Kitabı oku: «Totenstille am See»
Heribert Weishaupt
Totenstille am See
Ein Troisdorf-Krimi
Heribert Weishaupt
Totenstille am See
Ein Troisdorf-Krimi
Cover:
Sieglarer See, Foto: Heribert Weishaupt
Illustration: adpic.de / A. Armyagov
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.
Alle Rechte vorbehalten!
1. Auflage
© Winter 2013
Impressum
ratio-books • 53797 Lohmar • Danziger Str. 30
info@ratio-books.de (bevorzugt)
Tel.: (0 22 46) 94 92 61
Fax: (0 22 46) 94 92 24
eISBN: 978-3-939829-99-7
published by
Inhalt
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
Epilog
Anmerkung
Wer der Meinung ist, dass man für Geld alles haben kann, gerät leicht in den Verdacht, dass er für Geld alles zu tun bereit ist.
(Benjamin Franklin)
Prolog
Die nackte Glühbirne tauchte den Raum in ein diffuses Licht. Wahrscheinlich war es eine der letzten des 130 Jahre alten Leuchtmittels, das ab September 2012 nicht mehr auf den Markt gebracht werden durfte. Die Lichtstärke von 20 Watt ließ den mehr als dreißig Quadratmeter großen Raum noch düsterer und unheimlicher wirken, als er tatsächlich war. In den kahlen Betonwänden befand sich weder ein Fenster noch irgendeine sonstige Öffnung. Lediglich eine verrostete Eisentüre unterbrach den kahlen Beton. Die Luft war feucht und der Geruch von Exkrementen erschwerte zusätzlich das Atmen.
Er lag auf dem Rücken, Beine und Arme leicht vom Körper abgewinkelt. Seine Hände und Fußgelenke waren mit schmalen Lederriemen an ein in den Beton eingelassenes Eisen rechts und links von ihm angebunden. Über seine Stirn zog sich ein ähnlicher Lederriemen und gestattet nicht die kleinste Drehung des Kopfes.
Die einzige Bewegung, die seine Fesseln zuließen, war das Zittern, das seinen gesamten Körper ergriffen hatte.
In regelmäßigen Abständen fiel ein Wassertropfen genau auf seine Nasenwurzel zwischen seinen Augen. Er konnte den Zeitabstand bis zum nächsten Tropfen genau einschätzen. Bereits kurz vorher schloss er seine Augen und verbarg dadurch seine geröteten Augäpfel.
Er hätte nie gedacht, dass diese Foltermethode so grausam sein könnte. Die Kälte, die der feuchte Betonboden abgab, nahm er seit geraumer Zeit nicht mehr bewusst wahr.
Er war sicher, dass er diesen Raum nicht mehr lebend verlassen würde. Inzwischen war er so weit, dass er den Tod herbeisehnte. Die Vorstellung, bald dieses erlösende Gefühl zu spüren, ließ ihn die Schmerzen und Qualen weiter ertragen.
„Unterschreibe und alles ist vorbei und du bist frei“, drang wieder diese dumpfe, monotone Stimme mit den gleichen, eindringlichen Worten an sein Ohr und ließ ihn aufschrecken.
Er würde nicht unterschreiben, egal was sie mit ihm anstellten. Dieser letzte Triumph würde ihm gehören. Denn auch, wenn er sich tatsächlich entschließen würde zu unterschreiben, würde man ihn mit Sicherheit nicht freilassen.
„Niemals“, war zum wiederholten Male seine Antwort, die krächzend aber bestimmt aus seinem Mund kam.
Und wieder traf ein Wassertropfen seine Nasenwurzel und das Wasser rann ihm in die entzündeten Augen. Wieso musste Sterben so schwer sein?
Paul Altmann erwachte, schlug die Augen auf und saß gleichzeitig aufrecht im Bett. Es dauerte einige Augenblicke, bis er begriff, dass er geträumt hatte. Der dünne Schlafanzug klebte an seinem schweißnassen Körper. Er zitterte. Doch jetzt war kein Albtraum dafür verantwortlich, in dem er vor Angst zitternd auf dem Boden lag, sondern der Herbstwind, der durch das halb geöffnete Fenster blies.
