Kitabı oku: «Mordgelüste in der Schlossklinik Buchenhain», sayfa 2
Muniels Stirnfalte war wieder verschwunden und er machte ein Gesicht, als ob er dieses – wie alle glaubten – kranke System besiegt hätte. Veronika nickte ergeben, sie kannte die Litanei der Verzweiflung, wenn er sie für ein Seelenstündchen missbrauchte. Ohne Mühe ergab sie sich in ihr Geschick, ihm zuhören zu müssen.
„Meine Güte, alles wäre einfacher, wenn im Jahr 2003 nicht das diagnoseabhängige Bezahlsystem der Fallpauschalabrechnung, kurz DRG, eingeführt worden wäre“, kam Muniel auf sein Lieblingsthema zurück und wie aus einem alten einstudierten Drehbuch ergänzte seine Sekretärin: „Ja, die Gesundheitspolitik hat nicht nur kluge Entscheidungen getroffen. Es steht mir aber nicht zu, Namen aus der Politik zu nennen.“
Er lächelte sie jetzt – oh großes Wunder – sogar an und sie spürte, dass ihre Spannung nachließ und damit auch der Druck in ihrem Unterleib. Das ihr sehr unangenehme Glucksen im Bauch hatte auch aufgehört. Sie war sich nicht sicher, ob ihr Chef diese Geräusche vernahm. Sie hoffte, mit Yoga und modernen „Freidiäten“, wie sie neuerdings selbst im Supermarkt angeboten wurden, auch noch dieses Problem zu lösen. Wir Frauen sind stark und unsichtbar mächtig! Ich muss nur wissen, wie mit ihm umzugehen ist, dass es auch mir dabei besser geht, dachte sie zufrieden und legte ihre Hand auf seinen Unterarm. Sie kannte das Spiel.
Danach ging sie wieder in ihr Zimmer. Was beim Wechsel der Geschäftsführer vor einem halben Jahr in der lokalen Presse nur eine kleine Notiz war, sollte für das Krankenhaus große Auswirkungen haben. Die Insider wussten natürlich mehr, behielten das meiste aber für sich. Nachdem das Klinikum in den vergangenen sechs Jahren, quasi exakt mit Beginn der Einführung des neuen Abrechnungsverfahrens, wie die Hälfte der Kliniken in Deutschland nur noch rote Zahlen geschrieben hatte, war der alte Geschäftsführer Gottfried Trost, dessen Politik nicht mehr in die moderne Geschäftsphilosophie zu passen schien, vom Vorstand in den vorzeitigen Ruhestand verabschiedet worden. Viele erinnerten sich noch an die pathetische Abschiedsrede des alten Verwaltungsdirektors wie an einen Wechsel vom Herbst zum Winter! Auch Doktor Muniel blieb die Rede in lebhafter Erinnerung. Als Gipfel einer unpassenden und geradezu abwertenden Konnotation einer flexiblen ökonomischen Geschäftsführung hatte er es nach Muniels Einschätzung doch tatsächlich gewagt, in seiner Abschiedsrede vor großem Publikum und Orchester die Lebensqualität der Patienten und der Mitarbeiter in den Vordergrund zu stellen.
In seiner Rede strotzte er nur so von Selbstbewusstsein – seine Brust weitete sich unter dem breiten kurzen Hals, als er mit dramatischem Gesicht loslegte: „Ich blicke wenigstens in eine schöne Vergangenheit zurück. Die Akzeptanz des Hauses war während meiner Amtszeit immer groß. Wir müssen keine großen Gewinne erwirtschaften und auch nicht an die Börse gehen und uns größer vorkommen, als wir sind. Die niedergelassenen Ärzte wiesen nur zu uns ein, weil die Patienten unser Haus schätzten.“ Die genanten Ärzte unter den Zuschauern nickten begeistert und warfen sich zufriedene Blicke zu. Muniel hatte sich kurz umgesehen und nicht ohne Unbehagen festgestellt, dass alle, nicht nur diese Gruppe, zustimmend genickt hatten.
„Auch die Mitarbeiter konnten jederzeit zu mir kommen, was für mich zwar anstrengend war, aber auch befriedigend. Wenn sie das Büro verließen, konnte ich sehen, dass sie einen Motivationsschub bekommen hatten. Ihr Abschiedsgruß klang wie Musik in meinen Ohren, was – meine Damen und Herren – zwar pathetisch klingen mag, aber die schlichte Wahrheit ist. Die Profitzahlen waren für mich wichtig, aber gleichbedeutend waren die menschlichen Aspekte bei diesem harten Job.“ Wie ein Prophet aus alter Zeit hatte er den Zeigefinger gehoben, um dann wie im Triumph vom Podium an seinen Platz zurückzukehren. Dass er an der letzten Stufe stolpernd fast gefallen wäre, verschmälerte nicht den guten Gesamteindruck.
