

Nachdem Dave und die Kinder aus dem Haus waren, machte ich mir einen Kaffee und ging in den Garten, um eine Zigarette zu rauchen. Ich wollte mich hinsetzen, doch ich konnte nicht. Ich stand mit meiner Tasse Kaffee in der Hand und der glimmenden Zigarette in meinem Mund also nur da und schaute auf die Sitzfläche des silbernen Gartenstuhles nieder. Ich konnte mich einfach nicht hinsetzen. Also begann ich wieder herumzutigern, die Platten auf und ab zu gehen, in die Wohnung hinein und wieder in den Garten hinaus. Der Schwindel war stark, aber ich wollte mich weder hinsetzen noch hinlegen. Ich war nervös. Auf einmal merkte ich, dass ich mich hier gar nicht mehr sicher fühlte. Obschon ich die Kinder nicht bei mir hatte, für diese ich jetzt hätte sorgen müssen. Es reichte mir auch nicht mehr, dass mein Mann abends jeweils da war, denn auch er konnte mir nicht helfen. Mein eigenes zu Hause gab mir nicht mehr genügend Sicherheit. Ich musste weg, meinetwillen, aber auch meiner Familie wegen. Es war kein Zustand mehr, wenn ich da war, und trotzdem nicht wirklich hier war. So konnte mich niemand gebrauchen und so wollte mich wahrscheinlich auch niemand mehr. Am allerwenigstens wahrscheinlich meine Familie, die auf mich zählen wollte, aber es nicht mehr konnte. Ich kannte zwar mittlerweile diese Gefühle, diese Anspannung in mir, und auch die Brust begann wieder stark zu schmerzen und alle dreißig Minuten kam wellenartig eine gewaltige Nervosität über mich. Ich war ein Häufchen Elend, jeder noch so zarte Windstoß hätte mich sofort umgefegt. So konnte es nicht weitergehen.

Also kontaktierte ich bereits früh morgens meine Bezugsperson von der Psychiatrischen Spitex. Natürlich würde sie noch nicht im Büro sein und wenn ja, dann würde sie bestimmt noch nicht ihre Emails lesen, geschweige denn bereits beantworten. Das war mir bewusst und dennoch musste ich alle zwei Minuten prüfen, ob ich eine neue Nachricht im Emailpostfach hatte. Zehn Minuten später bekam ich tatsächlich schon eine Antwort. Wir vereinbarten, miteinander zu telefonieren. Ich rief sie an und weinte dabei wie ein kleines Kind, am Ende jedes Vertrauens in mich selber. Ich fühlte mich hilflos und hatte wenig Hoffnung, dass mir noch jemand helfen konnte. Sie bestätigte mir, dass es so nicht weitergehen konnte, und versprach, etwas abzuklären und mich wieder zurückzurufen. In diesen zwanzig Minuten tigerte ich wieder in unserer Wohnung herum. Als das Telefon wieder klingelte und sich die Spitex wieder meldete, erfuhr ich, dass sie mir einen Platz in einer Auffangstation organisieren konnte. Sie erklärte mir, dass man dort in einer Notfallsituation für ein paar Tage hingehen kann, und es dort Ärzte gibt, die vierundzwanzig Stunden am Tag helfen können. Es ging also nicht um einen Ort, an den man besitzerlose oder verletzte Tiere hinbringen konnte, sondern um einen Ort, den man aufsuchen konnte, wenn man akute Hilfeleistung benötigte. Obwohl ich mich durchaus auch verletzt und einsam fühlte. Den offiziellen Namen der Institution darf ich hier, wie schon im Vorwort erwähnt, aus rechtlichen Gründen nicht nennen. Es war der richtige Ort für akute Hilfeleistung. Einerseits war ich sehr froh, andererseits hatte ich keine Ahnung, was da auf mich zukam und worauf ich mich da einließ. Ich rief meine Mutter an und informierte sie, schrieb meinem Mann ein Email ins Büro und versuchte, die Schuldgefühle, die hochkamen, weil ich abends nicht zu Hause sein würde, wenn die Kinder kamen, zu verdrängen. Was sollte mein Mann ihnen sagen, wo ich war? Ich wusste keine Antwort und auch nicht, was ich ihm dafür hätte raten können. Ich war aufgewühlt und damit ich mich ablenken konnte, startete ich den Laptop und versuchte die Rechnungen zu bezahlen. Es war Ende des Monats und ich wusste nicht, was es genau hieß, wenn ich für ein paar Tage in dieser Auffangstation war. Handelte es sich dabei um ein paar Stunden, Tage oder gar Wochen? Bei uns zu Hause kümmerte ich mich um alle finanziellen Angelegenheiten, um Versicherungen und die Hypothek, um die Krankenkasse und die Krippenbeiträge. Das war schon immer so und ich tat es auch gerne. Außerdem wollte ich stets wissen, wie unsere finanzielle Lage aussah, und mich bewusst selber darum kümmern. Erst danach holte ich den Koffer aus dem Keller und packte die nötigsten Sachen ein. Normalerweise hätte ich eine Packliste geschrieben. Aber es waren keine Ferien. Und ich wusste nicht, was ich dort alles brauchte und wie viel davon. Ich warf alles hinein, was mir gerade in die Hände kam. Dazwischen ging ich mehrmals eine Zigarette rauchen, weil ich mich nicht länger als einige kurze Minuten auf das Packen konzentrieren konnte.

