Kitabı oku: «Christentum und Moderne», sayfa 2
Das große Zukunftsprojekt
Sein Einzelgängertum macht den Intellektuellen auch weniger sensibel für „große Projekte“, die das Individuum per definitionem übersteigen. Gerade seit dem Niedergang des Marxismus hat sich auf diesem Gebiet Lustlosigkeit breitgemacht. Diese hat auch ihre guten Seiten, denn sie bewahrt davor, sich dem Irrationalen auszuliefern, das „großen Projekten“ oft innewohnt. Andererseits ist die Notwendigkeit, dem Leben einen Sinn zu geben, etwas zutiefst Menschliches, ein Grundbedürfnis. Wird es nicht erfüllt, so bleibt eine Leere, die von jemandem oder einer Sache gefüllt werden wird. Durch wen oder was? Wer hat den Mai ’68 im Frühjahr ’68 vorausgesagt? Wer hat Mitte des Jahres 1989 den Fall der Mauer oder die Menschenmengen in Prag vorausgesehen? Die Leere der kommunistischen Gesellschaft wurde gefüllt durch neue Bewegungen, die quasi aus dem Nichts entstanden. Der Westen kennt große Projekte – allerdings solche, an denen das Volk und die Intelligentsia keinen Anteil haben.
Der europäische Einigungsprozess ist ein typisches Beispiel für solche Projekte. Was ist faszinierender, als die alten europäischen Länder zu einer wirklichen Großmacht zusammenzubringen, die eine Rolle in der Welt spielen und das Vakuum füllen kann, das die Sowjetunion und in gewissem Sinne die Vereinigten Staaten hinterlassen haben? Aber wo ist der Enthusiasmus?
Die ökologische Wende ist ein Thema, das die Menschen mobilisiert. Hier geht es buchstäblich um unser Überleben. Es ist wichtig für den Menschen, an einzelnen Orten gegen die Umweltverschmutzung vorzugehen. Doch die Bekämpfung der weltweiten Umweltverschmutzung in einem komplizierten sozioökonomischen Umfeld überfordert die Analysen der ökologisch ausgerichteten Parteien ebenso wie die Tatkraft der traditionellen Parteien und Organisationen. Die ökologische Wende muss ein positives Projekt werden, sie darf sich nicht in der Anklage des bestehenden Systems erschöpfen. Auf Negatives kann man nichts aufbauen. Es ist eine Herausforderung, an der ökologischen Wende zu arbeiten.
In einer verkrampften Gesellschaft herrschen auch oft negative Gefühle. Man sucht nach etwas oder jemandem, das oder der im Weg steht und weg muss. Wem es an eigener positiver Identität mangelt, der sucht sich vom anderen, „Minderwertigen“, abzusetzen. Heute sind das die Migranten. Einst setzte man sich von den Herrschenden ab. Dass man sich heute gegen die Schwächsten wendet, ist Zeichen einer gewissen Rücksichtslosigkeit.
Diejenigen, die die geistige Leere nicht sehen, wollen sie nicht wahrnehmen. Ihnen erscheint der Versuch, die Leere zu füllen, als Rückkehr zum sogenannten Obskurantismus des Christentums. Das Gegenteil ist wahr. Eine Welt ohne Gott ist eine Welt ohne Hoffnung. Verzweiflung blockiert die Vernunft. Der Mensch sucht einen Ersatz für Gott. Die größten totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts, der Faschismus und der Kommunismus, waren denn auch areligiös und zutiefst irrational. Der Tod Gottes könnte durchaus den Tod des Menschen einläuten.
Ihr geistliches „Defizit“ hindert die Gesellschaft oft daran, etwas Großes in Angriff zu nehmen. Wer von einer fundamentalen Hoffnung getragen wird, ist im Alltag aktiver und flüchtet sich nicht in Gedankenkonstrukte. Glaube schenkt Optimismus. Der Christ weiß, dass alles, was er hier unternimmt, eines Tages an anderem Ort vollendet werden wird. Ein Leben in eschatologischer Perspektive, im Blick auf morgen, hemmt das Engagement nicht, im Gegenteil. Wie könnte es auch – denn der soziale, wirtschaftliche und kulturelle Fortschritt hat seinen Ursprung in den alten europäischen Ländern, den Kindern der christlichen Kultur.
