Kitabı oku: «Isabelle», sayfa 3

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Zum Glück war er ein Mann mit Stil, gewissermaßen ein Gentleman. Er akzeptierte mein Nein, zumindest an diesem Abend. Wir setzten uns an einen Tisch, weitab der Tanzfläche und unterhielten uns. Zeitweise kam es mir vor, als hätte es diese Annäherung von vorhin nicht gegeben.

Irgendwann kamen wir auf mich, auf meinen Mann und unsere Ehe zu sprechen. Wahrscheinlich weil ich zu viel Alkohol getrunken hatte, erzählte ich ihm in einer schwachen Minute von Ronnis Seitensprung und seinen Träumen.

Ich sagte ihm auch, dass wir nach Mallorca fliegen wollten, sozusagen als Neuanfang unserer Beziehung.

„Und wenn das nicht funktioniert mit dem Neuanfang, was machst du dann?“, fragte er und schaute mich dabei unerwartet ernst an.

„Dann suche ich mir dort einen neuen Mann“, lachte ich.

„Leider stehst du dort dann nicht zur Verfügung“, fügte ich mit einem Augenzwinkern hinzu.

Er schaute mich gespielt unglücklich an. Oder war das gar nicht gespielt?

Wir sprachen noch darüber, wie schade es sei, dass nach einer so kurzen Ehe bereits solch enorme Schwierigkeiten auftraten. Dabei unterstrich ich immer wieder, dass diese Schwierigkeiten nicht durch mein Fehlverhalten aufgetreten seien, sondern Ronni allein die Schuld daran tragen würde.

Rolf war sehr mitfühlend und hatte für mich Verständnis. Leider beging ich den Fehler und ließ mich von ihm trösten. Dabei kamen wir uns erneut näher und wir küssten uns flüchtig auf den Mund. Und wieder bildete ich mir ein, Ronnis Fremdgehen zu strafen.

Obschon nicht mehr geschehen war, hatte ich das Gefühl, mit Rolf einen Verehrer zu haben, der seine Chance weiterhin suchte und in Zukunft nicht locker lassen würde. Ich ahnte damals nicht, wie Recht ich damit haben sollte.


Nun saß er im Bus und ich rätselte, was er vorhatte, was er von mir wollte. Dass er zufällig auf Mallorca, zufällig in Porto Sóller und zufällig hier im Bus war, konnte ich nicht glauben.

Vielleicht musste ich gar nicht den Kontakt zu ihm aufnehmen, um seine Absicht zu erfahren. Möglicherweise würde er sogar den Kontakt zu mir aufnehmen wollen. Hoffentlich würde er dann so diskret sein, einen Zeitpunkt zu wählen, wenn mein Mann nicht in der Nähe war.

Aber wieso sollte er eigentlich? Sollte Ronni doch erfahren, dass auch ich meine Männergeschichten hatte. Er wäre der Letzte, der mir etwas vorwerfen könnte.

So tendierten meine Gedanken einmal in die eine, dann in die andere Richtung, ohne dass ich mich für eine Variante hätte entscheiden können.

Nachdem der Bus den Straßentunnel Mirador-Ma-10 passiert hatte, öffnete sich das Gelände und eine fantastische Bergwelt lag vor uns. Wer bisher noch nicht seine Kamera gezückt hatte, nahm sie jetzt zur Hand. Im Bus war das fortwährende Klicken der Auslöser zu hören. Auch mein Mann gab sich ganz der Landschaft hin und schoss ein Bild nach dem anderen.

Die Straße verlief jetzt unterhalb des Puig Major, der mit 1445 m der höchste Berg Mallorcas ist. Nachdem wir die Militärbasis Puig Major passiert hatten, führte uns die Straße leicht abwärts und wir sahen in der Ferne den Cúber-Stausee in seiner intensiv blau schimmernden Farbe. Wenige Minuten später hielt der Bus auf dem Wanderparkplatz an und Ronni und ich, sowie ein kleiner Teil der Reisenden stiegen aus. Der Rest würde sicherlich weiter zum Kloster Lluc oder nach Can Picafort zum Baden fahren.

Ronni warf sich den Rucksack über die Schulter und stürmte sofort los in Richtung See. Ich folgte ihm in zwei bis drei Meter Abstand, wobei ich unauffällig Ausschau nach Rolf hielt. Würde er die gleiche Strecke wandern wie wir? Die übrigen Reisenden wählten einen anderen Weg. Rolf war nirgendwo zu sehen. Weder war er bei der Gruppe der anderen Wanderer, noch folgte er uns.