Der neue Geschäftsführer saß damals in der ersten Reihe. Nur die strenge Pflegedirektorin, die neben ihm saß, sah, wie er bei der Rede mehrmals unmerklich den Kopf schüttelte. Dieser Trost hat tatsächlich nichts begriffen, dachte Doktor Muniel damals. Meistens hörte er der Rede aber gar nicht zu und saß mit einem Katzenlächeln wie selbstverliebt im Stuhl und driftete mit seinen Gedanken in seine eigene Welt. Er betrachtete die Fenstermalereien, die sich als selten gelungene Exemplare des Jugendstils präsentierten. Immer wieder verlor er sich in diesen Bildern von den tanzenden Frauen, die er fast wie nur für ihn geschaffene Trugbilder wahrnahm. Die Tänzerinnen schienen wie im Traum direkt auf ihn zuzukommen. Das beklemmende schwarze Band um seinen Hals in seinen späteren Albträumen war damals noch nicht zu spüren.
„Du bist jetzt der ausgewiesene Manager, der Erfolg für das Haus verspricht“, schienen ihm die Tänzerinnen zuzuflüstern. Jetzt bedurfte das Haus eines anderen Verwaltungsdirektors, eines Mannes von ganz anderem Kaliber. Herr Doktor Kurt Muniel – auf den Titel sowie seine Doktorarbeit zum Thema „Die Deckungsbeitragsrechnung im Krankenhaus unter Berücksichtigung des unberechenbaren Kostenfaktors Patient“ legte er größten Wert und trotz vieler Neider waren im Internet bis jetzt keine Plagiatsvorwürfe erhoben worden – hatte trotz seiner fünfundvierzig Jahre und leichtem Bauchansatz eine noch sportliche Figur und hielt sich an das Motto: „Eine Stunde Tennis pro Tag ist das Minimum für einen hart arbeitenden Manager!“ Dynamisch lief er über die langen Krankenhausflure, hatte es immer eilig, war wie auf der Flucht vor etwas nicht Sichtbarem. Wovor eigentlich?, dachte da so mancher.
Unter den Assistenten kursierte schon am ersten Tag ein Spruch des Chefs der Geriatrie: „Muniel ist immer auf der Flucht, vielleicht vor den roten Zahlen oder nur vor sich selbst!“ Mit diesem Satz konnten viele etwas anfangen. Veronika von Hess-Prinz, die Chefsekretärin, die damals bei der Verabschiedung von Herrn Trost in der zweiten Reihe gesessen hatte, dachte auch nach Monaten immer noch an die alten Zeiten, die sie aber vor dem Angesicht ihres Chefs und der Belegschaft schon gar nicht preisen konnte und wollte. Ihr Bauchglucksen war beim Anblick des „Neuen“ aufgetreten und war beim Klang der „Ode an die Freude“, die vom Orchester im Fortissimo anlässlich der Verabschiedung des alten Geschäftsführers gespielt wurde, wieder verschwunden. Das war die Geburt einer neuen Taktik, sich abzulenken und sich wieder wohlzufühlen.
Wenn sie sich später bei der Arbeit über den „Neuen“ ärgerte, schlug sie auf die Tastatur ihres Computers ein, träumte vom „Alten“ und von Beethovens Musik und summte die „Ode an die Freude“. Sie gönnte sich Entspannungspausen sowie Erinnerungen an den alten Herrn Trost. Es war für sie noch bis vor Kurzem wie eine Verhaltenstherapie. Ihr alter Chef hatte in ihrer Erinnerung eine eher behäbige Ausstrahlung mit gütigem Lächeln auf dem runden Gesicht. Jedes Mal, wenn sie ihm einen Milchkaffee brachte, hatte er sie zu einem kleinen Plausch zu sich an den Tisch gebeten. Nicht lange, aber lange genug, dass sie sich froh wieder an ihre Arbeit machen konnte. Er neigte damals schon zur Glatze, die in einen Stiernacken überging, und war eindeutig bauchspeckdominant übergewichtig. Seit sie ihn zuletzt gesehen hatte, war sie auf der Suche nach einem anderen die Stimmung aufhellenden Chef wie ihrem alten.