Der moderne Mensch ist nicht dazu geschaffen, nur in der Kommerzialisierung zu leben. Instinktiv versucht er, sich aus ihrer Umklammerung zu befreien. Ich fürchte eher, dass das brutale Irrationale und das Aggressive dann Einzug halten können, z. B. der Rassismus. Art und Weise und Zeitpunkt kenne ich nicht. Doch kann der Mangel nicht jahrzehntelang unerfüllt bleiben. Heute schon gibt es in unserer Gesellschaft eine verborgene Aggression. Die Kriminalität steigt deutlich an, im Kleinen und im Großen, im Haus oder auf der Straße. Die Nachfrage nach Gewalt in Wort und Bild nimmt stark zu. Viele Menschen leben in einer familiären Hölle, in der einer dem anderen ein Wolf ist.
Diese Aggressions-Impulse sind umso gefährlicher in einer Welt, die Atomwaffen hat. Niemand kann die Geschichte kontrollieren. Der flämische Kapuziner und Theologe Max Wildiers stellt die drängende Frage: „Kann man vernünftigerweise erwarten, dass ein aggressives, egoistisches und kurzsichtiges Wesen wie der Mensch die gewaltige Macht, die in seine Hände gelegt worden ist, auf vernünftige Art und Weise zu gebrauchen weiß?“
Wir müssen also versuchen, auf den Mangel eine positive Antwort zu geben. Bei dieser Sinngebung kann das Christentum eine entscheidende Rolle spielen. Es hat wieder eine Chance. Was müssen wir tun, damit es sie nutzen kann?
Ein modernes Christentum
Man selbst bleiben und/oder sich anpassen
Mangelt es einer Bewegung oder Idee an Erfolg, so gibt es stets zwei Tendenzen: Die eine strebt nach einem Weg zurück, weil man den Ideen des Anfangs nicht treu geblieben sei. Die andere sagt, dass man einem Zeitgeist nicht genügend Rechnung getragen habe, der nicht mehr zu den Ideen des Anfangs passt. Bei den Kommunisten gibt es die These von Georges Marchais, dem ehemaligen Generalsekretär der Kommunistischen Partei Frankreichs, der trotz aller Niederlagen am Stalinismus festhielt und auf bessere Zeiten hoffte, die nicht kommen … In der Kirche gibt (oder gab) es die traditionalistische Strömung, die behauptet, alles Schlechte sei die Folge des Konzils. In ihren Augen birgt die Veränderung mehr Gefahren als der Stillstand. Zugleich hofft man auf eine verborgene orthodoxe Unterströmung im Volk, die schließlich trotz allem zum Vorschein kommen wird. Diese Unterströmung zu ignorieren trägt nach Meinung der Traditionalisten noch zur Erschütterung der Kirche bei. Man sollte also einfach auf bessere Zeiten warten und an der Orthodoxie festhalten. Wie immer liegt die Wahrheit in der Mitte.
Das Christentum bleibt in seinem Kern die ewige Wahrheit. Ohne Gott, ohne Christus, ohne Auferstehung, ohne Nächstenliebe gibt es keinen christlichen Glauben. Der ist mehr als romantisches Gefühl oder soziales Engagement. Zugleich jedoch gibt es das Lebensgefühl der Moderne, das neue Nöte offenbart – das Streben nach individueller Freiheit, die Gleichstellung von Mann und Frau, die Skepsis gegenüber Autoritäten und so weiter. Milan Kundera lässt eine seiner Figuren sagen: „Das Schlimmste ist nicht, dass die Welt nicht frei ist, sondern dass die Menschen verlernt haben, frei zu sein … Wenn wir die Welt nicht verändern können, sollten wir zumindest unser eigenes Leben verändern und es in Freiheit leben … Lasst uns alles zurückweisen, was nicht neu ist.“ Das ist die gleiche Botschaft, die der große französische Dichter Arthur Rimbaud formulierte: „Man muss absolut modern sein.“ Für ihn bedeutete das dasselbe wie absolut frei zu sein.