Eigentlich hatte ich am Nachmittag mit einer engen Freundin ein Treffen abgemacht. Wir wollten ein bisschen plaudern und allenfalls frischen Margarita mixen, so wie wir es schon viele Nachmittage diesen Sommer zusammen genossen hatten. Ich schrieb Bianca eine WhatsApp-Nachricht und vor allem, wie leid es mir tat, weil sie sich extra den Nachmittag im Büro frei genommen hatte und wir uns schon lange darauf gefreut hatten. Bianca und ich kannten uns seit zwei Jahren, mittlerweile war unsere Freundschaft sehr gut und sehr eng. Sie war mir wahnsinnig wichtig und half mir auch in den letzten Wochen immer wieder. Sie war für mich da, hatte eingekauft, weil ich es nicht schaffte mit beiden Kindern in den Laden zu gehen, und sie hatte sich auch sofort um Lilly gekümmert, als ich im Februar mit Wehen ins Spital musste und Leon zur Welt kam. Bianca war jederzeit und sofort für mich da, wenn ich sie brauchte und ich hatte sie unglaublich gerne. Und bei ihr wusste ich auch, dass ich ihr keine saubere und ordentliche Wohnung präsentieren musste und, dass ich weder top gestylt noch in frisch gewaschenem Haar vor ihr stehen musste. Bei und mit Bianca durfte ich einfach sein, wie und wer ich war. Das war ehrliche Freundschaft und Vertrauen. Manchmal konnte einem eine Person in kurzer Zeit dieses besondere Gefühl geben, was eine andere Person in vielen Jahren nicht konnte. Zeit bedeutete also nichts, Charakter alles. Bianca antwortete direkt, dass sie mich am Nachmittag in diese Auffangstation (nachfolgend nur noch kurz AFS genannt) fahren würde. Ich war ihr sehr dankbar. Dankbar, dass sie so viel Verständnis hatte und mir einmal mehr sofort half. Denn bis dahin wusste ich noch gar nicht, wie ich überhaupt alleine dorthin gekommen wäre. Ich hatte Angst, mich ins Auto zu setzten beziehungsweise den Bus oder den Zug zu nehmen. Eigentlich hatte ich schon beim Gedanken, das Haus überhaupt zu verlassen, Panik. Dennoch plagte es mich wieder sehr, dass ich jemanden brauchte, der mir half und für mich etwas tun musste, weil ich im Moment nicht dazu fähig war.

Die Autofahrt war anstrengend für mich. Ich war nervös und fragte mich ständig, ob ich aussteigen müsste. Weshalb, wusste ich gar nicht. Vielleicht, um mehr Luft zu bekommen. Und das, obwohl wir bereits mit offenen Fenstern fuhren, da ich Bianca darum gebeten hatte. Wir sprachen nicht viel und ich konzentrierte mich die ganze Zeit darauf, keine Panikattacke zu bekommen. Es war wirklich ermüdend.

