Kitabı oku: «Knulp», sayfa 4
Knulp sagte: »Ein jeder Mensch hat seine Seele, die kann er mit keiner anderen vermischen. Zwei Menschen können zueinander gehen, sie können miteinander reden und nah beieinander sein. Aber ihre Seelen sind wie Blumen, jede an ihrem Ort angewurzelt, und keine kann zu der andern kommen, sonst müßte sie ihre Wurzel verlassen, und das kann sie eben nicht. Die Blumen schicken ihren Duft und ihren Samen aus, weil sie gern zueinander möchten; aber daß ein Same an seine rechte Stelle kommt, dazu kann die Blume nichts tun, das tut der Wind, und der kommt her und geht hin, wie und wo er will.«
Und später: »Der Traum, den ich dir erzählt habe, hat vielleicht die gleiche Bedeutung. Ich habe weder der Henriette mit Wissen unrecht getan noch der Lisabeth. Aber durch das, daß ich beide einmal liebgehabt und zu eigen habe nehmen wollen, sind sie für mich zu einer solchen Traumgestalt geworden, die beiden ähnlich sieht und doch keine ist. Die Gestalt gehört mir eigen, aber sie ist nichts Lebendiges mehr. So habe ich auch oft über meine Eltern nachdenken müssen. Die meinen, ich sei ihr Kind und ich sei wie sie. Aber wenn ich sie auch lieben muß, bin ich doch ihnen ein fremder Mensch, den sie nicht verstehen können. Und das, was die Hauptsache an mir und vielleicht gerade meine Seele ist, das finden sie nebensächlich und schreiben es meiner Jugend oder Laune zu. Dabei haben sie mich gern und täten mir gern alles Liebe. Ein Vater kann seinem Kind die Nase und die Augen und sogar den Verstand zum Erbe mitgeben, aber nicht die Seele. Die ist in jedem Menschen neu.«
Ich hatte nichts dazu zu sagen, da ich diese Gedankenwege damals noch nicht, wenigstens nicht aus eigenem Bedürfnis, gegangen war. Mir war bei diesem Spintisieren eigentlich recht wohl zumute, da es mir nicht bis ans Herz ging und ich deshalb vermutete, es werde auch für Knulp mehr ein Spiel als ein Kampf sein. Außerdem war es friedsam schön, da zu zweien im trockenen Gras zu liegen, auf die Nacht und den Schlaf zu warten und die frühen Sterne zu betrachten.
Ich sagte: »Knulp, du bist ein Denker. Du hättest sollen Professor werden.«
Er lachte und schüttelte den Kopf.
»Viel eher könnt es sein, daß ich noch einmal zur Heilsarmee ginge,« meinte er dann nachdenklich.
Das war mir zu viel. »Du,« sagte ich, »spiel mir doch nichts vor! Willst du nicht auch noch ein Heiliger werden?«
»Doch, das will ich auch. Jeder Mensch ist heilig, wenn es ihm mit seinen Gedanken und Taten wirklich Ernst ist. Wenn man etwas für recht hält, muß man es tun. Und wenn ich es einmal für das richtige halte, daß ich zur Heilsarmee gehe, dann werde ich’s hoffentlich auch tun.«
»Immer die Heilsarmee!«
»Jawohl. Ich will dir sagen, warum. Ich habe schon mit vielen Leuten gesprochen und auch viele Reden halten hören. Ich habe Pfarrer und Lehrer und Bürgermeister und Sozialdemokraten und Liberale reden hören; aber es war keiner dabei, dem es ganz bis ins Herz hinein Ernst war und dem ich zugetraut hätte, daß er im Notfall für seine Weisheit sich selber geopfert hätte. Bei der Heilsarmee aber, mit allem Musikmachen und Radau, hab ich schon drei-, viermal Leute gesehen und gehört, denen ist es Ernst gewesen.«
»Woher weißt du das denn?«