Jede Phase einer Kultur bringt ebenso dauerhafte Errungenschaften wie kurzlebige Marotten hervor. So hält sich die Idee der Menschenrechte seit zweihundert Jahren. Wir akzeptieren jedoch nicht mehr die göttliche Autorität vorübergehender Herrscher, die völlige Abhängigkeit der Menschen von der Obrigkeit oder die Ordnung der Gesellschaft nach sozialen Klassen. Die Demokratie ist inzwischen tief in den Menschen verwurzelt. Diese Idee gewinnt heute in der ganzen Welt an Boden, auch in Ost-Mitteleuropa, wo man nicht an sie gewöhnt war oder sie noch nie gekannt hatte. Wer heute in der Kirche oder anderswo diese fundamentale Tendenz zur Demokratie verkennt, degradiert sich zur Sekte. Dann ist man zwar „rein“, darf seinen Mitstreitern jedoch nicht vormachen, es kämen irgendwann bessere Zeiten. Wer sich vollständig vom Zeitgeist abkoppelt, begibt sich in die Marginalität. Nochmals: Das kann eine begründete Wahl sein – aber man muss den Mut haben, sich ihren Folgen zu stellen.
Die andere Strömung ist Sklave des Zeitgeists. Sie treibt ziellos auf den Bequemlichkeitstendenzen der Gesellschaft dahin. Sie rechnet mit den Gefühlen, die den Instinkten am nächsten stehen: Egoismus, Laissez-faire, Sicherheit, Bequemlichkeit, Intoleranz sind Emotionen, die zum Greifen nahe sind und an die man sehr leicht appellieren kann. Diese Gefühle sind Entgleisungen der Freiheit. Die Erfahrung lehrt, dass der Mensch von Oberflächlichkeit nicht leben kann, dass sich bald ein Mangel, ein „Defizit“, einstellt, das gefüllt werden muss. Es sind auch Gefühle, von denen ein Einzelner vielleicht eine Zeitlang leben kann, keinesfalls jedoch eine Gemeinschaft. Eine Gesellschaft kann nicht auf der Summe individueller Instinkte gründen. Sie bedarf einer gewissen Ordnung, Disziplin, ja einer Art Zwang, damit das Ganze funktioniert. Instinkte zu beherrschen und zu kanalisieren ist Aufgabe der Ethik. Daneben gibt es den Staat als ordnendes Instrument und Garant der Harmonie oder eines höchstmöglichen Grades derselben. Die Konkurrenz auf dem Markt zwingt ihrerseits auch den Mensch dazu, sich anzupassen.
So muss das Christentum sich in die neue Welt einbetten, die entstanden ist. Diesen Versuch einer Einbettung hat das Konzil unternommen. Für die einen ging es zu weit und führte zu einer tiefgreifenden Erschütterung. Für die anderen ging es nicht weit genug und enttäuschte im Ergebnis. Auch hier ist meine Sicht sehr nuanciert.
Einerseits hat der nachkonziliare Katholizismus die Zeichen der Zeit nicht immer gut zu deuten gewusst. So gibt es neben dem sozialen Engagement ein zunehmendes Bedürfnis nach dem Transzendenten und dem Sakralen. Ebenso gibt es neben dem Lärm und dem Aktivismus ein großes Bedürfnis nach Stille. Die Kirche von heute hat die Welt lediglich in eine Reihe von neuen Begriffen gefasst und zu wenig berücksichtigt, was auf der anderen Seite passiert.
Die Kultur der Stille
Die moderne Gesellschaft wird vom Streben nach der größtmöglichen Sicherung der eigenen Interessen beherrscht: Gewinnmaximierung, Stimmen oder Macht. In Demokratie und Marktwirtschaft gibt es viele konkurrierende Machtpositionen; das Machtmonopol ist verloren gegangen. Das ist beruhigend. Oft freilich fehlt auch das moralische Korrektiv zur Macht. Ich meine damit das bewusste Beschützen des Anderen als Anderen. Die Abwesenheit dieses moralischen Korrektivs gibt der Gesellschaft ihr pragmatisches, habgieriges, herzloses und haltloses Gesicht. Diese Triebe bringen die Menschen gegen sich selbst und gegen die Zeit auf.
Eine weitere Eigenschaft der Menschen, die keine Zeit haben, weil es für sie keine Ewigkeit gibt, ist die Hast. Man will so viele Erfahrungen machen und Eindrücke sammeln wie nur eben möglich, bevor man in der tiefen Fallgrube des Todes verschwindet. „Festina lente“, eile mit Weile, dagegen ist Kennzeichen einer Gesellschaft, die von der Begrenzung der Zeit befreit ist und „sub specie aeternitatis“, im Licht der Ewigkeit, zu leben versteht.