Die letzte Erinnerung an ihn hatte sie sogar traurig gemacht. Sie sah ihn zuletzt im Supermarkt. Total glatzköpfig und deutlich vorgealtert mit hängenden grauen Wangen. Kein glückliches Gesicht. Doch man sieht selten glückliche alte Gesichter, besonders nicht in Supermärkten, wenn sie in die Abrechnungszettel starren. Ein Blick in seinen Einkaufswagen schien alles andere als tröstlich. Nur fetthaltige Fertiggerichte und Kohlenhydrate vom Billigsten, nichts Frisches, kein Gemüse und Salat, dafür aber Zigaretten! Sie war sehr erstaunt, dass ihr alter Chef jetzt auch noch damit angefangen hatte. Sollte er seinen eigenen Tod herbeisehnen? Oh je!, dachte sie dabei, konnte oder wollte ihn aber nicht begrüßen. Sie war wie blockiert! Sollte er inzwischen Single geworden sein? Seine Frau war doch noch relativ jung gewesen. Hat sie ihn verlassen, nachdem das üppige Gehalt ausblieb? Der arme alte Kerl. Der Herrgott meint es nicht gut mit den Seinen! Bekümmert verließ sie den Supermarkt, immer noch in Gedanken an Herrn Trost. Die Ungerechtigkeit seines Schicksals sah sie sehr wohl. Das hatte dieser herzensgute und auch kompetente Mann nicht verdient.
An ihrem Arbeitsplatz sah sie den Frust im Gesicht ihres neuen Chefs mit anderen Augen. Ihr Chef war immer akkurat gekämmt, zog sich jeden Morgen einen geraden Scheitel in das duschnasse Haar mit dem beginnenden Grauansatz und den Geheimratsecken. Was aber die bösen Zungen und selbst seine Sekretärin nicht wussten, war die frühe traurige Kindheit ihres Chefs.
Sein Vater – ein pietistischer Pastor – hatte ihn als Kind regelmäßig geschlagen, wenn er nicht korrekt mit Mittelscheitel frisiert war. „Gott mag keine Schlamper“ war dessen Standardsatz. In der Schule war er auch gemobbt worden. Muniels hageres Gesicht hätte schön sein können, wenn die tiefen senkrechten Falten an den Wangen und seine spröden Lippen nicht wären. Er war schon einmal wegen eines Magengeschwürs behandelt worden. Sein leicht schräger Mund und die von oft wiederkehrenden Herpesbläschen gezeichneten Lippen luden seine Frau und in der Fantasie der Sekretärin nicht gerade zum Küssen ein. Diese lädierten Lippen waren der Sekretärin erstmals aufgefallen, als sie ihm auf Facebook eine Nachricht über das Krankenhaus zeigte. Darin stand Ungeheuerliches: „Der Geschäftsführer wäre lieber Arzt geblieben. So bräuchten wir ihm nicht eine Spritze mit unbekanntem tödlichem Inhalt ansetzen und ihn zwingen, seine zynischen Ansichten über die Mitarbeiter zu rächen.“
Es war eine hinterhältige Drohung, die das Blut zum Stocken brachte. Von wem kam so was? Waren Verbrecher hinter ihm her? Berieten Psychopathen untereinander, wie sie ein rätselhaftes Drehbuch, ein tödliches Spiel inszenieren sollten? Wie räche ich mich an einem unbequemen und zynischen Vorgesetzten? Steckten jetzige oder frühere Mitarbeiter des Krankenhauses dahinter?
Auch in der Personalkantine war dieser Internetauftritt hinter vorgehaltener Hand diskutiert worden. Niemand konnte sich aber vorstellen, wer hinter der Drohung stand. Ein naseweiser Assistent, Doktor Gscheidle aus Ulm, meinte nur lapidar: „Wer Angst sät, wird Angst ernten.“ Betroffen nickten alle am Tisch.
Zu Hause machte seine Frau sich große Sorgen um ihn. „Kurt, du bist doch auf deine Mitarbeiter angewiesen. Du lähmst ja ihre Motivation durch deine gnadenlose Strenge – schau doch mal in den Spiegel!“, warf ihm seine Frau manchmal vor.
Wenn man ihn bei seinen Gängen über die langen Flure ansprach, verlangsamte er nur unmerklich sein Schritttempo und neigte dazu, den ihn Ansprechenden grundsätzlich nicht anzuschauen. Eine Augenbraue zog dabei nach oben, die andere blieb unbeweglich: Eine pantomimische Meisterleistung! Der linke Arm schwang kräftig mit, der rechte bewegte sich nicht. Fast so wie bei Putin, durchzuckte es Frau von Hess. Ein psychiatrischer Konsiliarius hatte sich mal verplaudert: „Euer Verwaltungschef hat, glaub ich, ein Asperger Syndrom und eine Erwachsenenform des ARDS!“
Auch die Sekretärin hatte eine Weile gebraucht, um zu begreifen, dass eine seltene, fast unmerkliche Veränderung von Kurt Muniels Gesichtsmuskeln als Lächeln zu deuten war. Tatsächlich wirkte diese von ihm als Freundlichkeit angelegte Mimik auf seine Mitarbeiter eher wie Eisregen. Unterhaltungen waren zeitlich nur sehr begrenzt möglich. Er selbst hielt sein Lächeln für gewinnend.