Die AFS war nicht allzu weit weg und gehörte einer Klinik an. Langsam stieg ich die wenigen steinigen Stufen zur Haustüre hinauf und blieb an Ort und Stelle stehen. Im ersten Moment konnte ich gar nicht klingeln. Ich starrte die Beschriftung auf der Glastüre an. So weit war es also gekommen. Jetzt war ich auch eine von denen. Eine von denjenigen Personen, deren Verstand nicht mehr normal war, die nicht klar im Kopf waren und über die man sich lustig machte und die man von Weitem angewidert anstarrte. Ein Psycho, so dachte ich. Es war Wut, Enttäuschung und vor allem große Scham, die ich verspürte. In meinem bisherigen Leben gab es selten Momente, in denen ich mich geschämt hatte, weil ich meistens dazu stand, wer ich war oder was ich tat. Zudem sorgte ich meistens dafür, dass es gar nicht erst zu einer solchen Situation kam, in welcher ich mich hätte schämen müssen. Doch heute war es so weit. Ich schämte mich wahnsinnig. Ich hatte die Kontrolle verloren. Über mich, meinen Körper und mein eigenes Leben. Diese Wahrnehmung machte mir große Angst. Ich wusste nicht, wie weit es noch kommen würde und was das alles überhaupt bedeutete. Wie lange musste ich hier bleiben? Wann war endlich alles wieder normal? Wann war ich wieder normal? Ich musste doch endlich wieder funktionieren können, schließlich hatte ich zu Hause zwei kleine Kinder und einen Mann, die mich brauchten. Funktionieren, das wollte ich wieder. Ich durfte das alles auch niemandem erzählen, kein Mensch durfte jemals davon erfahren. Außer allenfalls mein Arbeitgeber, denn nächste Woche hätte ich wieder bei der Arbeit begonnen. Mein Mutterschaftsurlaub war zu Ende. Aber bis dahin wollte ich sowieso wieder fit sein. Also war die Chance groß, dass doch niemand, auch mein Team im Büro nicht, davon erfahren würde.

Ich klingelte und Bianca begleitete mich hinein. Nachdem uns eine Frau begrüßt hatte, wurde mir ein Formular und ein Kugelschreiber in die Hand gedrückt. Es ging hauptsächlich um die Personalien, wer mein Hausarzt und meine Bezugsperson waren und wer mich hierher verwiesen hatte. Bevor ich zum Eintrittsgespräch mit der Pflegefachfrau und dem Arzt gebeten wurde, verabschiedete ich mich von Bianca. Als ich sie umarmte und sie fest an mich drückte, fühlte ich mich wie in einer Filmsequenz von Shutter Island mit Leonardo DiCaprio. Dort war die Psychiatrie eine Festung auf einer verlassenen Insel, aus welcher er nicht mehr herausfand und dabei seinen Verstand verlor. Und genau eine solche Horrorvorstellung hatte ich von einer Psychiatrie. Dass man mir Medikamente verabreichen würde, die ich nicht nehmen wollte, die mich und meinen Verstand wahnsinnig machten und ich nie wieder nach Hause gehen könnte. Ich war mir in diesem Moment nicht sicher, ob ich jeweils wieder frei sein würde. Ich fühlte mich gefangen. Gefangen in allem. Und die Ketten um mich herum waren eng um meinen Körper geschlungen, sodass ich fast keine Luft bekam, und so schwer, dass ihr Gewicht mich beinahe erdrückte. Und das Schlimmste daran war die Vorstellung, dass es kein Schloss dazu gab, um die Ketten jemals wieder zu lösen.

Das Eintrittsgespräch dauerte ungefähr eine Stunde und ich weinte beinahe die ganze Zeit. Ich erzählte, wie ich mich fühlte, davon, wie erschöpft ich von allem war, dass ich spürte, dass ich nicht glücklich war, und von meinen neuen und plötzlichen Angst- und Panikzuständen. Mittlerweile konnte ich es nicht mehr leugnen. Es war, wie es war. Zu oft hatte ich diese Zustände in den letzten drei Wochen erlebt. Alles, was ich wollte, war endlich eine Erklärung und eine Lösung dafür. Ich wollte wissen, wann endlich alles wieder normal war. Ich hatte fast keine Geduld mehr. Frau Wieser war Pflegefachfrau und meine Bezugsperson während meines Aufenthaltes hier und Herr Amann, der vorwiegend das Gespräch führte, war der Assistenzarzt. Er stellte viele Fragen und seine Stimme war sehr beruhigend, sodass ich mich gegen Ende des Gesprächs sogar wieder etwas beruhigen konnte. Ich sagte auch, dass ich noch nicht wüsste, wie es weiter gehen würde mit den Kindern. Mein Mann hatte nächste Woche Ferien. Ferien, welche wir gemeinsam als Familie genießen wollten. Daraus würde wahrscheinlich nichts mehr werden, zumindest für mich nicht. Und ich wusste nicht, ob mein Mann das alleine mit beiden Kindern hinbekommen würde. Ich wusste nicht mal, ob ich noch genügend Babybrei zubereitet und eingefroren hatte und ob wir noch genügend Windeln hatten, bis ich wieder zu Hause war und einkaufen konnte. Falls ich länger als eine Woche hier bleiben musste, was jedoch selten der Fall war, da man für gewöhnlich höchstens sieben Tage hier sein durfte und dann eine Anschlusslösung finden musste, musste ich also einen Plan für die Kinderbetreuung herbeizaubern. Und ich hatte keine Ahnung, wie dieser Plan hätte aussehen sollen. Wir hatten niemanden im näheren Umfeld, der sich so intensiv um die Kinder hätte kümmern können. Herr Amann antwortete mir, dass ich mir gar noch nicht so viele Gedanken dazu machen musste und wir auch nicht morgen oder übermorgen eine Lösung für irgendetwas bräuchten. Wichtig war, zuerst einmal zur Ruhe zu kommen und mich etwas zu entspannen. Sie würden mir jederzeit helfen, egal was ich bräuchte, und sie seien vierundzwanzig Stunden vor Ort für mich da. Diese Information beruhigte mich tatsächlich etwas.