Der moderne Aktivismus hat auch einen noblen Zug. Der westliche Mensch arrangiert sich nicht mit dem Gegebenen. Er will etwas erreichen – wirtschaftlich, wissenschaftlich, kulturell und sportlich. Er ist expansiv. Das Wörtchen „genug“ kennt er nicht. Prometheus lebt in ihm. Der westliche Mensch ist und bleibt ein Eroberer, heute indes friedlicher denn je. Er strebt nicht nach Krieg, wohl aber nach mehr Macht, mehr Geld, mehr Ruhm und so weiter. Adam Smith sagte mit Recht, dass Händler unschuldigere Menschen seien als Herrscher. Auf den Fundamenten der ökonomischen Dynamik baut man einen Wohlfahrtsstaat, der die Schwachen nicht im Stich lässt.
Indem er blind dem „Neuen“, den „Neuigkeiten“ hinterherläuft, kommt der moderne Mensch indes kaum zur Ruhe. Eine Überfülle an Eindrücken, Sinnesreizen, Verführungen und Herausforderungen erschöpft ihn, trotz der sogenannten Alltagsroutine (metro-boulot-dodo, U-Bahn – Job – Nickerchen). Kürzlich las ich ein treffendes Geständnis des bekannten Autors Henri Nouwen: „Ich hielt Vorträge darüber, wie wichtig Einsamkeit und Gebet sind, hatte aber kaum Zeit, allein zu sein. Ich hielt Vorträge über Mystik, konnte aber keine drei Stunden mit Gott allein sein, weil ich viel zu viel Stress hatte.“ Das erinnert mich an die Politiker, die über Familie sprechen, aber nie zu Hause sind … Fast bin ich auch so einer. Dann hat die Kultur der Stille keine Chance. Das menschliche Herz braucht Ruhe und Gleichmut, um nicht zu zerbrechen. Manchmal muss es von Hast und Unruhe befreit werden. „Zu sich selbst“ kommen nennt man das, was darauf hinweist, dass ständiger Aktivismus oft ein Mittel ist, sich selbst aus dem Weg zu gehen. Doch auch in der Freizeit und in der Entspannung ist der moderne Mensch oft Opfer einer Kunstwelt. Durch exotische physische und geistliche Übungen, durch forcierte Therapiesitzungen oder einfach durchs Herumlaufen will er frei flottierende Kräfte überwinden und den Frieden finden, zu-frieden sein mit sich selbst. Auch hier gibt es eigentlich einen anderen, natürlichen Weg: Den des Kontakts mit der Natur, mit Gott, mit den Menschen selbst, angefangen bei der eigenen Familie. Man braucht Disziplin, will man sich den Gesetzen der modernen Welt entziehen. Diese Übung jedoch ist nachhaltiger als alle weniger natürlichen Therapien. Aber: Echter, dauerhafter Friede mit sich selbst stellt sich nicht ein, wenn man nur ab und zu oder in Grenzsituationen auf Gott oder die Natur zurückgreift. Diese Rückgriffe müssen in ein Leben eingebaut werden, das stets vom Aktivismus geprägt bleiben wird. Manche werden sogar sagen, dass diese Harmonie letztlich eine noch höhere Rendite hat, weil sie den Verlust wettmacht, den Stress und Krise verursachen. Doch das ist nicht das Ziel.
Hat die Kirche all das verstanden?
In den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts lief sie der modernen Zeit nach – zu einem Zeitpunkt, als viele fragten, ob wir nicht in verrückten Zeiten lebten. Erinnern wir uns an die Krise der Gesellschaft, deren Symptom der Mai ’68 war und die durch die damaligen Ereignisse noch verstärkt wurde. Mich führt das zu der Erkenntnis, dass es keine Spezialität der Kirche ist, die Zeichen der Zeit zu erkennen. Das galt auch im 19. Jahrhundert, als wenige in der Kirche etwas vom Liberalismus, vom Sozialismus, den Menschenrechten oder der Demokratie verstanden hatten.