Wahrscheinlich war er im Bus geblieben und hatte andere Pläne. Irgendwie war ich beruhigt.

Ich schloss zu Ronni auf und genoss zum ersten Mal an diesem Tag die überwältigende Landschaft. Den Puig Major im Rücken, ging es zunächst bequem am linken Stauseeufer entlang in Richtung Staumauer. Vor dem Überqueren der Staumauer stellten wir uns abwechselnd an das Geländer und machten die üblichen, gestellten Touristenfotos.

Nach kurzer Zeit stieg der Weg an und wir durchquerten das Gelände der großen Finca L‘Ofre. In der Ferne sahen wir bereits den Sattel, den höchsten Punkt unserer Wanderstrecke. Wir verließen den bisher breiten Weg und bogen in einen schmalen Pfad ein, der steil bergauf führte.

Vorher drehte ich mich nochmals um und suchte mit den Augen, soweit ich schauen konnte, den bisher gegangenen Weg ab. Von meinem Juniorchef war keine Spur zu sehen.

Oben angekommen, gingen wir noch ungefähr fünfzig Meter bis zu einem Aussichtsplatz. Von dort hatten wir einen freien Blick auf Sóller und seine Umgebung. Die Felswände fielen von hier steil in eine Schlucht ab.

Bisher hatten wir nur wenig miteinander geredet. Wenn, dann nur über die großartige Landschaft und das tolle Wetter. Das war ganz in meinem Sinne. Für tiefgreifende Gespräche war ich Moment nicht in der Stimmung.

Ronni stellte den Rucksack ab, gab mir die Kamera und kletterte zum Rand der Schlucht.

„Bleib doch hier am Weg stehen. Das Foto wird doch dann genauso schön!“, rief ich ihm hinterher.

„Nein, nein. Wenn schon ein Bild von dieser grandiosen Aussicht, dann soll ich auch auf dem Foto zu sehen sein“, war seine Antwort, die ich auch in dieser Form erwartet hatte.

Ich ärgerte mich immer wieder über solche waghalsigen Aktionen und fragte mich, wieso er unbedingt mit auf dem Foto abgelichtet werden musste. Die tolle Landschaft mit Blick auf Sóller und dem Meer in der Ferne reichte doch völlig aus. Ein solch schönes Landschaftsbild würde mir auch in Zukunft noch gefallen. Fotos, auf denen mein Mann im Vordergrund stand, interessierten mich nicht mehr. Sollte er sich doch die Beine brechen. Mir war das grundsätzlich egal. Nur dass in solch einem Fall mein Urlaub beendet sein würde, ärgerte mich.

„Aber was bringt es, wenn du bei dieser Aktion umknickst und dir den Fuß oder das Bein brichst?“, versuchte ich ihn daher von seinem Vorhaben abzubringen.

„Du immer mit deinen Ängsten.“

Dabei lachte er kurz und drehte sich lächelnd zu mir um. Ich lächelte nicht zurück. Mir fehlte einfach die Lockerheit.

„So, du kannst jetzt den Auslöser betätigen“, forderte er mich auf.

„Ich kann kaum etwas erkennen. Die Sonne scheint direkt auf das Display.“

„Schirm das Display mit einer Hand ab. Das hilft vielleicht. Das wird bestimmt eines der schönsten Fotos dieser Woche“, orakelte er lachend.

Mir war völlig unverständlich, woher er seine Hochstimmung und gute Laune nahm. Seitdem ich Rolf gesehen hatte, war bei mir keine Hochstimmung vorhanden, sondern nur noch Hochspannung. Trotzdem unternahm ich verschiedene Versuche, das Display vor der Sonne abzuschirmen, damit ich etwas erkennen konnte.

„Nun mach schon! Ich kann nicht ewig hier so stehen bleiben!“, rief er jetzt ungeduldig.

Ich konzentrierte mich auf das Display, damit ich endlich das geplante Foto einigermaßen beurteilen konnte.

Mit einem Mal lenkte mich das Gepolter von Steinen ab. Ich schaute von meiner Kamera auf und blickte in die Richtung des Abhangs. Verzweifelte Hilfeschreie ertönten. Mein Mann stand nicht mehr an der Stelle, an der er vorher noch für das „schönste“ Foto posiert hatte. Ronni war weg – einfach nicht mehr da.