»Das sieht man schon. Der eine zum Beispiel, der hat in einem Dorf eine Rede gehalten, am Sonntag, im Freien bei einem Staub und einer Hitze, daß er bald ganz heiser war. Kräftig hat er ohnedas nicht ausgesehen. Wenn er kein Wort mehr herausbrachte, ließ er seine drei Kameraden einen Vers singen und nahm derweil einen Schluck Wasser. Das halbe Dorf ist um ihn herumgestanden, Kinder und Große, und haben ihn für Narren gehabt und kritisiert. Hinten stand ein junger Knecht, der hatte eine Peitsche und ließ von Zeit zu Zeit einen Mordsknaller los, um den Redner recht zu ärgern, und dann lachten jedesmal alle. Aber der arme Kerl ist nicht bös geworden, obwohl er gar nicht dumm war, sondern hat sich mit seinem Stimmlein in dem Spektakel durchgefochten und hat gelächelt, wo ein andrer geheult oder geflucht hätte. Weißt du, das tut einer nicht um einen Hungerlohn und um des Vergnügens willen, sondern er muß eine große Helligkeit und Gewißheit in sich haben.«
»Meinetwegen. Aber eins paßt nicht für alle. Und wer ein feiner und empfindsamer Mensch ist wie du, der tut bei dem Spektakel nicht mit.«
»Vielleicht doch. Wenn er etwas weiß und hat, was noch viel besser ist als die ganze Feinheit und Empfindsamkeit. Es paßt freilich nicht eins für alle, aber die Wahrheit, die muß für alle passen.«
»Ach Wahrheit! Woher weiß man, ob gerade die mit ihrem Halleluja die Wahrheit haben.«
»Das weiß man nicht, ganz richtig. Aber ich sage ja nur: Wenn ich einmal finde, daß das die Wahrheit ist, dann will ich ihr auch folgen.«
»Ja wenn! Aber du findest ja jeden Tag eine Weisheit, und morgen läßt du sie nimmer gelten.«
Er sah mich betroffen an.
»Da hast du etwas Schlimmes gesagt.«
Ich wollte mich entschuldigen, doch wehrte er ab und blieb still. Bald sagte er leise gut Nacht und legte sich ruhig hin, aber ich glaube nicht, daß er schon schlief. Auch ich war noch zu lebhaft und lag noch weit über eine Stunde lang mit aufgestützten Ellbogen da und schaute in das nächtliche Land hinein.
Am Morgen sah ich gleich, daß Knulp heute seinen guten Tag habe. Ich sagte ihm das, und er strahlte mich mit seinen kinderhaften Augen an und sagte: »Richtig geraten. Und weißt du auch, wo es herkommt, wenn einer so einen guten Tag hat?«
»Nein, woher?«
»Es kommt davon, daß man nachts gut geschlafen und recht viel Schönes geträumt hat. Aber man darf es nimmer wissen. So geht mir’s heute. Ich habe lauter Pracht und Lustbarkeit zusammengeträumt, aber alles vergessen; ich weiß nur noch, daß es herrlich schön gewesen ist.«
Und noch eh wir das nächste Dorf erreicht und eine Morgenmilch im Leibe hatten, sang er schon mit seiner warmen, leichten, mühelosen Stimme drei, vier nagelneue Lieder in die nüchterne Frühe hinein. Aufgeschrieben und abgedruckt würden diese Lieder vielleicht recht wenig vorstellen. Aber wenn Knulp kein großer Dichter war, so war er doch ein kleiner, und während er sie selber sang, sahen seine Liedchen den schönsten anderen oft ähnlich wie hübsche Geschwister. Und einzelne Stellen und Verse, die ich behalten habe, sind wahrhaft schön und mir noch immer wert. Es ist nichts davon aufgeschrieben worden, und seine Verse kamen, lebten und starben harmlos und verantwortungslos, wie die Lüfte wehen, aber sie haben nicht nur mir und ihm, sondern vielen anderen, Kindern und Alten, manche Viertelstunde schön und lieb gemacht.
Hell und sonntagsangetan
Wie ein Fräulein aus dem Tor,
Kommt sie rot und aber stolz
Überm Tannenwald hervor –
Den damaligen Tag wurde ich ganz von seiner Laune angesteckt. Wir begrüßten und neckten alle Leute, die uns begegneten, so daß hinter uns her bald gelacht, bald geschimpft wurde, und der ganze Tag verging uns wie eine Festlichkeit. Wir erzählten einander Streiche und Witze aus der Schulzeit, hingen den vorübergehenden Bauern und oft auch ihren Rossen und Ochsen Spitznamen an, aßen uns an einem verborgenen Gartenzaun an gestohlenen Stachelbeeren satt und schonten unsere Kräfte und Stiefelsohlen, indem wir beinahe jede Stunde eine Rast hielten.