Typisch für dieses Unverständnis war die Reform der Liturgie. Die Kirche verstand, dass eine tote Sprache wie das Lateinische in der Welt der Massenmedien, die auf Einfachheit und unmittelbares Verständnis setzen, nicht länger Vehikel des Sakralen sein konnte. So entschied sie sich zu Recht für die Nüchternheit des Wortes, auch in der Volkssprache. Der Gläubige jedoch hat kein Bedürfnis nach einem Wortschwall in seiner eigenen Sprache, sei er gesungen oder gesprochen. Er muss in der Kirche zu Gott zurückfinden. Gott ist in dieser Welt so fern, dass wir uns extrem anstrengen müssen, um ihn wiederzufinden. Der Gläubige muss sich in eine andere Umgebung begeben, um dem Anderen zu begegnen. Schon eine Stunde später wird es schwierig sein, in Seiner Gegenwart zu bleiben und Seinen Geist auf die Arbeit und die Tätigkeiten des Alltags wirken zu lassen. Die Liturgie müsste sich auch in den Dienst der Stille stellen. Gott kann nur sprechen, wenn wir schweigen und das Stimmengewirr verebbt. Für das Heilige müssen wir empfänglich werden. Denn zwischen Gott und der Alltagswelt gibt es eine Zäsur, eine Hürde. Sie ist die unvermeidliche Folge einer Gesellschaft, die nach den Gesetzen der Konkurrenz funktioniert, wie wir sie jetzt und zukünftig erleben.
Manche hoffen, dass wir die westliche Gesellschaft und Ökonomie wieder auf ein menschliches Tempo reduzieren können und dass es nicht nötig sein wird, künstliche Inseln der Stille als Zufluchtsorte zu schaffen. In einer wirklich menschlichen Gesellschaft sind solche Rettungsanker ihrer Ansicht nach überflüssig. Die Frage ist nicht allein, ob es möglich oder gar wünschenswert ist, dieses Tempo der Menschen zu reduzieren. Eine Wirtschaftsordnung, die nicht von so etwas wie Konkurrenz geprägt ist, steht unter dem Regime der Obrigkeit. Letztendlich wird sie diktatorisch regiert. So geht noch mehr an Menschlichkeit zugrunde, selbst wenn das diktatorische Regime sich das Glück der Menschheit auf die Fahnen schreibt. Aus der Erfahrung Osteuropas wird zudem deutlich, dass eine solche Gesellschaftsordnung schlicht wider die Natur des Menschen ist. Menschen können nicht auf Dauer in Unfreiheit und Lüge leben. Jede Diktatur streckt ihre Tentakeln auf alle Aspekte der menschlichen Existenz aus. Sie unterwirft den Menschen, statt ihn zu befreien.
Die Lösung, die man in Westeuropa für dieses Problem gefunden hat, nennt man Soziale Marktwirtschaft. Sie mäßigt das Wettbewerbsprinzip durch das aktive Eingreifen der Institutionen und gesellschaftliche Verständigungsprozesse. Diese Formel ist, historisch gesehen, bislang die erfolgreichste. Ihre Schwächen sind inzwischen zur Genüge bekannt und ausreichend beschrieben. Ihre Vorteile werden vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs des Marxismus in sozioökonomischer und menschlicher Hinsicht ebenso deutlich. „Die heutige westliche Zivilisation ist die bei Weitem freieste und humanste, die je existierte“, sagt mein Lehrmeister Karl Popper. „Sie ist in der Lage, sich selbst zu verbessern. In der Vergangenheit haben viele Ideologien der Gesellschaft die Kraft abgesprochen, sich systematisch selbst zu verbessern. Dass dies dennoch möglich ist, ist eine neue und wichtige Erkenntnis.“
Doch auch, wenn die Arbeitslosigkeit überwunden und unsere Umwelt sauber, sicher und gesund wäre, bliebe das oben beschriebene geistliche „Defizit“. Unser Gesellschaftsmodell schafft eine Welt, in der der Mensch als solcher zu ersticken droht – auch wenn andere Modelle kaum den Mindeststandards genügen. Aber, wie gesagt, die Flexibilität des westlichen Menschen bleibt groß.
Die Kirche wird eine entscheidende Rolle in dem Prozess spielen, der unsere Gesellschaften menschlicher macht.
Die Großherzigkeit
Eine harte Welt kennt kein Mitleid. Der Nächste ist Konkurrent, Rivale, Feind oder oft, noch banaler, Fremder. Menschen in der gleichen Straße, Nachbarn, sterben, ohne dass sie voneinander wissen. Plötzlich steht der Leichenwagen vor der Tür, ganz in unserer Nähe, ohne dass wir realisieren, dass da jemand das allerletzte Abenteuer durchgemacht hat – das des Abschieds.