Mir war sofort klar, dass er abgestürzt sein musste. Ich war zu keiner Reaktion fähig. Ich stand da, mit dem Fotoapparat in der Hand und konnte mich nicht von der Stelle rühren. Ich war wie versteinert.

Erneut drang ein langgezogener Hilferuf an mein Ohr, der aus der Tiefe des Abhangs zu kommen schien.

Plötzlich legte sich eine Hand auf meine Schulter. Meine Starre schien sich noch zu verstärken, falls das überhaupt möglich war. Mein Gehirn versagte seinen Dienst.

„Bleib ganz ruhig. Jetzt hast du die Chance, die du haben wolltest. Du kannst endlich Rache üben, für das, was er dir angetan hat. Ich stehe zu dir, was auch immer du jetzt tun wirst.“


Mir läuft gegenwärtig ein Schauer über den ganzen Körper, als ich mich erinnere, wie ich Rolfs Stimme hinter mir erkannte. Ich habe bis heute keine Ahnung, wo er so plötzlich herkam. Ich hatte ihn bei der Ankunft am Wanderparkplatz vergeblich gesucht. Auch unterwegs hatte ich mich mehrmals erfolglos nach ihm umgeschaut. Und plötzlich war er einfach da. Wie aus dem Nichts.


Meine Lebensgeister erwachten wieder und ich schüttelte die Hand von meiner Schulter. Wie in einem Albtraum, in dem man das Ende des Weges nie erreicht, kletterte ich über die Felsen. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte ich den Abhang.

Ronni hielt sich mit beiden Händen an einer schmalen Felskante fest. Seine Fingerkuppen waren blutig.

Mit spröder Stimme bat er mich, mit beiden Händen einen Arm von ihm zu fassen und ihn hochzuziehen.

Er legte seinen Kopf ein wenig in den Nacken und schaute mir in die Augen, so wie er mir noch nie in die Augen gesehen hatte. Ich sah seine Angst, seine Todesangst. Dann schwenkten seine Augen zu Rolf, der neben mich getreten war.

„Du entscheidest, was jetzt geschehen soll.“

Rolf war neben mich getreten und sprach so ruhig wie jemand, den die groteske Situation in keiner Weise berührte.

Ronnis Augen weiteten sich, als er verstand, was geschehen würde. Sein letzter Hilfeschrei drang noch bis an mein Ohr, aber nicht mehr in meinen Kopf.


„Guten Tag. So ganz alleine hier in der Heide?“, ertönt neben mir eine freundliche männliche Stimme.

Ich erschrecke fast zu Tode und werde abrupt aus meinem Horrorszenario der Erinnerungen gerissen.

„Oh, Entschuldigung. Ich wollte Sie nicht erschrecken.“

„Nicht so schlimm“, lüge ich.

„Ich war so in Gedanken versunken, dass ich Sie nicht bemerkt habe“, füge ich als Erklärung hinzu.

Ich drehe mich zur Seite und schaue in ein Gesicht mit markanten Zügen, einem breiten Kiefer und einem ausgeprägten Kinn. Ein freundliches Lächeln um seine Mundwinkel und seine gebräunte Haut lassen ihn für mich seriös erscheinen. Nach dem ersten Blick würde ich sagen: Der Mann gefällt mir, auch wenn er mindestens zehn Jahre älter ist als ich.

„Wo wollen Sie denn hin?“, will er wissen.

„Bis kurz vor Troisdorf und dann auf der anderen Straßenseite zurück nach Altenrath“, gebe ich bereitwillig Auskunft.

„Und wohin wollen Sie?“, frage ich leicht naiv hinterher, obschon ich den Mann doch überhaupt nicht kenne und mich das auch grundsätzlich nicht interessiert.

„Ich gehe bis zu den ersten Häusern von Troisdorf. Dort habe ich dann meine kleine Wanderung beendet. Am Waldrand steht mein Auto“, antwortet der Mann und führt sofort das Frage und Antwortspiel weiter.

„Meine Wanderstrecke ist bei weitem nicht mit Ihrer Strecke vergleichbar. Sind Sie denn gar nicht ängstlich? Als junge Frau ganz allein hier in der Heide? In dieser Jahreszeit und dann an einem Wochentag sind hier nicht viele Menschen unterwegs.“

Dabei mustert er mich von der Seite. Ein zufriedenes Grinsen zeigt mir, dass sein Urteil gut ausgefallen zu sein scheint.