Inzwischen häuften sich die Nächte, in denen Albträume ihn um den gesunden Tiefschlaf brachten. Trotzdem stand sein Entschluss fest. Er würde nicht klein beigeben.
1. Kapitel
Die letzten herbstlichen Sonnenstrahlen versanken am Horizont hinter dem Kirchturm der St.-Johannes-Kirche in Troisdorf-Sieglar. Mit dem Untergang der Sonne endete ein angenehm, warmer Herbsttag und in den nächsten Stunden würden die Temperaturen erheblich sinken. Franz Bertram fuhr mit seinem Wagen die Hüttenstraße entlang bis zum Wanderparkplatz direkt hinter dem Hochwasserschutzdamm der Sieg, die von hier aus in wenigen Kilometern in den Rhein mündet. Dort stellte er seinen alten Mercedes 190 D ab. Inzwischen war sein geliebtes Gefährt stolze zwanzig Jahre alt. Er würde ihn auch künftig hegen und pflegen – und nach weiteren zehn Jahren wäre er würdiger Besitzer eines Oldtimers.
Der Parkplatz war an diesem Samstagabend leer. Die Spaziergänger und Wanderer, die das schöne Wetter genutzt hatten, waren um diese Zeit wieder zu Hause. Für Liebespaare, die sich manchmal auf dem Parkplatz im Auto vergnügten, war es dagegen noch zu früh und vor allem nicht dunkel genug.
In dieser Nacht endete die Sommerzeit. Die Uhren würden wieder eine Stunde zurückgestellt werden … und ab morgen wäre es um diese Zeit noch lange heller Tag. Franz wollte heute die frühe Dunkelheit noch einmal zum Nachtangeln nutzen.
Er stieg aus, ging um seinen Wagen herum und setzte sich auf den Beifahrersitz, um seine Stiefel anzuziehen, die er vorsorglich vor der Abfahrt vor den Sitz gelegt hatte. Auf dem Beifahrersitz hatte er mehr Bewegungsfreiheit. Hier störte ihn nicht das Lenkrad. Die Stiefel waren bereits viele Jahre alt. Am Schaft und unter der Sohle klebte noch die getrocknete Erde von seinem letzten Angelabend.
Er öffnete den Kofferraum und griff sich die lange und prall gefüllte Angeltasche, die er sich über die Schulter hängte. In die rechte Hand nahm er seinen Angelstuhl und in die andere einen kleinen Werkzeugkoffer, in dem er Angelhaken, Blei, Posen und sonstige Kleinutensilien ordentlich sortiert verstaut hatte. Wie immer wollte er auch heute zu seinem Angelplatz am Westufer des Sieglarer Sees. Er liebte den See. Hier fand er Ruhe und Erholung vom Stress des Alltags.
Er wandte sein, von der Sonne braun gebranntes Gesicht dem Himmel zu. Nur wenige Quellwolken unterbrachen das Blau des Firmaments. Er nickte zufrieden und ging beschwingt und erwartungsvoll los.
Er überquerte den Siegdamm, um dann noch einige Hundert Meter am Ufer entlang des Sees zu gehen. Anfangs war der Weg breit, und ging später in einen engen Pfad über. Leicht außer Puste erreichte er die Stelle des Pfades, an der er den Pfad verlassen musste, um zu seinem Angelplatz am Ufer zu gelangen. In solchen Momenten, wenn er nach kurzen Anstrengungen nach Luft schnappte, haderte er mit sich selbst. Er schaute an sich herunter. Sein Bauch wölbte sich immer mehr über seine Hose, und seine Jacke ließ er so wie heute meistens offen, damit sie ihn nicht zu sehr einengte. Er hasste diese Momente und er hasste dann auch sich selbst. Vor Jahren hatte er noch eine ansprechende Figur. Inzwischen war er bequemer und das Essen seine Leidenschaft geworden. Zum wiederholten Male nahm er sich vor, etwas für seine Kondition und seinen Körper zu tun. Ja, morgen würde er mit Gymnastik und Laufen beginnen – und wenn nicht ab morgen, dann spätestens ab nächstem Wochenende.