4.1 Teufelsthema Medikamente

Was mich wiederum nervöser machte, war wieder einmal das Thema Medikamente. Herr Amann empfahl mir das bereits bekannte Temesta. Ich war sehr angespannt, was er auch sofort registrierte. Vor allem, als er mich fachmännisch informierte, dass dieses Medikament zwar bei den meisten Panik- und Angstpatienten verschrieben würde, aber, dass es ein Medikament mit sehr hohem Suchtpotenzial war, wurde die Nervosität noch größer und ich bekam feuchte Hände. Wenn man Temesta über zwei Wochen hinweg regelmäßig einnahm, war man bereits abhängig davon und das Absetzen danach konnte somit wiederum Probleme bereiten. Man müsste es dann einfach sehr langsam ausschleichen, was so viel hieß wie, dass man die Dosierung kontrolliert mit einem Arzt immer wieder weiter reduzieren müsste. Temesta ist ein Arzneistoff aus der Gruppe der Benzodiazepine. Valium wird auch dieser Medikamentengruppe zugeteilt. Es besitzt eine sedierende, hypnotische und muskelrelaxierende Wirkung. Dass das sehr wohl so ist, hatte ich ja bereits selber erlebt. Und ich war danach wie im Koma, nicht mehr ansprechbar, sah teilweise alles vernebelt und war kurz darauf im Tiefschlaf und bekam nichts mehr mit. Und davon abhängig zu werden, wollte ich auf keinen Fall riskieren. Herr Amann machte sich vor allem um mein Gewicht Sorgen. Ich hatte die letzten Wochen sehr viel abgenommen, weil es mir so schlecht ging und ich praktisch gar nichts mehr essen konnte. Frau Wieser versuchte mir zu sagen, dass ich mich mit der Aussage, dass ich endlich etwas essen müsste, selber nicht unter Druck setzen dürfte. Ich sollte akzeptieren, dass mein Körper es im Moment einfach nicht wollte. Sie machte mir den Vorschlag, dass ich es bei jeder Mahlzeit mit einer Gabel, also einem Bissen, versuchen könnte und das dann irgendwann steigern. Einen Bissen zu essen, war für mich momentan jedoch unvorstellbar. Ich brachte gar nichts hinunter. Und mittlerweile war ich sicher, dass die starken Magenschmerzen langsam auch davon kamen, weil mein Magen so leer war. Herr Amann runzelte besorgt die Stirn und meinte, dass bei meinem geringen Körpergewicht es sehr schwierig sei, eine richtige Dosierung mit einem Medikament zu finden. Medikamente müsste man einstellen, und ihnen immer wieder Zeit geben, um die Nebenwirkungen festzustellen und auf diese wiederum zu reagieren. Ich war müde und es war anstrengend, alle diese Informationen aufzunehmen und diese auch noch zu verstehen. Und dann verlangte man von mir noch die Fähigkeit, zu entscheiden, womit ich am ehesten einverstanden wäre. Schlussendlich konnte ich mich überwinden, es abends vor dem Einschlafen mit 50 mg Trittico zu versuchen, das entsprach einer Tablette. Trittico ist zwar auch ein Psychopharmakon, es ist aber auch ein Antidepressivum und wirkt mit seinem Ausschuss von Melatonin schlafanstoßend. Aufgrund seiner ebenfalls sedierenden und antidepressiven Wirkung wird Trazodon zur Behandlung von Schlafstörungen und Depressionen verschrieben. Wichtig war, dass ich das Trittico ungefähr eine Stunde vor dem Schlafen mit etwas Wasser einnahm. Damit würde ich etwas ruhiger werden und so besser einschlafen können, sagte man mir. Ob ich Gedankenkreisen hätte, wollte Herr Amann noch wissen. Ich verstand nicht einmal, was er damit genau meinte. Ja, ich hatte unendlich viele Gedanken, der eine Gedanke jagte und überholte den nächsten, sodass ich manchmal nicht mehr wusste, was ich alles denken sollte. Das war wohl damit gemeint. Ich war sogar bereit, morgens das Citalopram zu versuchen. Das ist ein Arzneistoff aus der Gruppe der selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer und wird als Antidepressivum ebenfalls in der Behandlung von Depressionen eingesetzt. Herr Amann erklärte mir, dass Serotonin unser Glückshormon ist, und diesen Hormonspiegel, wie er es bezeichnete, müssten wir bei mir wieder hochfahren und stabilisieren. Wir vereinbarten, gleich morgen früh zu Beginn mit einer halben Tablette zu starten.