„Nein, ich bin nicht ängstlich. Ich glaube, es gibt wesentlich weniger schlechte Menschen, als allgemein angenommen wird“, antworte ich und gebe ihm ein Lächeln zurück.

„Dann können wir doch bis Troisdorf zusammen gehen, wenn Sie nichts dagegen haben? Es sei denn, Sie möchten wieder Ihren Gedanken nachhängen?“

„Nein, nein. Es ist schon in Ordnung, wenn ich nicht so viel nachdenke. Ein wenig Abwechslung tut mir sicherlich gut.“

Während der Unterhaltung sind wir langsam weitergegangen. Jetzt, da wir ein gemeinsames Ziel haben, schlagen wir wieder ein normales Wandertempo an.

Damit die Unterhaltung nicht ins Stocken gerät, frage ich ihn, ob er sich seine Bräune im Urlaub im Süden geholt habe.

„Nein. Ich war nicht in Urlaub. Im Frühjahr und im Sommer lebe ich in Spanien, auf Mallorca. Im Herbst komme ich dann nach Deutschland. Ich bin erst vor einer Woche angekommen.“

Jemand, der in Spanien lebt, wenn auch nur zeitweise, weckt natürlich mein Interesse.

„Und wo leben Sie auf Mallorca? Bestimmt in einer dieser Touristenmetropolen? Dort liegen Sie den ganzen Tag am Strand in der Sonne oder vertreiben sich die Zeit mit Wassersport.“

Ich versuche, ihn mit dieser Behauptung ein wenig aus der Reserve zu locken.

„Nein, um Gottes willen, nein“, lacht er mir ins Gesicht und zeigt mir dabei seine strahlend weißen Zähne, um dann sofort ernsthaft eine Erklärung hinterherzuschicken.

„Meine Mutter betreibt in Biniaraix, das ist ein kleines Dorf im Tramuntana-Gebirge, eine kleine Taberna. Im Frühjahr und Sommer, wenn die Touristen vom Cúber-Stausee oder von Fornalutx kommen und durch das Dorf nach Sóller wandern, helfe ich ihr. Im Herbst und Winter gehe ich dann meinen Geschäften in Deutschland nach.“

Bei den Worten „Biniaraix“, „Tramuntana-Gebirge“ und „Cúber-Stausee“ bleibe ich unbeabsichtigt stehen. Ich bin geschockt. Mir wird übel.

„Was haben Sie? Habe ich etwas Falsches gesagt?“, fragt mein Begleiter besorgt.

„Nein, nein. Es ist schon wieder alles in Ordnung. Mir wurde nur gerade schwindelig.“

„Sie sind auch ganz schön blass. Haben Sie das öfter?“

„Ja, manchmal. Aber es geht wieder.“

„Sind Sie sicher? Ich kann vorgehen, das Auto holen und Sie gerne nach Hause fahren.“

„Nein, nein, das ist nicht notwendig. Es ist schon vorbei. Mir geht es wieder gut.“

„Dort unten ist die Straße. Von dort ist es nicht mehr weit bis zu der Stelle, von der Sie zurück nach Hause gehen können.“

Er zeigt mit ausgestrecktem Arm zum Ende des Weges. Durch die kahlen Sträucher kann ich die Straße bereits sehen.

„Wir überqueren die Straße und halten uns danach links. Ich begleite Sie noch bis zur Altenrather Straße. Dort können Sie dann, so wie Sie es geplant haben, auf der anderen Straßenseite nach Altenrath zurückgehen. Ich habe von dort aus nur noch ein kleines Stück Weg bis zu meinem Wagen, der kurz vor Troisdorf steht.“

Die Unterhaltung ist beendet, obschon mir eine Menge Fragen auf den Lippen brennen. Mir fehlt der Mut, diese Fragen zu stellen, da ich Angst vor den Antworten habe.

Ich spüre, wie er mich hin und wieder von der Seite prüfend anschaut. Wahrscheinlich macht er sich Sorgen um mein Wohlergehen, denke ich. Als wir die Straße erreichen, die ich vom Wald aus gesehen habe, sind es vielleicht nur noch fünfhundert Meter bis zur Altenrather Straße.

Bevor er sich verabschiedet, vergewissert er sich nochmals, dass es mir wieder gut geht und bietet erneut seine Fahrdienste an, die ich aber dankend und entschieden ablehne.

„Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Rückweg und passen Sie auf sich auf. Ich bin sicher, wir sehen uns demnächst wieder“, sagt er zum Abschied.