Auf den anderen zuzugehen erfordert eine Anstrengung. Im Alltagsstress herrscht graue Gleichgültigkeit. Wer denkt schon darüber nach, was in dem Mann oder der Frau vor sich geht, die buchstäblich neben uns stehen im Zug, in der Schlange, im Kaufhaus? Wovon, von wem träumen sie? Was haben sie durchgemacht? Wen lieben sie? Wer liebt sie? Welche tödliche Krankheit schlummert in ihnen? Wie lang werden sie noch leben? Vor allem: Was habe ich für einen von ihnen getan oder was kann ich tun? Das ist eine Gewissensfrage. Für den Geschäftsmann, für den Politiker, für alle, die Verantwortung tragen, und für alle anderen gibt es die Stimme des Gewissens. Lebe ich für die Vergänglichkeit meines Wortes, meines Körpers, meines Geldes – oder bin ich zu mehr fähig? Trete ich aus mir selbst heraus oder bleibe ich Gefangener meiner Selbsterhaltung? Zudem stellt sich eine heroische Frage: Tue ich alles, was ich kann? Bin ich in dem, was ich geben kann, zum Äußersten gegangen? Christus antwortet dem reichen Jüngling: „Verkaufe alles, was du hast, verteile das Geld an die Armen, und du wirst einen bleibenden Schatz im Himmel haben.“ Und dann kommt es: „Dann komm, und folge mir nach!“ Oder das Beispiel der ersten Christen, die alles teilten. Oder das des Charles de Foucauld. Diese heroischen Wege stehen nur wenigen offen. Sie übersteigen die Kräfte des Durchschnittsmenschen.
Es gibt viele Möglichkeiten, dieser beklemmenden Frage auszuweichen. Ein Beispiel hierfür ist der Geschäftsmann, der sich selbst weismachen kann, dass er sein Unternehmen führt, um Menschen Arbeit zu verschaffen, oder dass seine Tätigkeit die sozialen Sicherungssysteme finanziert. Ich kenne einige Menschen, die aus dieser Überzeugung heraus arbeiten. Ich kenne andere, denen diese Motive als moralisches Alibi für Geld- und Machtgier dienen. Ein gewisser Typus des Politikers ist nicht in der Lage, sich für den Anderen als Anderen zu interessieren oder etwas für ihn zu tun. Die Etatisten reden sich ein, dass es für soziale Probleme allein „strukturelle“ Lösungen gibt. Die rein menschliche Herangehensweise sei lediglich karitativ und biete keine dauerhafte Lösung. Die strukturelle Herangehensweise indes verpflichtet niemanden, den Menschen ins Gesicht zu sehen und Anteil an ihrem Leben zu nehmen. Sie lässt zu, dass man gleichgültig bleibt und doch ein ruhiges Gewissen hat. Die Erfahrung jedoch lehrt, dass die Sensibilität für die Menschen stirbt, wenn es keinen lebendigen Kontakt mit ihnen gibt. Eine abstrakte Welt aus Strukturen und Organisationen führt bald ein Eigenleben. Sie verkommt zur Bürokratie, im schlimmsten Fall zur Schreckensherrschaft. Deshalb ist lebendiger Kontakt nötig. Hitler schloss die Fenster seines Zugabteils, als er verwundete und verstümmelte Soldaten sah, die von der Front zurückkehrten.
Ein Merkmal des Christentums ist die Verantwortung des Einzelnen. Ich werde nach meinen Taten beurteilt. Der Mensch muss sich verändern, sich bekehren.