Amalie, seine Frau, hatte seit einem halben Jahr Bemerkungen über seine kalte Überheblichkeit eingestellt. Jeder Kritik enthielt sie sich, seit er einmal handgreiflich geworden war. Voller Wut hatte sie ihn einen pathologischen Narziss und Soziopathen genannt. Nein, das hätte sie nicht sagen sollen. Seitdem zeigte sie keine Wut mehr. Im Spiegel versuchte sie ihr von leichten Furchen verändertes Gesicht mit einem geheimnisvollen Lächeln zu verschönern.
Ihrer einzigen Freundin Christine im Tennisclub war dieses sybillinische wie einstudierte Lächeln aufgefallen. Sie erzählte Amalie aber nicht, dass sie dieses Lächeln wie eingefroren erlebte, ein Dauerlächeln, wie von manchen bekannten Politikergattinnen gezeigt. Stattdessen schmeichelte sie Amalie mit Lob für ihren entspannten Gesichtsausdruck. „Amalie, wunderbar – du wirkst ja so entspannt. Ich merke es auch an deinem Spiel. Nicht mehr so verkrampft hältst du den Schläger in der Hand.“
Amalie legte ihr nur ihre Hand auf die Schulter und sagte: „Du bist eine verdammte Schmeichlerin!“
Die Chefsekretärin Veronika von Hess-Prinz und Amalie Muniel waren nie befreundet gewesen. Allerdings trafen sie sich bei offiziellen Feiern der Klinik und schwätzten nach dem zweiten Glas Wein gelegentlich auch mal persönliche Dinge. Veronika hielt sich dabei immer zurück. Amalie begann seit einigen Jahren an den Hüften ein wenig in die Breite zu gehen und aus Frust und Stress sich schon mal über ihren Mann zu beklagen. Es kam ihr nach dem zweiten Glas Sekt gewissermaßen aus den Poren. Als Veronika sie zum ersten Mal erlebt hatte, dachte sie: Ach! Auch so eine frustrierte Ehefrau! Vorher ein sonderbares Lächeln und jetzt ein Gesicht, das wohl einiges zum Verbergen hat.
Amalie hatte sich einmal nach dem dritten Glas Sekt bei der Sekretärin Veronika über ihn beklagt, ohne zu berücksichtigen, wen sie vor sich hatte. Themen wie Frust in der Ehe ganz allgemein wurden schon vorher eher abstrakt als Allgemeinthema angeschnitten. Nach all den Jahren, in denen die Karriere des Mannes Vorrang hatte, Jahre, in denen Schlucken- und Duldenmüssen zum Alltag gehörten, traute sie sich jetzt, Tabuthemen anzusprechen.
Mordgedanken kamen in den Gesprächen natürlich auch im Scherz nicht vor. Dabei hatte Frau Muniel schon einmal geträumt, statt Salz, Pfeffer und Zucker weniger Bekömmliches – nämlich für die Leber und Nerven giftiges Pulver – in den Salat oder die Brombeermarmelade zu streuen – sie hatte ja immerhin Pharmazie studiert. Sie wusste, dass N-Nitrosodimethylamin ein schwer nachweisbares Lebergift ist, das Mutationen im Erbgut verursacht, so Leberkrebs erzeugt und nach Monaten und Jahren zum Tode führen kann. Von einem Mordfall mit diesem Gift an der Uniklinik Ulm vor dreiunddreißig Jahren hatte sie immerhin bei Google gelesen und hatte sich die Originalarbeit über den Fall besorgt, die der Oberarzt der Abteilung Gastroenterologie und sein Chef verfasst hatten. Mit der Sekretärin hatte sie diese Träume natürlich nicht erörtert. Glücklicherweise hakte sie solche Gedanken spätestens nach dem ersten morgendlichen Espresso als reine Fantasiegebilde ab – vorerst? Über eines war sie sich ganz sicher, dass sie nicht zur Mörderin taugte. Ihre Erziehung, ihre anerzogene Religiosität, ihre Ängstlichkeit und vor allem ihre Passivität würden sie Zeit ihres Lebens vor solchen Schritten bewahren. Sie bekam schon Herzklopfen, wenn sie daran dachte.