„Vielleicht treffen wir uns erneut beim Wandern hier in der Heide“, fügt er nach dem nächsten Atemzug hinzu.

Ich bin froh, als er mir die Hand gibt und sich verabschiedet. Ich benötige nun unbedingt etwas Zeit und Ruhe, um das, was dieser Mann soeben über sich, seine Mutter und über Mallorca gesagt hat, zu verarbeiten und einschätzen zu können.

Erst jetzt fällt mir ein, dass ich noch nicht einmal nach seinem Namen gefragt habe. Der Mann hatte aber auch nicht nach meinen Namen gefragt – vielleicht zum Glück. Oder kennt er meinem Namen und hat deshalb nicht danach gefragt? Ich bekomme ein flaues Gefühl im Magen und meine Beine werden zittrig.

Ich lehne mich gegen einen Baumstamm. Nach kurzer Zeit habe ich mich soweit erholt, dass ich die Straße überqueren und den Heimweg antreten kann.

4


Der Rückweg nach Hause steigt leicht an. Wobei ich die kleine Wohnung in Altenrath bereits als mein Zuhause betrachte. Der Wanderweg führt ständig entlang der Straße. Bestimmt hätte ich auch einen Weg finden können, der weiter entfernt von der Straße verläuft, aber ich will auf dem schnellsten Weg zurückgehen.

Es ist erst wenige Tage her, seitdem ich in die möblierte Wohnung in Altenrath eingezogen bin. Ich hatte gehofft, dort, wo mich niemand kennt und wo mich nichts an die Vergangenheit erinnert, Ruhe und Abstand von den verhängnisvollen Ereignissen der letzten Monate zu finden.

Stattdessen stelle ich zu meinem Entsetzen fest, dass sich meine beklemmenden Unruhezustände und Angstgefühle verschlimmern. Oft komme ich auch nachts nicht zur Ruhe und tagsüber plagen mich dann Kopfschmerzen. Darüber hinaus treffe ich heute zufällig diesen Mann in der Wahner Heide, der für eine lange Zeit im Jahr auf Mallorca lebt. Diese Tatsache wäre nicht einmal gravierend. Dass er im Tramuntana-Gebirge und dort ausgerechnet in Biniaraix lebt, hat mich dann doch beinahe die Fassung verlieren lassen.

Biniaraix ist immerhin der Ort, der im Tal unterhalb der Stelle liegt, von der Ronni abgestürzt ist. Oben am Berg waren wir völlig allein. Da bin ich mir hundertprozentig sicher. Aber unten im Ort …

Natürlich, er hat doch gesagt, dass seine Mutter im Ort eine Taberna betreibt, in der er im Sommer hilft. Ich war später in einer kleinen Bar in Biniaraix. Vielleicht war das die Taberna seiner Mutter. War er womöglich seinerzeit auch in der Bar und hat mich wiedererkannt? Möglich wäre es, aber nicht sehr wahrscheinlich, sage ich mir zur Beruhigung. Eine Bar besuchen viele Menschen, gerade im Sommer und ausgerechnet mich soll er wiedererkannt haben? Unwahrscheinlich. Und falls doch, dürfte das auch kein Problem darstellen. Wenn er in der Bar war, konnte er unmöglich gesehen haben, was weit oben am Berg geschehen war.

Trotz alledem habe ich immer noch Zweifel, ob die Begegnung tatsächlich rein zufällig war. Zumal er beim Abschied so bestimmt sagte, dass wir uns wiedersehen werden. Erst als ich ihn verwundert anschaute, fügte er schnell hinzu, dass wir uns vielleicht noch mal beim Wandern in der Heide treffen würden.

Ach, Blödsinn, ich sehe bestimmt schon Gespenster. Der Mann macht auf mich einen aufrichtigen Eindruck, sieht gut aus und ist sympathisch, sogar sehr sympathisch. Sofern man das nach einer verhältnismäßig kurzen Begegnung beurteilen kann.

Sollten wir uns noch einmal treffen, werde ich alle Fragen stellen, die ich aus Angst vorhin nicht gestellt habe.

Dann werde ich zweifellos feststellen, dass meine Bedenken völlig unbegründet sind.

Ich ärgere mich über mich selbst, wieso ich mir wieder die fatalen Geschehnisse ins Gedächtnis rufe. Aber was soll´s.

Ich erreiche gerade eine Straßengabelung. Ein Blick auf meine Karte sagt mir, dass ich die Straße überqueren und weiter den Weg geradeaus entlang der Straße benutzen muss.