Mir schien, seit meiner noch jungen Bekanntschaft mit Knulp hätte ich ihn noch nie so fein und lieb und unterhaltsam gefunden, und ich freute mich darauf, daß von heute an das eigentliche Zusammenleben und Wandern und Lustigsein erst anheben sollte.
Der Mittag wurde schwül, und wir lagen mehr im Grase als wir marschierten, und gegen den Abend hin zog sich Gewitterdunst und drange Luft zusammen, so daß wir beschlossen, für die Nacht ein Dach zu suchen.
Knulp wurde nun allmählich stiller und ein wenig müde, doch merkte ich es kaum, denn er lachte noch immer herzlich mit und stimmte oft in meinen Gesang ein, und ich selber ward noch ausgelassener und fühlte ein Freudenfeuer um das andere in mir angehen. Vielleicht war es bei Knulp umgekehrt, daß in ihm die festlichen Lichter schon zu verglimmen begannen. Mir ist es damals immer so gegangen, daß ich an frohen Tagen gegen die Nacht hin immer lebhafter wurde und kein Ende finden konnte, ja, oft trieb ich mich nach einer Lustbarkeit nachts noch ganze Stunden allein herum, wenn die andern längst ermüdet waren und schliefen.
Dieses abendliche Freudenfieber befiel mich auch damals, und ich freute mich, als wir talwärts gegen ein stattliches Dorf kamen, auf eine lustige Nacht. Vorerst bestimmten wir eine abseits stehende, leicht zugängliche Scheuer zu unserer Nachtherberge, dann zogen wir in das Dorf ein und in einen schönen Wirtsgarten, denn ich hatte meinen Freund für heute als meinen Gast geladen und dachte einen Eierkuchen und ein paar Flaschen Bier zu spendieren, weil es doch ein Freudentag war.
Knulp hatte die Einladung auch willig angenommen. Doch als wir unter einem schönen Platanenbaum an unsrem Gartentisch Platz nahmen, sagte er halb verlegen: »Du, wir wollen aber keine Trinkerei anfangen, gelt? Eine Flasche Bier trink ich gern, das tut gut und ist mir ein Vergnügen, aber mehr mag ich kaum vertragen.«
Ich ließ es gut sein und dachte: Wir werden schon zu so viel oder wenig kommen, als uns Freude macht. Wir aßen den heißen Eierkuchen und ein kräftig frisches, braunes Roggenbrot dazu, und allerdings ließ ich mir bald eine zweite Flasche Bier bringen, während Knulp seine erste noch halbvoll hatte. Mir war, da ich wieder üppig und herrschaftlich an einem guten Tische saß, herzlich wohl zumut, und ich dachte das heute abend noch eine Weile zu genießen.
Als Knulp mit seinem Bier zu Ende war, nahm er trotz meiner Bitten keine zweite an und schlug mir vor, jetzt noch ein wenig durchs Dorf zu schlendern und dann zeitig schlafen zu gehen. Das war nun gar nicht meine Absicht, doch mochte ich nicht geradezu widersprechen. Und da meine Flasche noch nicht leer war, hatte ich auch nichts dagegen, daß er einstweilen vorausging, wir würden uns nachher schon wieder treffen.
Er ging denn auch. Ich sah ihm nach, wie er mit seinem bequemen, genießenden Feierabendschritt, eine Sternblume hinterm Ohr, die paar Treppen hinab auf die breite Gasse und langsam dorfeinwärts bummelte. Und wenn es mir auch leid tat, daß er nicht noch eine Flasche mit mir leeren wollte, dachte ich im Nachschauen doch froh und zärtlich: Du lieber Kerl!