Nun begann ich wieder zu weinen, ich war unglaublich erschöpft. Das viele Fachwissen prasselte auf mich ein und die schreckliche Tatsache, dass ich nun doch solche Medikamente nehmen würde, hinderte mich irgendwie daran, einen weiteren klaren Gedanken fassen zu können. Herr Amann beendete das Gespräch sofort, als er merkte, dass es für mich zu viel war. Wenn mehr Menschen solch feinfühlige Antennen wie Herr Amann hätten, wäre doch einiges leichter, dachte ich mir.

Nun durfte ich mein Zimmer beziehen. Ich war sehr erleichtert, dass es ein Einzelzimmer war, und weil ich auch in dieser schrecklichen Situation noch perfekt sein wollte, soweit es eben möglich war, packte ich meinen Koffer aus und verstaute alles schön in die Schubladen des großen Holzschranks und sortierte die Toilettenartikel im Spiegelschrank über dem Lavabo. Wie in den Ferien im Hotelzimmer. Nur mit dem Unterschied, dass es keine Ferien waren und es auch kein Hotelzimmer gab.

Danach machte ich ein paar Fotos vom Zimmer. Keine Ahnung, warum, denn ich wollte sie eigentlich gar niemandem senden. Ich wollte sie mir auch nicht anschauen. Ich tat es nur, weil ich das immer tat. Ich fotografierte alles. Meistens die Kinder oder Dinge für die Kinder. Ich verkroch mich in das kleine Bett und weinte wieder. Ich weinte vor Erschöpfung und weil ich gedanklich nicht mehr damit nachkam, was hier alles passierte. Ich verstand nicht mehr, was mit mir und um mich herum geschah. Ich fühlte mich winzig, klein und kraftlos. Diese Situation aushalten zu müssen, war beinahe unerträglich. Mir tat alles weh, aber ich konnte nicht sagen, was oder wo es mir weh tat. War es wieder der Magen oder der Bauch? War es der Rücken? Aber es war nicht ein bestimmter Körperteil oder eine bestimmte Körperregion, den oder die ich hätte benennen können. Es war ein anderer Schmerz und er tat höllisch weh. Ich hatte keine Energie, um mich abzulenken. Ich wollte niemandem eine Nachricht schreiben, keinen anrufen und auch niemanden sehen. Ich wollte einfach nur alleine sein und schlafen. Denn wenn ich schlief, dann hatte ich alle diese Gedanken und Gefühle nicht, dann kam keine Panikattacke, nichts konnte mir Angst machen und mich gefangenhalten. Die Gedanken jagten wieder in meinem Kopf herum. Ich stellte mir die Regenbogenstrecke bei Mario Kart auf Nintendo Wii vor und die Fahrzeuge waren in dieser Vorstellung meine Gedanken. Es leuchtete grell, zuckte, blitzte und donnerte, die Gedanken rutschten auf Bananenschalen aus und überholten sich gegenseitig. Ich konnte die Musik dazu förmlich in meinem Schädel trillern hören, aber dieses Mal war es nicht amüsant. Ich drückte mir die Ohren zu und hoffte, dass es dann aufhören würde und ich mich endlich ausruhen konnte. Nichts von Alldem geschah. Ich fand keine Ruhe. Ich lag da und weinte mehrere Stunden für mich alleine.