Es wird noch eine Weile dauern, bis ich zu Hause bin. Nur wenn ich mich mit dem, was nicht mehr zu ändern ist, unterwegs beschäftige, kann ich es bestimmt schneller verarbeiten. Hier draußen an der frischen Luft und in Bewegung ist das einfacher, als wenn ich allein in der Wohnung sitze und Trübsal blase.


Ronni war abgestürzt. Rolf, mein Chef, und ich hatten es nicht verhindert – im Gegenteil. Das ist die Realität, aus der ich das Beste für mich machen will und mit der ich künftig leben muss.

„Ronni ist tot. Du hast es so gewollt. Komm, wir müssen hier weg“, waren Rolfs erste Worte, nachdem Ronni abgestürzt war und das Poltern der Steine und des Gerölls verstummte.

Ich schubste ihn mit beiden Händen zur Seite. Ich wollte das nicht hören. Noch nicht einmal seine Stimme vernehmen. Ich wollte nicht wieder bedrängt werden und irgendwelche Anweisungen befolgen. Würde er mich doch nur allein lassen und einfach verschwinden, dachte ich. Ich drehte mich um und kehrte ihm den Rücken zu.

Ich musste mit mir klarkommen. Ich musste durchatmen, mich beruhigen und schlug die Hände vors Gesicht.

Er schien das begriffen zu haben und ließ mir ein wenig Zeit.

In meinem Kopf schwirrten die Gedanken wie in einem Bienenstock. Einen klaren Gedanken konnte ich nicht fassen. Lediglich eine Erkenntnis kristallisierte sich heraus: Rolf und ich waren aufeinander angewiesen und es nutzte gar nichts, wenn ich mich von ihm abwand und ihn ignorierte.

Ich drehte mich wieder zu ihm hin und schaute ihn fragend und auch etwas flehend an, denn ich baute darauf, dass er sagen würde, was zu tun war.

Rolf nahm sofort die Gelegenheit wahr und entschied, dass wir uns sofort trennen müssten und jeder für sich den Weg hinab ins Tal gehen sollte. Er fand es wichtig, dass uns niemand zusammen in den Bergen sah.

„Ich gehe zuerst. Warte noch etwas, bevor du mir folgst. Wir treffen uns in Biniaraix in einer ‚Kneipe‘. So viele gibt es dort nicht. Du wirst mich schon finden. Wir werden dort besprechen, wie es weitergeht.“

Er wartete keine Antwort oder einen Einwand von mir ab, sondern drehte sich um und machte sich auf den Weg ins Tal.

Ich stand allein hier oben am Abhang, wo irgendwo tief unten der Leichnam meines Mannes lag.

Warum hatte ich zugelassen, dass das, was geschehen war, geschah? War meine Seele zu schwach, um die Verletzungen, die Ronni mir zugefügt hatte, zu ertragen? War das der Grund für die Eskalation der Gewalt gewesen? Damals, als Ronni mir seinen Seitensprung gebeichtet hatte und mir gestand, wie sehr er Lisa begehrt hatte, hatte ich ihm Rache geschworen. Ich wollte ihn leiden sehen. Doch jetzt, wollte ich das immer noch? Wollte ich tatsächlich seinen Tod? Ich war mir zumindest unsicher.

Ich beugte mich soweit es ging über den Rand des Abhangs. In der flirrenden Luft sah ich nur kahle, steile Felsen, aufgelockert durch Stellen mit Geröll aus Felsgestein, das mit niedrigem Buschwerk bewachsen war. Die Natur schien Ronni verschluckt zu haben.

Die Sonne stand als riesiger, glühender Ball fast direkt über mir. Es wehte kein Lüftchen. Nichts bewegte sich. Es war so still, wie zu der Zeit, als wir hier oben angekommen waren.

„Ronni, hörst du mich?“

Stille, absolute Stille. Er antwortete nicht.

Ich schaute mich unsicher um. Es war niemand zu sehen. Ich versuchte es noch einmal.

„Ronni, kannst du mich hören?“

Ich lauschte angestrengt. Die Stille dröhnte in meinen Ohren. Nichts.

Ich begriff langsam, dass Rolf recht hatte. Ronni hatte den Absturz nicht überlebt. Er hatte keine Chance, dafür war an dieser Stelle der Abhang zu steil und zu tief.