Er stellte sein Gepäck ab und atmete einmal tief durch.
Links von ihm ragten entlang des Pfades die über zwei Meter hohen Stängel des drüsigen Springkrauts in den Himmel. Erst bei seinem letzten Besuch am See hatte er das Kraut, das sich inzwischen in fast allen Auen und Uferlandschaften eingebürgert hatte, niedergetreten, um sich einen Weg zum Seeufer zu bahnen. Und bereits heute, nach wenigen Wochen, war der Zugang zum See erneut zugewachsen. Er hasste das Gewächs, weil es alle anderen Pflanzen überwucherte. Außerdem mochte er den starken, süßlichen Duft nicht, den die rosa Blüten verströmten, und der sich wie eine Glocke über das Ufer legte.
Er ließ seinen Ärger auf brutale Art an den Pflanzen aus und bahnte sich erneut einen Zugang zu seinem Angelplatz, indem er rücksichtlos die Stängel der lästigen Pflanzen niedertrat. Sein Ärger verflog aber sofort wieder, als er den Angelplatz sah, der nach wie vor frei von irgendwelchen Gewächsen war. Die festgetretene, steinige Erde bot für den Samen des Springkrauts wenige Möglichkeiten, Wurzeln zu bilden.
Franz Bertram freute sich auf einen schönen und hoffentlich erfolgreichen Angelabend.
Bevor er sein Gepäck heranholte, blieb er einige Augenblicke am Wasser stehen und genoss den Blick über den See bis zum gegenüberliegenden Ufer. Es war fast windstill und der See bot zumindest in Ufernähe eine fast glatte Oberfläche. Lediglich in der Mitte des Sees kräuselte sich das Wasser leicht. Dort beobachtete er eine größere Anzahl unterschiedlicher Entenarten. Er bedauerte es, dass er von seinem jetzigen Standort nicht die beiden Inseln im See sehen konnte, die von einer Unmenge Vögeln und Enten aller hiesigen Arten bevölkert wurden. Lediglich die Vogelstimmen und das Geschnatter der Enten drangen bis zu ihm vor. Er hatte den Eindruck, als ob alle Tiere den zu Ende gehenden Tag verabschieden wollten. Er war mit sich und der Welt zufrieden.
Energisch riss er sich vom Anblick des Sees los. Er griff in seine Tasche und holte eine alte, blaue Kappe hervor. Da sein Kopfhaar inzwischen dünn und schüttern geworden war, benötigte er eine Kopfbedeckung, die seinen Kopf gegen die nächtliche Kälte schützte. Bis mindestens Mitternacht wollte er angeln. Falls ihm das Anglerglück nicht versagt blieb, vielleicht auch noch die eine oder andere Stunde länger. Einen entsprechend großen Ködervorrat hatte er vorsorglich eingepackt.
Gut gelaunt begann er, seinen Angelplatz einzurichten. Er öffnete den Werkzeugkoffer, damit er, falls erforderlich, das nötige Werkzeug schnell zur Hand hatte, und stellte ihn neben seinen Stuhl. Aus seiner Angeltasche nahm er den Kescher, fuhr die Teleskopstange aus, sodass der Kescher eine Länge von fast zwei Metern erreichte, und legte ihn ebenfalls in Reichweite auf den Boden. Dann begann er, seine Angeln herzurichten. Durch seine jahrelange Routine konnte er bereits nach wenigen Minuten die erste Angel auswerfen. Er kurbelte die Angelschnur ein kurzes Stück ein, sodass sie gerade gespannt auf der Wasseroberfläche lag. Am Ende der Angelschnur, ungefähr zehn Meter vom Ufer entfernt, hatte er den Schwimmer postiert, der unbewegt, aufrecht aus dem Wasser ragte und ihm den Biss eines Fisches anzeigen würde. Jetzt noch die zweite Angel auswerfen und den Bissanzeiger vier, fünf Meter daneben postieren, und der gemütliche Teil des Tages konnte beginnen.