In einer demokratischen Gesellschaft ist es in gewisser Weise unvermeidlich, dass die Gesetzgebung soziale Züge trägt. Es herrscht das Gesetz der Masse: Der Politiker muss sozial ausgerichtet sein, sonst kann er nicht genügend Menschen für seine Sache werben. Aber es gibt auch die Diktatur der Mehrheit, die viele Minderheiten aus dem Blick verliert. Auch ein demokratisches Gesetz kann unmoralisch sein – so einfach ist das. Ist der Andere der Feind oder einfach nur der Andere, dann haben die am Rande einen schlechten Stand, seien sie ungeboren oder schon auf der Welt. Diese Tendenz äußert sich in der Abtreibungsdiskussion und im zunehmenden Fremdenhass. Es gibt Menschen, die sich ein gutes Gewissen einreden, indem sie den Migranten vorwerfen, sich nicht oder nicht genügend anzupassen. In diesem Vorwurf liegt eine gewisse Wahrheit. Und doch ist da dieses dumpfe Gefühl, das den Anderen zurückweist, weil er anders ist als wir. Ein reicher, laizistischer Farbiger hat keine Probleme. Ein armer, religiöser und abweichend gekleideter stößt auf Widerstand. Je unsicherer der moderne Mensch (und auch der Christ) ist, je stärker er nach der eigenen Identität sucht, desto mehr neigt er dazu, Menschen und Gruppen zu suchen, die angeblich weniger wert sind und denen gegenüber er „jemand ist“. In einer Gesellschaft, die sich anderen Kulturen gegenüber rational und strukturiert zeigen will, gibt es eine zunehmende Irrationalität. Es wird viel über unsere Identität gesprochen – in einer zerbrochenen und haltlosen Zivilisation. Freilich, dieses Zerbrechen ist Teil der Natur des Menschen, und doch ist es in manchen Zeiten deutlicher als in anderen. Das Seltsame ist, dass Zeiten der Wohlfahrt und des Fortschritts den Altruismus stärker auf die Probe stellen als Krisenzeiten. Wohlstand betäubt und verwöhnt, er bringt Habsucht und Neid hervor. Mangel dagegen setzt Großherzigkeit frei, denn man weiß, was es bedeutet, Schwierigkeiten zu haben. Auch diese These kann man nuancieren. Doch zeigt die Erfahrung, dass sie viel Wahres enthält.
Der Christ darf seine moralische Haltung nicht von der Konjunktur abhängig machen. Seine Moral ist zeitlos. Er muss leben, als sei er „nicht Jude oder Grieche, nicht Sklave oder Freier, nicht Mann oder Frau“, im Bewusstsein, dass alle Menschen gleich viel wert sind. Diese Einstellung erfordert Anstrengung, weil sie bis zu einem gewissen Grad der menschlichen Natur zuwiderläuft, die auf die Selbstbehauptung ausgerichtet ist. Die Nächstenliebe ist die ständige Überwindung des Selbsterhaltungstriebs. Die Ethik ist Korrektiv der Biologie. Auch der moderne christliche Intellektuelle muss sich darüber im Klaren sein. Allzu oft treibt er auf den Wellen seiner Zeit dahin, zu denen die Xenophobie, die Angst vor dem Fremden, gehört.
Jede Gemeinschaft hat ein Reservoir an Großherzigkeit. Die christliche Welt besitzt kein Monopol auf diese Tugend. Junge Entwicklungshelfer lösen unsere Missionare ab. Ärzte ohne Grenzen helfen mit wirklicher Todesverachtung. Die karitativen Organisationen der Kirche stehen neben und zwischen anderen. Das ist gut so. Auf vielen Feldern, wo es um den Kampf gegen menschliches Leid geht, haben die Christen nicht mehr die „Leitung“. Sie sind nicht die Ersten, die helfen. Ich denke an die Aids-Patienten. Auf zahlreichen anderen Gebieten dagegen löst niemand die Christen ab. Man schaue nur auf die Situation geistig behinderter Menschen. Die Sorge für sie fordert von den Ordensleuten oder Laien großen Einsatz und große Selbstlosigkeit. Einem scheinbar heillos Verwirrten beizustehen erfordert fast übernatürliche Hingabe. Manchmal frage ich mich, ob das ohne Hilfe von „ganz oben“ möglich ist.
Das Reservoir an Großherzigkeit ist unverzichtbar für eine Zivilisation, die diesen Namen verdient. Man sagt zu Recht, dass sich der Entwicklungsstand einer Zivilisation danach bemisst, wie sehr sie sich um den Nächsten kümmert. Es gibt noch so viel Unrecht, Armut und Vereinsamung, dass unser Gewissen nicht ruhen darf.
Die Frage ist, ob diese Tugend der Großherzigkeit sich auf lange Sicht ohne eine religiöse Basis durchsetzen kann. Die Antwort ist: Nein.
Strukturen verändern nicht alles. Im Gegenteil. Der menschliche Faktor bleibt entscheidend, wie fremdbestimmt er manchmal auch sein mag. Erziehung, gute Vorbilder, die Weitergabe von Werten ganz allgemein, bleiben ungeheuer wichtig. Ihre Vehikel sind Familie, Unterricht und die Medien. Sie alle werden inspiriert vom Glauben.
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