Ich hatte es so gewollt – es war so geschehen. Ich hätte zufrieden sein müssen, war es aber nicht. Ich musste mir eingestehen, dass direkt im Anschluss an Gewalt ein großes Stück Verzweiflung aufkommt.

Ich löste mich aus dem Bann der Absturzstelle und kletterte über die Felsen zurück zum Weg. Als ich mir den Rucksack über die Schulter hing, stutzte ich. War das eine Sinnestäuschung, die bei meiner jetzigen Anspannung durchaus verständlich wäre?

Aus der Schlucht, dem Barranc de Biniaraix, drang die Musik eines Dudelsacks zu mir hoch.

Wer spielte hier in dieser verlassenen Gegend Dudelsack? In einem Gelände, in dem vor kurzer Zeit ein Mensch ums Leben gekommen war. Im ersten Moment fand ich das äußerst makaber. Ich wurde nervös. Kann womöglich ein Zusammenhang zwischen dem Dudelsackspiel und Ronnis Todessturz bestehen?, überlegte ich.

Ich hatte das Gefühl, bald durchzudrehen. Ich stemmte mich gegen dieses Gefühl. Nein, entschied ich energisch. Es war kein Zusammenhang möglich. Es konnte nur Zufall sein.

Ich machte mich auf den Weg in die Tiefe des Barranc.

Der Weg war ein jahrhundertealter Pfad, der früher ein Zugangsweg zu den Olivenplantagen gewesen war und später als Pilgerweg genutzt wurde. Der Belag bestand ausschließlich aus rundgetretenem Kopfsteinpflaster. In regelmäßigen Abständen folgten Stufen und eine Serpentine reihte sich an die andere, in schier unendlicher Folge.

Der Abstieg war beschwerlich, auch wenn es bergab ging. Bereits nach kurzer Zeit klebte mir mein T-Shirt am Körper und meine Knie schmerzten.

Der Weg schmiegte sich auf der rechten Seite an schroff und störrisch abfallende Felswände. Links befand sich der Canyon.

Immer wieder suchten meine Augen die Felsen und Geröllfelder ab. Keine Spur von Ronni.

Der Weg ins Tal dauerte unendlich lange. Unterwegs fragte ich mich mehrmals, wo eigentlich mein schlechtes Gewissen blieb? Bei einem Menschen, der Schuld auf sich geladen hat, muss doch das schlechte Gewissen anklopfen, grübelte ich. Ich konnte dagegen keinerlei Gewissensbisse empfinden. Jedes Mal, wenn ich mir diese Frage stellte, hatte ich stattdessen das Bild meines Mannes, vereint im Liebesakt mit Lisa, vor Augen.

Trotzdem plagten mich Zweifel. Wie sollte es jetzt weitergehen? Ich hatte keinen Plan. Wie sollte ich auch? Ich war unvorbereitet in diese Situation geraten. Klar, ich hatte Rache gewollt. Ich hatte mir sogar vorgestellt, dass ich ihn aus Wut erschlagen würde. Er sollte auch leiden, aber als ich mich dann tatsächlich entscheiden musste, war ich planlos gewesen und hatte spontan reagiert.

Ich hatte jetzt während des Abstiegs Zeit, meine nächsten Schritte zu überlegen und nicht wieder spontan zu handeln.

Sollte ich nicht besser die Polizei einschalten und erklären, Ronni sei aus eigenem Verschulden abgestürzt? Man würde eine aufwendige Suchaktion starten und wenn man ihn gefunden hätte, ärztlich untersuchen. Aber wie sollte ich dann seine Handverletzungen und womöglich Brüche der Finger erklären? Auf jeden Fall würde mich die spanische Polizei so lange festhalten, vielleicht sogar ins Gefängnis stecken, bis die Obduktion durchgeführt wäre. Spätestens dann wäre unzweifelhaft klar, dass eine Fremdeinwirkung vorliegen musste.

Außerdem war völlig unklar, wie Rolf dazu stehen würde. So wie ich ihn einschätzte, würde er die Einschaltung der Polizei strikt ablehnen.

Nein. Mein Entschluss stand fest: keine Polizei!

Je weiter ich abstieg, desto mehr änderte sich die Landschaft. Der Barranc auf meiner linken Seite hatte sich in Terrassen verändert, die durch uralte Trockenmauern gehalten wurden auf denen knorrige Olivenbäume seit scheinbar ewigen Zeiten wuchsen.

Die Musik des Dudelsacks hatte vor einigen Minuten so überraschend geendet, wie sie begonnen hatte. Irgendwie war ich erleichtert darüber.