„Wie können denn die forensischen Psychologen und Psychiater behaupten, dass jeder Mensch in extremen Situationen oder im Kollektiv zum Mörder werden könne? Blödsinn!“
Natürlich hatte sie auch das Interview mit dem Psychiater Andreas Marneros über das Böse, das in uns allen steckt, und über die Liebe, die zum Tode führen kann, im Spiegel gelesen. Intimizid – die Tötung des Intimpartners – war seine werbewirksame Wortneuschöpfung. Blödes Geschwätz eines Psychiaters, dachte sie dabei! Das kommt doch nur in der islamischen Welt vor, war ihre Privatmeinung. Ihr Mann in seiner eiskalten Arroganz war ja der Meinung, dass sie nur Modehefte und nie das Ärzteblatt lese.
Diese Ignoranz von Kurt regt mich gar nicht mehr auf. Das weiß doch jeder, dass jedes Jahr Ehe jeweils Lichtjahre von der ursprünglichen romantischen Nähe entfernt. Statt Wut kommt dann nur noch Langeweile auf. Die Folge davon: manchmal ein strahlender jüngerer Liebhaber – ist das nicht die logische und zugleich befreiende Lösung? Insgeheim war sie richtig stolz über ihre Einfälle, die sie natürlich nie äußern würde!
Ein verhängnisvoller Vormittag
Der Geschäftsführer konnte den beginnenden Wonnemonat Mai nicht genießen. Doktor Muniel hatte anstrengende Tage hinter sich gebracht. Ein Treffen mit dem Krankenkassenvertreter war fast ein Desaster gewesen. Der Vorstand hatte ihn von einer angetretenen Dienstfahrt zurückbeordert und ihn wegen seines angeblich harschen Führungsstils noch am selben Abend gemaßregelt. Als er am späten Abend nach Hause gekommen war, hatte im Schlafzimmer das Fenster an der Feuerleiter offen gestanden. Ein Schatten war weggerannt, von dem er nicht wusste, ob er einem Liebhaber oder einem wilden Tier gehörte. Seine Frau hatte ihn mit unschuldigem Gesicht angelächelt und amüsiert geflüstert: „Das war doch nur ein Wildschwein Kurt.“
„Ich wusste nicht, dass du neuerdings mit Wildschweinen schläfst“, hatte er aggressiv geantwortet und ihr den Rücken zugedreht. Kein Wunder, dass er katastrophal geschlafen hatte, als am nächsten Morgen um sieben Uhr wie gewöhnlich der Wecker klingelte. Er nahm nur einen Espresso zu sich, weil er keinen Appetit hatte und Amalie noch fest schlief. Sie kam aber doch kurz darauf in die Küche und machte ihm einen Tee. Als sie jedoch anfing, ihm wegen der falschen Farbe der Krawatte Vorwürfe zu machen, ergriff er die Flucht, während sie sich am Kühlschrank zu schaffen machte.
Er wusste wirklich nicht, was heute mit ihm los war. Die Last der zu erwartenden Aufgaben ließen seine Beine schwer werden. Sein Gang war schleppend – als wenn Bleigewichte an seinen Beinen hingen. Gewöhnlich hüpfte er elastisch die Treppen zu seinem Büro hoch – er wusste ja schließlich, dass ihn viele Augen beobachteten.
Frau von Hess-Prinz, seine Sekretärin, blickte erstaunt auf und war zugleich erschrocken, als sie sein finsteres, übernächtigtes Gesicht sah. „Herr Doktor Muniel, da sind Sie ja. Sie haben mir so leidgetan, als ich Ihnen in Fritschles Auftrag die SMS zuschicken musste. Waren Sie schon in Rostock?“
„Leider erst in Lübeck. Ich war wie vom Schlag getroffen, als mich diese verdammte SMS erreichte.“
„Ich bringe Ihnen gleich einen Espresso“, versuchte sie ihn zu trösten und drehte sich zur Espressomaschine um.
„Ich brauche eher einen Grappa oder zwei“, seufzte er und verschwand in seinem Büro. Kurz darauf klopfte die Sekretärin an und setzte ihr Sonntagsgesicht auf, um ihn aufzuheitern, was aber diesmal nicht gelang, obwohl der Espresso in ihrer Hand sehr verführerisch duftete.