Inzwischen nahm die Schwüle, trotzdem die Sonne schon verschwunden war, noch immer zu. Ich hatte das gern, bei solchem Wetter in Ruhe bei einem frischen Abendtrunk zu sitzen, und richtete mich an meinem Tische noch auf einiges Bleiben ein. Da ich beinahe der einzige Gast war, fand die Kellnerin reichlich Zeit, mit mir ein Gespräch zu pflegen. Ich ließ mir von ihr auch noch zwei Zigarren bringen, von denen ich eine anfänglich für Knulp bestimmte, doch rauchte ich sie nachher in der Vergeßlichkeit selber noch.
Einmal, etwa nach einer Stunde, kam Knulp wieder und wollte mich abholen. Ich war jedoch seßhaft geworden, und da er müde war und Schlaf hatte, wurden wir einig, daß er an unsere Schlafstätte gehen und sich hinlegen sollte. So ging er denn. Die Kellnerin aber fing sofort an, mich nach ihm auszufragen, denn er stach allen Mädchen in die Augen. Ich hatte nichts dagegen, er war ja mein Freund und sie nicht mein Schatz, und ich pries ihn sogar noch mächtig, denn mir war wohl und ich meinte es mit jedermann gut.
Es fing zu donnern und leis im Platanenbaum zu winden an, als ich endlich spät aufbrach. Ich zahlte, schenkte dem Mädchen einen Zehner und machte mich ohne Eile auf den Weg. Im Gehen spürte ich wohl, daß ich eine Flasche zu viel getrunken hatte, denn ich hatte die letzte Zeit ganz ohne starkes Getränk gelebt. Doch machte mich das nur vergnügt, denn ich konnte schon etwas vertragen, und ich sang noch den ganzen Weg vor mich hin, bis ich unser Quartier wiederfand. Da stieg ich leise hinein und fand richtig den Knulp im Schlaf liegen. Ich sah ihn an, wie er hemdärmlig auf seiner ausgebreiteten braunen Jacke lag und gleichmäßig atmete. Seine Stirn und der bloße Hals und die eine Hand, die er von sich weggestreckt hielt, gaben in dem trüben Halbdunkel einen bleichen Schein.
Dann legte ich mich in den Kleidern nieder, doch machte die Erregung und der eingenommene Kopf mich immer wieder wach, und es wurde draußen schon Zwielicht, als ich endlich fest und tief und dumpf einschlief. Es war ein fester, doch kein guter Schlaf, ich war schwer und matt geworden und hatte undeutliche, plagende Träume.
Am Morgen erwachte ich erst spät, es war schon voller Tag, und das helle Licht tat mir in den Augen weh. Mein Kopf war leer und trüb und die Glieder müde. Ich gähnte lange, rieb mir die Augen und streckte die Arme, daß die Gelenke knackten. Aber trotz der Müdigkeit hatte ich noch einen Rest und Nachklang von der gestrigen Laune in mir und dachte den kleinen Jammer am nächsten klaren Brunnen von mir zu spülen.
Es kam jedoch anders. Als ich mich umsah, war Knulp nicht vorhanden. Ich rief und pfiff nach ihm und war im Anfang noch ganz arglos. Als jedoch Rufen, Pfeifen und Suchen vergeblich blieb, kam mir plötzlich die Erkenntnis, daß er mich verlassen habe. Ja, er war fort, heimlich fortgegangen, er hatte nicht länger bei mir bleiben mögen. Vielleicht weil ihm mein gestriges Trinken zuwider war, vielleicht weil er sich heute seiner eigenen gestrigen Ausgelassenheit schämte, vielleicht nur aus einer Laune, vielleicht aus Zweifel an meiner Gesellschaft oder aus einem plötzlich erwachten Bedürfnis nach Einsamkeit. Aber wahrscheinlich war doch mein Trinken daran schuld.
Die Freude wich von mir, Scham und Trauer erfüllten mich ganz. Wo war jetzt mein Freund? Ich hatte, seinen Reden zum Trotz, gemeint, seine Seele ein wenig zu verstehen und teil an ihm zu haben. Nun war er fort, ich stand allein und enttäuscht, mußte mich mehr als ihn anklagen und hatte nun die Einsamkeit, in welcher nach Knulps Ansicht jeder lebt und an die ich nie ganz hatte glauben mögen, selber zu kosten. Sie war bitter, nicht nur an jenem ersten Tag, und sie ist inzwischen wohl manches Mal lichter geworden, aber völlig will sie mich seither nimmer verlassen.