Inzwischen wurde es immer dämmriger. Und mit der zunehmenden Dunkelheit verbreitete sich vom See aus auch eine unangenehme Feuchtigkeit. Franz kannte das und hatte sich mit entsprechend warmer Kleidung und Schuhwerk versorgt.
Er holte seine beiden Posen ein, um sie gegen Posen mit einem Knicklicht zu tauschen. Seinem kleinen Koffer entnahm er ein kleines Kunststoffstäbchen, das mit zwei unterschiedlichen Chemikalien gefüllt war. Er knickte das Stäbchen, wodurch der Glasbehälter im Inneren brach und die beiden Flüssigkeiten sich vermischten. Durch die dadurch einsetzende chemische Reaktion entstand ein Leuchten, das mehrere Stunden anhalten würde. Das leuchtende Stäbchen befestigte er an der dafür vorgesehenen Stelle am oberen Ende des Bissanzeigers. Die auf diese Art neu präparierte Angel warf er wieder aus. Auch bei völliger Dunkelheit konnte er jetzt die Reaktion des Schwimmers bei dem Biss eines Fisches verfolgen und entsprechend reagieren. Zufrieden schaute er über den See, griff sich ein mitgebrachtes altes Handtuch und trocknete seine Hände daran ab.
Heute beabsichtigte er, einige Aale an Land zu ziehen. Bisher hatte er noch kein Glück gehabt – weder ein Aal, noch ein sonstiger Fisch hatte angebissen. Er war deswegen nicht enttäuscht, denn er wusste, die Hauptbeißzeit der Aale würde noch kommen. Die günstigste Fangzeit für Aale war die Dämmerung, vor allem aber die Nacht.
Bevor sich die Dunkelheit endgültig über den See legte, genoss er es, weiterhin die Natur zu beobachten, wobei er mit einem Auge immer seine leuchtenden Knicklichter beobachtete. Die Laute der Tiere ließen allmählich nach, bis sie plötzlich, als wäre ein unhörbarer Befehl ergangen, ganz verstummten. Eine gespenstische Ruhe breitete sich über den See aus. Gleichzeitig war es fast übergangslos stockfinster geworden. Die Wasseroberfläche war jetzt so glatt wie eine Glasscheibe, zumindest der Teil, den er noch erkennen konnte. Die dünne Sichel des Mondes konnte gegen die Finsternis nichts ausrichten. Durch die Windstille wurden keine Geräusche des nahe gelegenen Autobahndreiecks St. Augustin-West herangetragen. Es war eine lautlose Nacht – es war totenstill.
Die leuchtenden Knicklichter lagen nach wie vor unbeweglich auf der Wasseroberfläche. Aus Langeweile begann Franz, die Ratten, die sich schüchtern seinem Stuhl näherten, mit Brotkrumen zu füttern. Wenn er unbewegt auf seinem Angelstuhl saß, kamen sie bis unter seinen Stuhl, schnappten sich eine Brotkrume, um dann wieder in Windeseile zwischen den Stängeln des Springkrautes zu verschwinden.