Er warf einen verstohlenen Blick auf sie. Frau von Hess-Prinz konnte ihn schließlich doch tatsächlich etwas von seiner trüben Stimmung befreien. Sie strahlte Ruhe und Würde aus. Eine gepflegte Erscheinung mit blond-roten glatten Haaren, die nicht gefärbt waren, sie hatte ein leicht rundes freundliches Gesicht ohne Falten – mit ihren vierzig Jahren jung geblieben. Ihre Hüften waren bemerkenswert einladend und weiblich. Ihr Gang war jugendlich und etwas kokett – jeder dachte, dass sie wahrscheinlich eine gute Tänzerin war und im Bett eine wunderbare Gespielin. „Danke, Frau von Hess-Prinz, Sie sind ein Schatz.“
Die Sekretärin reagierte auf dieses Kompliment nur, indem sie energisch die Zuckerdose auf den Tisch stellte. Sie dachte bei sich, dass diese Bemerkung nur so dahingeworfen war und ohne äußeren Anlass oft schon in kühle distanzierte Zurechtweisung umgeschlagen war. Wenn er dauernd so charmant wäre und nicht nur zehn Sekunden am Tag, könnte ich mir unaussprechliche Dinge mit ihm vorstellen. Aber so?, dachte sie, merkte aber nur kühl an: „Herr Doktor Muniel, darf ich Sie an die Termine erinnern, die Sie heute haben?“
Sie begann, sie aufzuzählen: „Der Controller wollte Sie heute kurz vor Mittag sprechen. Aber der leitende Oberarzt der Anästhesie und Intensivstation, Herr von Risseck, diesmal schon um neun Uhr dreißig. Sie haben ja gehört, dass der zweite Oberarzt aus der Abteilung gekündigt hat. Vielleicht können Sie den ja mit Ihrem diplomatischen Geschick umstimmen, ohne ihm zusätzliche Boni zu versprechen!“ Herr Muniel sah dabei nicht, wie sie zynisch und ein bisschen theatralisch die Lippen schief verzog. „Herr von Risseck wäre jedenfalls ein wichtiger Verbündeter, um die Stimmung unter den Mitarbeitern zu verbessern“, zeigte sie ihm ihre Besorgnis um das Klima in der Klinik.
Muniels Gesicht verzog sich augenblicklich frostig und blaffte sie kalt und laut an: „Sind Sie jetzt auch noch meine strategische Beraterin?“
Seine Reflexe hatte er auch diesmal nicht im Griff. Da war sie wieder, seine berüchtigte uncharmante, ja auch verletzende Art, die wie ein kalter Windstoß aus dem Nichts kam. Jetzt war sie froh, dass sie auf seine Komplimente vorhin cool reagiert hatte. Therapeutische Distanz war ihre Devise geworden. Sie blieb deshalb auch diesmal verbindlich und sachlich.
„Sie wissen, dass ich in einer halben Stunde einen Arzttermin habe und dann einen freien Nachmittag, also gehe ich jetzt schon“, hauchte sie, lächelte ihn sogar wieder an und schwebte aus dem Büro. An der Türschwelle ergänzte sie: „Ich stelle gleich noch eine Kanne Kaffee und ein Glas Mineralwasser für Sie hin und verabschiede mich dann. Ich muss vorher nur noch schnell wohin.“
„Danke, Sie Engel“, murmelte der Chef, scheinbar etwas besser gelaunt.
Abrupt blieb sie stehen, legte die Hand auf den Bauch, schluckte, atmete tief ein, um den Engel zu verdauen, und wartete kurz an der Tür, um noch einmal einen prüfenden Blick in ihr Büro zu werfen. Als sie sich umdrehte, sah sie im Spiegel ihr Gesicht mit einem Blick, als würde sie gleich losweinen.
Die Putzfrau Margot war nicht geplant aufgetaucht und verkündete lauthals, dass sie heute etwas früher den ständigen Kampf gegen den Staub und die Blätter aufnehmen wolle. Auf dem Boden lagen tatsächlich drei welke Blätter. Was beide aber nicht sahen, war ein Mann hinter der wuchtigen Säule neben den Topfblumen. Der Mann, noch ohne Gesicht, zuckte sichtlich zusammen und duckte sich noch tiefer.