Irgendwann klopfte es an der Zimmertüre und Herr Amman teilte mir mit, dass es jetzt Abendessen gäbe. Benommen blickte ich auf mein Handy, ich weinte ganze drei Stunden. Wie war so etwas überhaupt möglich, konnten einem die Tränen denn nie ausgehen? Wenn ich wollte, könnte ich die Idee mit dem einen Bissen beim Essen versuchen, meinte er. Und wenn es nicht klappen würde, dann wäre es auch in Ordnung. Dann könnte ich es einfach morgen beim Frühstück wieder versuchen. Lustlos schleppte ich mich hinunter ins Wohnzimmer. Das Haus war alt, aber wie mir auffiel, ziemlich wohnlich eingerichtet. Ich war froh, dass es so war und nicht wie befürchtet steril und weiß wie in einer Klinik. Zumindest stellte ich es mir dort so vor. Es gab eine große Küche mit einem Kühlschrank, der von allen benutzt werden durfte, und eine große Kaffeemaschine, was für mich als Kaffeegenießerin sehr wichtig war. Im Wohnzimmer standen Sofas, ein Fernseher mit einem DVD-Gerät, ein Bücherregal und einige Tische mit Stühlen. Irgendwo im Haus gab es noch einen Raum für Kunst- und Maltherapie. Ich wusste nicht, was das genau sein sollte, ich wusste nur, dass dieser Raum existierte, weil Frau Wieser mir das erzählt hatte, als sie mir mit dem Koffer die Treppe hoch half. Im Keller gab es noch eine Waschmaschine und einen Tumbler. Ich schöpfte mir ein bisschen Salat und zwei Löffel Penne mit Pestosauce. Es roch gut und erst jetzt bemerkte ich, welch großen Hunger ich eigentlich verspürte. Mein Magen knurrte sogar. Gegessen hatte ich schlussendlich ein einziges Salatblatt, nämlich das eine, das keine Salatsauce darauf hatte. Mehr schaffte ich nicht, trotz Hungergefühl und knurrendem Magen. Wie erschlagen saß ich da, einmal mehr enttäuscht von mir selber. Wo war mein Wille geblieben? Ich wollte doch so gerne essen. Wieso brachte ich das bisschen Essen, das auf nur einer Gabel Platz hatte, nicht in meinen Mund? Mein Mund war geöffnet, die Gabel vor mir, wieso schaffte ich das nicht? Ich war mehr als frustriert, ich war sauer. Aufgrund des Schutzkonzeptes gegen Corona waren die Tische weit auseinander gestellt worden und an jedem Tisch saß nur eine Person. Ich wollte die anderen aber nicht anschauen, weil mir bewusst war, dass es Patienten waren, Patienten wie ich. Und Patient war man nur, wenn man krank war. Aber ich wollte nicht krank sein. Ich war fest davon überzeugt, dass es eine ganz einfache Erklärung für meine Situation geben musste, und sobald man diese einmal kannte, konnte man auch ganz schnell eine Lösung finden. Und dennoch wusste ich irgendwie, dass irgendwas nicht stimmte, und somit musste es vielleicht doch mit Krankheit zu tun haben. Außerdem wollte ich gar nicht erst herausfinden, ob ich hier allenfalls jemanden kannte. Oder noch schlimmer, ob mich jemand hier erkannte. Es war mir nach wie vor peinlich und ich stand so leise wie möglich auf und schob den Stuhl ganz sachte an den Tisch zurück, sodass möglichst niemand ein Geräusch wahrnahm. Keiner der Anwesenden sollte sich umdrehen oder aufschauen müssen. Mit gesenktem Kopf, damit ich niemanden anschauen musste und auch niemand mir ins Gesicht sah, räumte ich das Geschirr weg. Es war schade, das ganze Essen in den Kompost zu werfen. Aber aufgrund von Hygienevorschriften musste alles Essen, das einmal auf einem der Teller gelegen war, in den Kompost. Nur unberührtes und ungeöffnetes Essen durfte man zurück in den Kühlschrank stellen und für später mit dem Namen und dem Tagesdatum anschreiben.

Ich ging nach draußen, auf die hauseigene Terrasse hinter dem Haus. Im Treppenhaus gab es eine direkte Türe dorthin. Die Terrasse war wohl das Schönste hier. Ein Teil von ihr war überdacht und mit einem Ecksofa und einem kleinen Beistelltisch versehen. Der Rest war unter freiem Himmel und mit einzelnen Tischen und Stühlen vollgestellt. In der Mitte des Platzes stand ein wuchtiger Sonnenschirmständer mit noch größerem Schirm darin. Auf dem Sofa saß bereits eine Patientin, die rauchte. Wir nickten uns schweigend zu, während ich mich ans andere Ende des Sofas setze und mir ebenfalls eine Zigarette anzündete. Ab und zu sah ich hoch und schaute sie an. Sie sah sehr müde und kaputt aus, das war das Erste, was mir auffiel. Ihre langen Haare hatte sie zu einem unordentlichen Zopf geflochten, die Trainerhosen waren viel zu weit für ihre schmale Figur und die große Strickjacke glich mehr einem Zelt. Und obwohl ich sie nicht kannte, nichts über sie oder ihr Leben und ihre Geschichte wusste, hatte ich Mitleid mit ihr. Mitleid, weil ich genau wusste, wie beschissen sie sich fühlte, und es machte mich sehr traurig. Es musste in ihrem Leben etwas geben, was sie genauso verzweifeln ließ. Sonst wäre sie hier nicht gelandet. Der Grund dafür spielte keine Rolle. Den wichtigen Aspekt, Mitleid und Mitgefühl voneinander zu trennen, musste ich noch lernen. Denn die Trennung voneinander ist sehr wichtig und erhält einen am Leben.