Das Ende
Es war ein heller Tag im Oktober; die leichte, durchsonnte Luft wurde von launigen kurzen Windzügen bewegt, aus Feldern und Gärten zog in dünnen, zögernden Bändern der hellblaue Rauch von Herbstfeuern und erfüllte die lichte Landschaft mit einem scharfsüßen Geruch von verbranntem Kraut und Grünholz. In den Dorfgärten blühten sattfarbige Buschastern, späte bläßliche Rosen und Georginen, und an den Zäunen brannte noch hier und dort eine feurige Kapuzinerblüte aus dem schon matt und weißlich schimmernden Gekräut.
Auf der Landstraße nach Bulach fuhr langsam der Einspänner des Doktors Machold. Der Weg ging sachte bergan, links abgemähte Äcker und Kartoffelfelder, in denen noch geerntet wurde, rechts junger enger Fichtenwald halb erstickt, eine braune Wand von dichtgedrängten Stangen und dürren Zweigen, der Boden gleichfarbig trockenbraun voll dick gelagerter welker Nadeln. Geradeaus führte die Straße einfach in den zartblauen Herbsthimmel hinein, als habe da oben die Welt ein Ende.
Der Doktor hielt die Zügel lose in den Händen und ließ das alte Pferdchen gehen, wie es wollte. Er kam von einer sterbenden Frau, der nicht mehr zu helfen war und die doch zäh ums Leben gekämpft hatte bis zur letzten Stunde. Nun war er müde und genoß die stille Fahrt durch den freundlichen Tag; seine Gedanken waren eingeschlafen und folgten leicht betäubt und willenlos den Zurufen, die aus dem Geruch der Feldfeuerchen aufstiegen, angenehme, verschwommene Erinnerungen an Herbstferientage der Schülerzeit und weiter zurück in klangvolle, gestaltlose Kindheitsdämmerung. Denn er war auf dem Lande aufgewachsen, und seine Sinne folgten erfahren und willig allen ländlichen Zeichen der Jahreszeiten und ihrer Geschäfte.
Er war nahe am Einschlafen, da weckte ihn das Stehenbleiben des Wagens. Eine Wasserrinne lief quer über die Straße, darin fanden die Vorderräder einen Halt, und das Roß blieb dankbar stehen, senkte den Kopf und genoß wartend die Rast.
Machold ermunterte sich über dem plötzlichen Verstummen der Räder, nahm die Zügel zusammen, sah lächelnd nach verdämmerten Minuten Wald und Himmel wie zuvor in sonniger Klarheit stehen und trieb den Gaul mit vertraulichem Zungenschnalzen zum Weitersteigen an. Darauf setzte er sich aufrecht, er liebte es nicht am Tage zu schlummern, und steckte sich eine Zigarre an. Die Fahrt ging im langsamen Schritt weiter, zwei Weiber grüßten vom Felde, in Schattenhüten hinter einer langen Front von gefüllten Kartoffelsäcken hervor.
Die Höhe war jetzt nahe, und das Pferdchen hob den Kopf, ermuntert und voll Erwartung, nächstens den langen Sattel des heimatlichen Hügels hinabzutraben. Da erschien im nahen lichten Horizont von drüben her ein Mensch, ein Wanderer, stand einen Augenblick vom Blau umlodert frei und hoch, stieg nieder und wurde grau und klein. Er kam näher, ein magerer Mann mit kleinem Bart in schlechten Kleidern, sichtlich auf der Landstraße daheim, er ging müde und mühevoll, aber er zog den Hut mit stiller Artigkeit und sagte: Grüß Gott.
»Grüß Gott,« sagte der Doktor Machold und sah dem Fremden nach, der schon vorüber war, und plötzlich hielt er den Gaul an, wandte sich stehend über das knarrende Lederdach zurück und rief: »Heda, Sie! Kommen Sie einmal her!«
Der staubige Wanderer blieb stehen und sah zurück. Er lächelte schwach herüber, wandte sich wieder ab und schien weitergehen zu wollen, dann besann er sich dennoch und kehrte gehorsam um.
Jetzt stand er neben dem niederen Wagen und hatte den Hut in der Hand.
»Wohinaus, wenn man fragen darf?« rief Machold.