„Liebe Margot, gerade heute, an diesem Vormittag, ist der Kampf gegen den Staub sehr ungünstig, da der Chef gleich mehrere frühe Termine hat. Außerdem ist er so schlecht gelaunt, dass er dich hochkant aus dem Zimmer werfen würde.“
„Ist ja gut, Veronika. Dann gehe ich halt noch in die Kantine und mache nachher gleich die Geriatrie-Station. Auf dem Gang dort scheint die Inkontinenz gewütet zu haben, wenn man Schwester Ilse glauben darf.“
Margot nahm den Kübel und winkte der Sekretärin zu, während Veronika von Hess-Prinz noch schnell zum WC hastete. So übersahen beide die Gestalt hinter der Säule im Gang und den zwei dichten Zimmerpalmen, die Frau von Hess-Prinz schon längst entfernt haben wollte. Das Gewächs ärgerte sie, weil dauernd Blätter am Boden lagen. Sie war gegenüber dem Hausmeister, dem Herrn Schränklein, ganz gegen ihre Art sogar zynisch geworden: „Wir brauchen hier keinen Urwald, mein Herr. Oder haben Sie hier Gorillas herumlaufen sehen?“
Dem blieb nur der Mund offen und er schüttelte verwundert den Kopf. Schlagfertigkeit war nicht sein Ding. Es war auch bekannt, dass er sich beim Fasching am liebsten als Gorilla verkleidete und auch sonst etwas tollpatschig daherkam.
Der Mann hinter der Säule hatte alles mitbekommen und atmete auf. Er wusste, dass er ein sehr gewagtes Spiel trieb. Der „Urwald“ war nicht dicht genug! Er wusste aber auch von früher, dass die Sekretärin mittwochs immer am frühen Vormittag ging und vorher den Chef mit Kaffee und Mineralwasser versorgte. Auch, dass sie mit dem Auto über vierzig Minuten nach Hause brauchte. Sie wohnte in Sulzschlirf, nicht gerade um die Ecke.
Die geduckte Gestalt hatte darauf gehofft, dass sie vorher auf die Toilette ging. Dies war Teil ihres Planes. Der Mann kannte diese Gewohnheit von seinem Vorstellungsgespräch und weil er fünfmal um die gleiche Zeit zum sogenannten Rapport beim Geschäftsführer gerufen worden war. Die Toilette war zirka zehn Meter von der Säule entfernt am Ende des Ganges. Die Tür zum Vorzimmer und zur Toilette hatte er immer im Blick. Die Bürotür stand offen. Als er die knarrende Tür zur Toilette schließen hörte, huschte der Mann ins Vorzimmer, goss ein weißes Pülverchen ins volle Mineralwasserglas auf dem Tablett und versteckte sich wieder hinter der Säule. Hoffentlich kommt sie nicht auf den Gedanken, auch noch die Zimmerpalmen zu gießen – das wäre das Ende meines Plans!, dachte das Schlossgespenst. Da hörte es auch schon die Tür schlagen, sah Frau von Hess-Prinz vorbeihuschen und im Vorzimmer verschwinden. Nach einer Minute kam sie wieder heraus und eilte die Treppe hinab. Der Verborgene hörte, wie sie auf der Treppe mit ihrem Freund telefonierte. An sein Ohr drangen allerdings nur Bruchstücke des Gesprächs und sporadisches Gekicher. Eine Tür schlug ins Schloss und weg war sie. Dem unheimlichen, breitschultrigen Gespenst blieben dreißig Minuten Zeit, gerade genug für den Wirkungseintritt der Tropfen – es war kein Süßstoff.
Was war mit den frühen Terminen?, durchzuckte es ihn noch eiskalt, sofort aber schob er die Bedenken weg und kroch hinter der Säule hervor, öffnete leise das Vorzimmer und sah, dass das Tablett mit dem Wasser verschwunden war. Gott sei Dank – bis jetzt nur Fast-Pannen, dachte er und ging wieder in Deckung – für alle Fälle. Auf seiner Uhr waren erst drei Minuten vergangen.
Doktor Kurt Muniel trank das Mineralwasser in einem Zug aus, danach gönnte er sich eine Tasse Kaffee. Frau von Hess hatte ihn kurz vor ihrem Abgang frisch gebrüht zu ihm gebracht. Dem Geschäftsführer blieben gerade noch dreißig Minuten bis zum ersten Besucher. Er sah seine Hauspost durch, wofür er heute nicht ganz eine halbe Stunde brauchen würde. „Heute Nachmittag um fünfzehn Uhr“, las er auf dem Terminzettel, „haben Sie noch eine Besprechung mit dem Finanzdirektor des Klinikums und dem Rechtsberater.“ Er schaute auf die Uhr. Ach, da hab ich ja noch Zeit. Er aß ein Sandwich aus dem Lunchpaket und schaute seine Privatpost durch, die seine Sekretärin separat gelegt hatte. Zur Ablenkung griff er sich die Frankfurter Rundschau, legte sie aber weg, weil er sich nicht konzentrieren konnte.