Ich verabschiedete mich nach meiner Zigarette wieder mit einem wortlosen Nicken und ging in mein Zimmer hoch. Ich schaffte es, meinen Mann und meine Mutter zu informieren, dass ich nun hier angekommen war, und schickte die Fotos, welche ich vorher vom Zimmer gemacht hatte. Damit sie sich ein Bild davon machen konnten, wie es bei mir aussah. Danach ging ich wieder auf die Terrasse hinunter. Die Frau von vorhin interessierte mich irgendwie. Obwohl ich eigentlich nicht in der Lage war, mir ihre Probleme anzuhören, hätte ich gerne einmal mit jemandem gesprochen. Ich fühlte mich sehr alleine. Sie saß noch immer auf ihrem Platz auf dem Sofa und lächelte mich müde an, als ich mich wieder zu ihr setzte. „Ich rauche den ganzen Tag, ich habe einfach zu viel Zeit hier“, meinte sie. Ihre Stimme war rau und kratzig, aber als wir uns so direkt in die Augen sahen, bekam ich tatsächlich Gänsehaut. Da war so viel Wärme in ihren Augen. Sie waren feucht und glänzend von Tränen, aber sie leuchteten dennoch. Und ich war überwältigt davon. Irritiert und zugleich fasziniert, in einer solchen Trauer gleichzeitig ein derartiges Licht zu erkennen. Der Spiegel zur Seele, wie man so schön sagt.

Esmeralda, so stellte sie sich mir vor. Sie erzählte mir, dass sie vor ein paar Jahren schon einmal in der AFS war. Wir sprachen über vieles, ruhig und sehr vorsichtig, weil wir beide nicht wussten, was wir der Anderen erzählen wollten, und auch, was die Andere in diesem Moment ertragen würde. Ja, so war es. Ich ertrug momentan beinahe gar nichts. Vor allem auch keine anderen traurigen Geschichten. Es war ein schönes Gespräch, voller Vorsicht und dennoch Interesse am Gegenüber. Ich mochte Esmeralda bereits. Normalerweise war ich sehr vorsichtig damit, jemanden zu mögen oder ihm sogar zu vertrauen. Zu oft wurde ich schon hintergangen und enttäuscht und somit auch verletzt. Doch ich hatte ein gutes Bauchgefühl. Mein Bauchgefühl war nämlich ein verdammt kluger Kopf. Leider vergaß ich das im alltäglichen Stress aber zu oft. Ich nahm mir fest vor, wieder mehr auf meinen Bauch zu hören.

Nach diesem Gespräch ging es mir ein kleines bisschen besser und ich ging wieder in mein Zimmer hoch, um mittels Facetime meine Familie anzurufen. Ich musste das Telefongespräch jedoch nach wenigen Minuten wieder abbrechen. Meine Tochter so zu sehen, tat unglaublich weh. Sie saß auf dem Sofa und fragte ununterbrochen, wo ich war, und bettelte, dass ich nach Hause kommen müsste und mit ihr kuscheln sollte. Ich sagte ihr, dass ich bald nach Hause käme und ich Bauchschmerzen hätte und deshalb nicht zu Hause war. Es war schwierig, die richtigen Worte für eine Zweieinhalbjährige zu finden. Ich wollte und konnte sie nicht anlügen, denn dieser Zug war sowieso schon längst abgefahren bei meiner Tochter. Sie verstand bereits zu viel. Andererseits wollte ich ihr dennoch keine Angst machen. Lilly sagte, dass, wenn ich Bauchaua hätte, wie sie es ja immer so süß formulierte, ich ganz viel mit ihr auf dem Sofa kuscheln müsste. Wenn sie meinen Bauch streicheln würde, dann würde es mir ganz schnell wieder besser gehen. Die Tränen schossen mir in die Augen und ich konnte nicht mehr. Ich sagte meinem Mann, dass ich auflegen muss. Keine Ahnung, ob ich überhaupt einen ganzen Satz zusammenbrachte. Aber ich wusste, dass er mich verstanden hatte, weil er antwortete, dass er sehen würde, dass es zu viel für mich war. Es war mir tatsächlich zu viel, viel zu viel. Die Schuldgefühle waren zu groß, es tat so weh. Nicht nur, dass ich nicht zu Hause war, auch, dass ich das Telefongespräch sogar wieder abbrechen musste, machte mir Schuldgefühle. Und mein Mann war nun alleine in dieser Situation und würde den ganzen Abend versuchen, Lilly weiterhin zu beruhigen, und ihr sagen, dass ich bald wieder nach Hause käme. Obwohl er selber nicht wusste, was ich hatte, wie es mir ging und wann ich wieder nach Hause kommen würde.