»Der Straße nach, gegen Berchtoldsegg.«
»Kennen wir einander nicht? Ich kann bloß nicht auf den Namen kommen. Sie wissen doch, wer ich bin?«
»Sie sind der Doktor Machold, will mir scheinen.«
»Na also? Und Sie? Wie heißen Sie?«
»Der Herr Doktor wird mich schon kennen. Wir sind einmal nebeneinander beim Präzeptor Plocher gesessen, Herr Doktor, und Sie haben damals die lateinischen Präparationen von mir abgeschrieben.«
Machold war schnell ausgestiegen und sah dem Mann in die Augen. Dann klopfte er ihm auflachend auf die Schulter.
»Stimmt!« sagte er. »Dann bist du also der berühmte Knulp, und wir sind Schulkameraden. So laß dir doch die Hand schütteln, alter Kerl! Wir haben uns sicher zehn Jahre nimmer gesehen. Immer noch auf der Wanderschaft?«
»Immer noch. Man bleibt gern beim Gewohnten, wenn man älter wird.«
»Da hast du recht. Und wohin geht die Reise? Wieder einmal der Heimat zu?«
»Richtig geraten. Ich will nach Gerbersau, ich habe eine Kleinigkeit dort zu tun.«
»So, so. Lebt denn noch jemand von deinen Leuten?«
»Niemand mehr.«
»Gerade jugendlich schaust du nimmer aus, Knulp. Wir sind doch erst Vierziger, wir zwei. Und daß du so einfach an mir vorbei hast laufen wollen, ist nicht recht von dir. – Weißt du, mir scheint, du könntest vielleicht einen Doktor brauchen.«
»Ach was. Mir fehlt weiter nichts, und was mir fehlt, das kann doch kein Doktor kurieren.«
»Das wird sich ja zeigen. Jetzt steig einmal ein und komm mit mir, dann können wir besser reden.«
Knulp trat ein wenig zurück und setzte den Hut wieder auf. Mit verlegenem Gesicht wehrte er sich, als der Doktor ihm in den Wagen helfen wollte.
»Ach, wegen dessen, das wäre nicht nötig. Das Rößlein rennt dir nicht fort, solang wir dastehen.
Indessen faßte ihn ein Anfall von Husten, und der Arzt, der schon Bescheid wußte, packte ihn kurzerhand und setzte ihn in das Gefährt.
»So,« sagte er im Weiterfahren, »gleich sind wir droben, und dann geht’s Trab, in einer halben Stunde sind wir daheim. Du brauchst keine Unterhaltung zu machen, mit deinem Husten, wir können dann daheim weiter reden. – – Was? – – Nein, das hilft dir jetzt nichts mehr, kranke Leute gehören ins Bett und nicht auf die Landstraße. Weißt du, damals im Latein hast du mir oft genug geholfen, jetzt bin ich einmal an der Reihe.«
Sie fuhren über den Höhenrücken und mit pfeifender Bremse den langen Sattel hinab; gegenüber sah man schon die Dächer von Bulach über den Obstbäumen. Machold hielt die Zügel kurz und paßte auf den Weg, und Knulp ergab sich müde in halbem Behagen dem Genuß des Fahrens und der gewaltsamen Gastfreundschaft. Morgen, dachte er, oder spätestens übermorgen walze ich weiter nach Gerbersau, wenn die Knochen noch zusammenhalten. Er war kein Springinsfeld mehr, der die Tage und Jahre verschwendete. Er war ein kranker, alter Mann, der keinen Wunsch mehr hatte, als vor dem Ende noch einmal die Heimat zu sehen.
In Bulach nahm ihn sein Freund zuerst in die Wohnstube und gab ihm Milch zu trinken und Brot mit Schinken zu essen. Dabei plauderten sie und fanden langsam die Vertrautheit wieder. Dann erst nahm ihn der Arzt ins Verhör, das der Kranke gutmütig und etwas spöttisch über sich ergehen ließ.
»Weißt du eigentlich, was dir fehlt?« fragte Machold am Ende seiner Untersuchung. Er sagte es leicht und ohne Wichtigkeit, und Knulp war ihm dafür dankbar.