Er öffnete die dritte Flasche Kölsch und trank einen kräftigen Schluck. Er hatte noch zwei weitere als Reserve in seiner Angeltasche. Wenn Ingrid, seine Frau, das sähe, würde es wieder ein Donnerwetter geben. Vor einigen Tagen, als sie wieder einmal stritten – und sie stritten meistens wegen seines Alkoholkonsums – bezeichnete ihn Ingrid als elenden Alkoholiker. Auch missbilligte sie, dass er nach mehreren Flaschen Kölsch, die er regelmäßig am See trank, mit dem Wagen nach Hause fuhr. Wie oft hatte sie ihm gepredigt, doch sein Fahrrad für die kurze Strecke zu benutzen. Aber er sah das völlig anders. So schlimm stand es um ihn wegen der einen oder anderen Flasche Bier nicht. Und mit dem Fahrrad die sperrige Angeltasche zu befördern, war ihm zu beschwerlich. Da war die kurze Fahrt mit dem Wagen wesentlich bequemer. Zudem fuhr er nach Hause nur über Nebenstraßen und „Schleichwege“, wie er sich auszudrücken pflegte. Dort würde ihm mitten in der Nacht kein Auto begegnen – schon gar nicht ein Streifenwagen der Polizei.
Es war aber nicht nur der Alkohol, weswegen sie stritten. Sie stritten fast täglich über irgendwelche Kleinigkeiten – und Franz hatte längst eingesehen, dass seine Ehe kaputt war. Nur einen Schlussstrich ziehen, konnte er noch nicht.
Wahrscheinlich lag Ingrid bereits im Bett und schlief fest. Sie würde daher nicht bemerken, dass er ein paar Bier getrunken hatte, wenn er in einigen Stunden nach Hause kam.
Es war bereits weit nach dreiundzwanzig Uhr, als er hinter sich ein Geräusch vernahm. Höchstwahrscheinlich ein größeres Tier. Womöglich eines dieser Nutrias, mutmaßte er. Dieses große Nagetier hatte sich vor Jahren hier am See, und in der unmittelbar neben dem See vorbeifließenden Sieg, angesiedelt. Kurz drehte er sich um, denn er wollte seine leuchtenden Posen nicht unnötig lange aus den Augen verlieren. Nichts.
Doch da wieder ein Geräusch, dieses Mal ganz in der Nähe, direkt hinter ihm. Erneut wandte er seinen Kopf nach hinten. Wie von Geisterhand wurden die Stängel des Springkrauts zur Seite geschoben und nur schemenhaft konnte er eine menschliche Gestalt in der Dunkelheit erkennen, die sich durch das Springkraut bis an den Rand seines Angelplatzes drängte. Franz fasste blitzschnell seine Taschenlampe, die er sofort verfügbar neben seinen Angelkoffer gelegt hatte und richtete den Strahl direkt auf den unerwarteten Besucher. Mit der anderen Hand ergriff er sein Anglermesser, das er griffbereit auf seinem kleinen Koffer platziert hatte und sprang auf.
Als der Lichtstrahl seiner Taschenlampe das Gesicht des ungebetenen Gastes erhellte, erkannte er die Person, die mit einer schwarzen Hose, einer schwarzen Jacke, sowie einem Schal und einer tief in die Stirn gezogenen Mütze bekleidet war.
„Du? Was willst du denn hier am See?“, rief er völlig überrascht aus.
Seine Stimme schallte durch die lautlose Nacht. Aber niemand würde durch seinen Ausruf erschreckt werden, denn er war heute wieder einmal der einzige Angler am See. Durch die großen Kormorankolonien, die häufig über den See herfielen und den Fischbestand erheblich reduzierten, war der Sieglarer See in Anglerkreisen nicht besonders beliebt. Die meisten Angler bevorzugten den wesentlich fischreicheren Rotter See.
„Mach das Licht aus und setz dich wieder hin. Wir müssen reden“, forderte ihn die Person eindringlich auf.
„Wir haben nichts miteinander zu reden. Schon gar nicht hier am See“, entgegnete Franz Bertram aufgebracht.
In der einen Hand die Taschenlampe, in der anderen das gezückte Messer sprang er auf seinen unwillkommenen Besucher zu, um ihn von seinem Angelplatz zu drängen, auch wenn der Besucher wegen des Messers in Franz Bertrams Hand Schlimmeres befürchtete.