Bevor das Kopfsteinpflaster endete, musste ich ein Mal über eine alte Brücke und ein anderes Mal von Stein zu Stein einen Bach überqueren, der zu dieser Jahreszeit nur wenig Wasser führte. Ich hielt inne und spritzte mir das kalte Wasser ins Gesicht. Die Erfrischung setzte neue Kräfte in mir frei.

Am früheren Waschhaus kam ich in das Bergdorf Biniaraix. Der Weg war jetzt eine schmale Gasse, die weiter bergab an historischen, mallorquinischen Häuserfassaden vorbei zum Kirchplatz führte.

Ich betrachtete die alten Häuser ringsum. Die Kirche konnte ich nicht direkt ausmachen, da sie zwischen zwei Häusern eingezwängt war und praktisch keine Fassade hatte. Zum Hauptportal führte eine Treppe hoch. Daneben erhob sich der weiße Glockenturm, der zwischen Portal und Häusern eingezwängt und kaum erkennbar war.

Die Kirche zog mich unwiderstehlich an. Langsam stieg ich die Stufen hoch und öffnete die schmucklose, schwere Holztür in einem ebenso schmucklosen Portal. Ich trat ein und schaute mich um. Da ich aus dem gleißenden Sonnenlicht kam, empfand ich die Kälte und Dunkelheit im Kirchenraum als angenehm. Es dauerte einige Sekunden, bis sich meine Augen an das spärliche Licht gewöhnt hatten. Ich ging den Gang neben den Bänken entlang bis fast vor den Altar.

Die Kirche bestand aus nur einem Schiff. An den Seiten erkannte ich mehrere Kapellen. In den Bänken saßen einige ältere Frauen und schienen ins Gebet vertieft. Sie waren einfach gekleidet. Manche trugen ein Kopftuch.

Diesen Frauen ging es wahrscheinlich schlechter als mir. Sie suchten vielleicht Trost und Hilfe im Gebet. Der Pfarrer kreuzte den Altar, der aus Stein oder Marmor bestand, wobei ich mir Marmor in Anbetracht der allgemeinen Einfachheit des Gotteshauses nicht vorstellen konnte. Er machte einen Knicks, bekreuzigte sich und verschwand in einer Tür neben dem Altar. Die wenigen Gläubigen beachtete er nicht. Anscheinend ein uralter Mann, der nur mit Gott verbunden zu sein schien.

Ich wollte wieder hinaus in die Sonne. Mich fröstelte es in meinem durchschwitzten T-Shirt und ich fühlte mich hier drinnen fehl am Platz. Ich bin nicht gläubig, obschon ich in Spanien geboren bin. In einem Land, in dem der Großteil der Bevölkerung der katholischen Glaubensgemeinschaft angehört.

Bisher hatte ich Gott nichts zu sagen gehabt, auch jetzt nicht.

Und er mir scheinbar auch nicht.

Als ich mich zum Gehen umdrehte, fiel mein Blick auf einen männlichen Rücken, der sich zum Ausgang hinbewegte. Die Person hob sich von den übrigen Anwesenden ab. Nicht, weil es ein Mann war, sondern wegen seiner Kleidung: Weißes Hemd, rote Hose und Turnschuhe. Besonders jedoch wegen seiner Haltung. Groß, aufgerichtet, mit erhobenem Kopf. Genau wie Ronni. Auch die rote Hose, genau wie Ronnis Hose.

Der Mann hatte bereits die Eingangstür passiert und die Tür schloss sich hinter ihm.

Ich überlegte nicht lange. Ich reagierte sofort und rannte den Gang hinunter zum Ausgang. Meine Schritte hallten im Kirchenschiff. Eine ältere Dame in der letzten Reihe schaute mich an und schüttelte den Kopf. Ich hatte sie offensichtlich im Gebet gestört. Ich reagiert nicht auf ihre Geste und lief weiter. Auch ich wurde gerade gestört, gestört von einem Mann, der Ronni sein konnte, wenn das überhaupt möglich war. Konnte Ronni augenscheinlich völlig unversehrt und aufrecht durch die Kirchentür verschwinden?

Ich riss die Tür auf. Die Sonne blendete mich und ich musste einen Moment stehen bleiben. Dann schaute ich mich um. Am Ende des Platzes bog der Mann in eine enge Seitenstraße ein. Ich lief ihm hinterher.

Als ich nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war, rief ich laut „Hallo, bleiben Sie bitte stehen!“

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