»Ja, ich weiß schon, Machold. Es ist die Auszehrung, und ich weiß auch, daß es nimmer lang gehen kann.«
»Na, wer weiß! Aber dann mußt du also auch einsehen, daß du in ein Bett und in eine Pflege gehörst. Einstweilen kannst du ja hier bei mir bleiben, ich sorge inzwischen für einen Platz im nächsten Spital. Es spukt bei dir, mein Lieber, und du mußt dich zusammennehmen, daß du’s noch einmal durchhaust.«
Knulp zog seinen Rock wieder an. Er wandte sein hageres und graues Gesicht mit einem Ausdruck von Schelmerei dem Doktor zu und sagte gutmütig: »Du machst dir viele Mühe, Machold. Also meinetwegen. Aber von mir darfst du nimmer viel erwarten.«
»Wir werden ja sehen. Jetzt setzest du dich in die Sonne, so lang sie noch in den Garten scheint. Die Lina macht dir das Gastbett zurecht. Wir müssen dir auf die Finger sehen, Knülplein. Daß so ein Mensch, der sein ganzes Leben in der Sonne und Luft zugebracht hat, sich dabei ausgerechnet die Lungen kaputt macht, ist eigentlich nicht in der Ordnung.«
Damit ging er weg.
Die Haushälterin Lina war nicht erfreut und wehrte sich dagegen, so einen Landstreicher ins Gastzimmer zu lassen. Aber der Doktor schnitt ihr das Wort ab.
»Lassen Sie gut sein, Lina. Der Mann hat nimmer lang zu leben, er muß es bei uns noch ein bißchen gut haben. Sauber ist er übrigens immer gewesen, und eh er zu Bett geht, stecken wir ihn ins Bad. Tun Sie ihm eins von meinen Nachthemden heraus und vielleicht meine Winterpantoffeln. Und vergessen Sie nicht: Der Mann ist ein Freund von mir.«
Knulp hatte elf Stunden geschlafen und den nebligen Morgen im Bett verdämmert, wo er sich erst allmählich darauf besinnen konnte, bei wem er sei. Als die Sonne herausgekommen war, hatte Machold ihm das Aufstehen erlaubt, und nun saßen sie beide nach Tisch bei einem Glas Rotwein auf der sonnigen Altane. Knulp war vom guten Essen und von seinem halben Glas Wein munter und gesprächig geworden, und der Doktor hatte sich für eine Stunde frei gemacht, um noch einmal mit dem seltsamen Schulkameraden zu plaudern und vielleicht etwas über dieses nicht gewöhnliche Menschenleben zu erfahren.
»Du bist also zufrieden mit dem Leben, das du gehabt hast?« sagte er lächelnd. »Dann ist ja alles gut. Sonst hätte ich aber doch gesagt, es ist eigentlich schad um so einen Kerl wie dich. Du hättest ja kein Pfarrer oder Lehrer zu werden brauchen, vielleicht aber wäre ein Naturforscher oder auch etwa ein Dichter aus dir geworden. Ich weiß nicht, ob du deine Gaben benutzt und weiter gebildet hast, aber du hast sie für dich allein verbraucht. Oder nicht?«
Knulp stützte das Kinn mit dem dünnen Bärtchen in die hohle Hand und sah auf die roten Lichter, die hinterm Weinglas auf dem besonnten Tischtuch spielten.
»Es stimmt nicht ganz,« sagte er langsam. »Die Gaben, wie du es nennst, damit ist es nicht so weit her. Ich kann ein bißchen kunstpfeifen, auch Handorgel spielen und manchmal Verslein machen, früher bin ich auch ein guter Läufer gewesen und habe nicht schlecht getanzt. Das ist alles. Und daran habe ich ja nicht allein Freude gehabt, es waren meistens Kameraden dabei, oder junge Mädel oder Kinder, die haben ihren Spaß daran gehabt und sind mir manchmal dafür dankbar gewesen. Wir wollen es gut sein lassen und damit zufrieden sein.«
»Ja,« sagte der Doktor, »das wollen wir. Aber eins muß ich dich noch fragen. Du bist damals bis in die fünfte Klasse mit mir in die Lateinschule gegangen, ich weiß es noch genau, und bist ein guter Schüler gewesen, wenn auch kein Musterbub. Und dann auf einmal warst du weg, und es hieß, du gehest jetzt in die Volksschule, und da waren wir auseinander, ich durfte ja als Lateiner nicht mit einem Freund sein, der in die Volksschule ging. Wie ist nun das zugegangen? Später, wenn ich von dir hörte, habe ich immer gedacht: Wenn er damals bei uns in der Schule geblieben wäre, hätte alles anders kommen müssen. Also, wie war’s damit? War es dir verleidet, oder hat dein Alter das Schulgeld nimmer zahlen mögen, oder was sonst?«
Der Kranke nahm sein Glas in die braune, magere Hand, doch trank er nicht, er blickte nur durch den Wein gegen das grüne Gartenlicht und stellte dann den Kelch vorsichtig auf den Tisch zurück. Schweigend schloß er dann die Augen und versank in Gedanken.