Ich spürte, wie diese Panik wieder hochkroch. Ich wollte schreien, um Hilfe rufen, doch ich brachte keinen Laut über meine Lippen. Ich verkrampfte mich und biss meine Stockzähne so fest aufeinander, dass es weh tat. Ich sah meinen eigenen Beinen zu, wie sie zitterten. Es war, als geschehen diese Dinge einfach von alleine, ohne, dass ich einen Einfluss darauf hatte oder mir bewusst sagte, dass ich es machen wollte. Ich konnte diese Abläufe nur feststellen und dabei zuschauen. Ich war nur Zuschauer der Ereignisse und konnte in diesem Moment nichts dagegen unternehmen. Der Schmerz in meiner Brust begann wieder, mein Herz raste und das Stechen in meinem Oberkörper ließ mich zusammenfallen. Von Panik erfüllt riss ich das alte Fenster auf und streckte meinen Kopf nach draußen. Doch die Luft da draußen war genauso stickig. Ich bekam keine Luft mehr und stellte mir vor, wie es am Ende der Luftröhre in meinem Hals einfach eine Klappe darüber gab, welche verklebt war. Verschlossen und so dicht, dass die Luft, die ich versuchte einzuatmen, keinen Weg zur Lunge fand. Und wenn diese Klappe nicht aufging und die Lunge keinen Sauerstoff bekam, würde ich ersticken. Das war eine logische Schlussfolgerung. Ich drehte mich um und rannte nach unten zum Stationsbüro. In diesem Moment vergaß ich Anstand und Höflichkeit und stürmte ohne anzuklopfen hinein. Frau Wieser saß an ihrem Schreibtisch und sah mich überrascht an, stand dann aber auf und kam langsam auf mich zu. Sie nahm meine Hand und schob mich vorsichtig zu einem der Holzstühle, die um einen großen ovalen Tisch aneinandergereiht waren. Sie wollte wissen, was passiert war. Als ich nicht gleich antworten konnte, kam sie ganz nah zu mir und atmete so laut und tief, dass ich es hören konnte. Fragend musste ich hochschauen und sah, wie sich ihr zarter Oberkörper hob und senkte. Immer wieder und sehr langsam. Sie bat mich, mit ihr zusammen ruhig zu atmen. Ich versuchte es. Währenddessen zählte sie zwischen dem Ein- und Ausatmen jeweils auf vier. Mein Herz schlug gefühlt das Tausendfache, als ich angestrengt versuchte, mitzuatmen. Irgendwann konnte ich meine Atmung ihrem Rhythmus anpassen und mein Herzschlag beruhigte sich. Endlich konnte ich ihr erzählen, wie der Facetimeanruf mit meiner Familie ablief. Ich vermisste meine Familie so sehr. Ich vermisste es, jetzt mit ihnen auf dem Sofa zu kuscheln, die Kinder in ihr Bett zu bringen, Leon seinen Schoppen zu geben und Lilly eine Geschichte vorzulesen. Und im Hinterkopf hörte ich die Stimme meiner Tochter, die immer wieder irritiert fragte, wo ich war und wieso ich nicht zu Hause bei ihr sein konnte. Ich war beeindruckt, in welchem Tonfall sie vorher überhaupt mit mir sprach. Ich konnte ihre Irritation über die ganze Situation und sogar die Sorge darin heraushören. Es machte mich sehr traurig und ich fühlte mich wahnsinnig schuldig. Frau Wieser sagte mir, dass sie selber Mutter sei und solche Gefühle kenne. Und, dass es normal sei, dass ich mich als Mama um meine Kinder sorgte und ich sie schrecklich vermisste. Sie sagte auch, dass ich mir deswegen aber keine Schuldgefühle machen dürfte, weil es mir jetzt nicht gut ging. Auch wenn ihre Worte nett gemeint waren, dachte ich, dass sie keine Ahnung hatte, wie ich mich fühlte. Natürlich hatte ich Schuldgefühle. Schließlich war es meine Aufgabe als Mama, bei meinen Kindern zu sein. Ich fühlte mich unverstanden, obschon sie mir vergewisserte, dass sie mich verstand. Ich fühlte mich alleine mit all diesen Gefühlen und es wurde wieder schlimmer. Ich wurde wieder nervös, weil ich mir sicher war, dass es nichts gebracht hatte, heute hierher zu kommen.

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