Sein Angelstuhl kippte dabei um und fiel auf seinen kleinen, geöffneten Koffer, der ebenfalls scheppernd umfiel. Der Inhalt verstreute sich über die leicht abschüssige Angelstelle. War es sein Kreislauf, der durch das plötzliche Hochspringen außer Kontrolle geriet, oder war es der Bierkonsum? Im Nachhinein würde es letztlich nicht feststellbar sein, was der Grund für sein Taumeln war.
Statt in Richtung der Person, torkelte er rückwärts, verlor das Gleichgewicht vollends und stürzte in den See, der zu dieser Jahreszeit viel zu kalt für ein Bad war. Der See war an dieser Stelle bis ein, zwei Meter vom Ufer entfernt noch nicht sehr tief. Franz ruderte kräftig mit den Armen. Er zog seine Beine an, um sich aufzurichten und schnell aus dem kalten Wasser zu gelangen. Überraschend gewandt gelangte er in eine sitzende Position. Und schon ragten sein Kopf und seine Schultern aus dem Wasser.
„Jetzt nach vorne beugen und aus dem See heraus. Dann werde ich dir zeigen, dass man so mit einem Franz Bertram nicht umgehen kann“, dachte er.
Plötzlich erhielt er einen Stoß gegen die Brust und fiel erneut rückwärts in den See. Das kalte Wasser schwappte über sein Gesicht und lief in seinen um Luft ringenden, geöffneten Mund. Er schloss seinen Mund und musste mehrmals schlucken, um ihn vom Seewasser zu befreien.
Er wollte sich erneut aufrichten. Ein starker Druck auf seine Kehle verhinderte jedoch, dass er seinen Kopf aus dem Wasser heben konnte. Angst und Panik machte sich bei Franz breit. Sein Sauerstoffvorrat war beinahe erschöpft.
Mit aller Kraft, die ihm seine Panik verlieh, versuchte er erneut, sich gegen den Druck auf seiner Kehle zur Wehr zu setzen, und den Kopf über Wasser zu bekommen. Er ruderte mit den Armen und versuchte mit den Beinen Halt zu finden. Vergeblich.
Inzwischen hatte sich seine dicke Kleidung, die ihn gegen die Kälte schützen sollte, mit Wasser vollgesogen. Wie eine Bleiweste hingen die Kleidungsstücke an ihm. Er musste seinen Kopf unbedingt über Wasser bekommen, egal wie.
Sollte das sein Ende sein?
Vor seinen Augen tanzten Sterne. Seine Lunge schien zu zerbersten. Er musste seinen Mund öffnen und nach Luft schnappen. Unbedingt. Als er den Mund öffnete und seine Lungen gierig Sauerstoff einsaugen wollten, erreichte nur ein Schwall Wasser seine Lunge und seine Bronchien. In seinem Kopf platzte nacheinander Stern um Stern, bis nur noch ein grelles, weißes Licht vorhanden war.
Aber auch dieses Licht erlosch. Franz Bertram nahm nicht mehr wahr, dass sich der Druck auf seine Kehle verringerte und schließlich ganz verschwand.
„Das hast du nun davon“, flüsterte die dunkel gekleidete Gestalt.
Der nächtliche Besucher schaute zufrieden über den See, ohne Franz Bertram eines weiteren Blickes zu würdigen. Den Kescher, mit dessen Griff er Franz Bertram unter Wasser gedrückt hatte, hielt er noch immer am Ende der Teleskopstange, dort wo das Netz begann, in der Hand. Mit der Sicherheit, dass ihn niemand beobachtet hatte, drehte er sich ruhig um und verließ den Angelplatz. Den Kescher, der als Beweisstück gegen ihn verwandt werden könnte, nahm er zu seiner Sicherheit mit.
Zu diesem Zeitpunkt bewegte sich die Pose mit dem Knicklicht in Zickzack-Linie über die ruhige Wasseroberfläche, bevor der Aal sie mit einem Ruck unter Wasser zog. Er hatte sich am Haken festgebissen und niemand war da, ihn zu erlösen.