»Ist es dir zuwider, davon zu reden?« fragte sein Freund. »Es muß ja nicht sein.«
Da tat Knulp die Augen auf und sah ihm lange und prüfend ins Gesicht.
»Doch,« sagte er, noch zögernd, »ich glaube, es muß sein. Ich habe das nämlich noch nie einem Menschen erzählt. Aber jetzt ist es vielleicht ganz gut, wenn jemand es hört. Es ist ja bloß eine Kindergeschichte, aber für mich ist sie doch wichtig gewesen, es hat mir jahrelang zu schaffen gemacht. Sonderbar, daß du gerade danach fragst!«
»Warum?«
»Ich habe die letzte Zeit wieder viel daran denken müssen, und deswegen bin ich auch wieder auf dem Weg nach Gerbersau.«
»Ja, dann erzähle.«
»Siehst du, Machold, wir sind ja damals gute Freunde gewesen, wenigstens bis in die dritte oder vierte Klasse. Nachher kamen wir weniger zusammen, und du hast manchmal vergebens vor unserem Haus gepfiffen.«
»Herrgott, ja, das stimmt! Daran habe ich seit mehr als zwanzig Jahren nimmer gedacht. Mensch, was hast du für ein Gedächtnis! Und weiter?«
»Ich kann dir jetzt sagen, wie das gegangen ist. Die Mädchen waren daran schuld. Ich bin ziemlich früh auf sie neugierig geworden, und du hast noch an den Storch und an den Kindlesbrunnen geglaubt, da wußte ich schon so ziemlich, wie es mit Buben und Mädeln beschaffen ist. Das war mir damals die Hauptsache, darum bin ich nimmer viel bei eurem Indianerspiel dabei gewesen.«
»Da warst du zwölf Jahr alt, nicht?«
»Fast dreizehn, ich bin ein Jahr älter als du. Wie ich einmal krank war und im Bett lag, da hatten wir eine Base zum Besuch da, die war drei oder vier Jahr älter als ich, und die fing an mit mir zu spielen, und als ich wieder gesund und auf war, bin ich einmal nachts zu ihr in die Stube gegangen. Da wurde mir bekannt, wie ein Frauenzimmer aussieht, und ich war elend erschrocken und bin davongelaufen. Mit der Base wollte ich jetzt kein Wort mehr reden, sie war mir verleidet, und ich hatte Angst vor ihr, aber die Sache war mir halt einmal im Kopf, und von da an bin ich eine Zeitlang bloß den Mädchen nachgegangen. Beim Rotgerber Haasis waren zwei Töchter in meinem Alter, und da kamen auch andere Mädchen aus der Nachbarschaft hin, wir spielten auf den dunkeln Böden Verstecken und hatten immer viel zu kichern und zu kitzeln und geheim zu tun. Ich war meistens der einzige Bub in dieser Gesellschaft, und manchmal durfte ich einer von ihnen die Zöpfe flechten oder eine gab mir einen Kuß, wir waren alle noch unerwachsen und wußten nicht recht Bescheid, aber es war alles voll von Verliebtheit, und beim Baden versteckte ich mich in die Büsche und sah ihnen zu. – – Und eines Tages war eine Neue da, eine aus der Vorstadt, ihr Vater war Arbeiter in der Strickerei. Sie hat Franziska geheißen, und sie hat mir gleich beim erstenmal gut gefallen.«