„Veronika ist wirklich ein Schatz, ich verstehe nicht, warum ich sie manchmal so anschnauze.“ Er erinnerte sich, wie sein Vater regelmäßig seine Mutter angefaucht hatte, die dann stundenlang wie betäubt herumgelaufen war. Seine Sekretärin schien das besser wegzustecken.
Beim Lesen bemerkte er seine Angespanntheit. Er verstand nur nicht, warum er allmählich auffallend müde wurde wie sonst nur nach einem ausgiebigen Lunch mit Weißwein im Urlaub. Er zwang sich mit Mühe, weiterzulesen.
Es war neun Uhr achtzehn, als es an der Tür klopfte. „Guten … Tag, Herr Direktor! Entschuldigen Sie bitte die Störung.“
Das Wort blieb Muniel im Hals stecken, als er den zu frühen Besucher sah und unerwartet nicht den Oberarzt verfrüht eintreten sah, sondern einen Menschen, der ihn entfernt an einen vor einem halben Jahr von ihm entlassenen Arzt erinnerte. Ist es der gar selbst?, durchzuckte es ihn. Er wusste um seine Schwäche, Namen zu behalten und Gesichter zu erkennen.
„Wer sind Sie denn?“, stöhnte Doktor Muniel.
„Oh, ich bin guter Arzt und komme gerade aus Moskau. Keine Angst – ich Ihnen helfen wollen.“
Habe ich eine Halluzination? Und warum bin ich so hundemüde? Ich müsste doch jetzt wegen der Überraschung hellwach sein!, durchzuckte es Muniel. Ich werde noch einen Espresso trinken.
Er schaute auf die Uhr und wunderte sich, dass die Ziffern verschwommen waren und ihm etwas schwindelig war. Das machte ihm jetzt wirklich Angst. Manchmal fangen so Schlaganfälle an – ich muss den Blutdruck messen, dachte er panisch. Erst, als er die Stimme hörte und die langsamen Bewegungen des etwas bärenhaft wirkenden Mannes sah, dämmerte langsam die Erinnerung auf. Diese Typen aus dem Osten sehen aber auch alle gleich aus. Er wunderte sich nur, dass sein Herz so heftig schlug. Warum verdammt fing sein Herz just auch noch unregelmäßig an zu schlagen?
Er versuchte sich krampfhaft zu konzentrieren und begrüßte den Arzt mit Handschlag. Im gleichen Augenblick dämmerte ihm der Grund der Panik. Sein Besucher trug OP-Handschuhe. „Was soll das denn?“
„Oh, Herr Direktor, ich Ekzem habe an Hand – ich mich schämen.“
Muniel versuchte seine Panik zu überwinden und wollte jetzt Zeit gewinnen, bis der Oberarzt kam. Betont langsam schenkte er dem Besucher gegen seine Gewohnheit einen Kaffee ein. „Wenigstens zum Kaffeetrinken ziehen Sie die Handschuhe aus! Ansonsten trinke ich nicht mit Ihnen“, sprach er schon mit schwerer Zunge, was der Besucher befriedigt registrierte. Die bärenhafte Gestalt war mit sich und dem Fortschritt ihrer Aktion sehr zufrieden.
„Sehr gern, Herr Direktor“, sagte der Besucher und zog den rechten Handschuh aus. In diesem Augenblick dachte er nicht daran, dass er dadurch Spuren hinterlassen könnte. Er war aufgeregt.
Kurt Muniel versuchte sich mühsam zu konzentrieren und holte jetzt – schon leicht schwankend – die Kaffeekanne vom Büffet, wobei er einen Spritzer auf den Boden schüttete und dem Besucher dreißig Sekunden lang den Rücken zudrehte. Zur Verstärkung der Dosis konnte so der Mann noch einmal Tropfen ins Glas schütten. Die Gläser hatte die Sekretärin immer an den Platz gestellt, für alle Fälle.
„Warum sind Sie bei mir aufgekreuzt, ohne sich anzumelden?“
„Oh, Herr Direktor, ich sehr spontaner Mensch und sehr flexibel.“ Der harte russische Akzent war nicht zu überhören. „Darf ich melden Ihnen, warum Überraschungsbesuch? Ich bin Arzt aus der Ukraine, ursprünglich Donezk, komme aber jetzt von berühmter Klinik für Organverpflanzung aus Moskau. Chef in Donezk halten großes Stück auf mich. Deshalb geschickt mich nach Moskau! Wir können machen jetzt Kooperation und ich bringe mit Oberarzt von dort und wir stellen hier im Klinikum Buchenhain um auf Nierentransplantation. Habe schon geredet mit reichen Weißrussen und Ukrainern, die alle gern hierher als Patienten kommen würden“, schwadronierte der unheimliche Besucher drauflos.