Kitabı oku: «Alles, was ich wollte, war Freiheit», sayfa 2

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EIN „MÄDCHEN AUS GUTEM HAUSE“ WIRD SCHAUSPIELERIN

Der richtige Name der 1880 in Wien geborenen Tochter eines Chemieprofessors und einer ungarischen Pianistin lautet Ottilie Godeffroy de la Rochelle. Da sie trotz heftigen Widerstands der Mutter – der Vater war verstorben, als sie vierzehn Jahre alt war – darauf bestand, Schauspielerin zu werden, musste sie aus Gründen der Familienehre ihren Namen gegen den ihrer Großmutter tauschen. Sie nannte sich nun Tilla Durieux.

„In Wien, wo ich alsda geboren aufwuchs, gab es acht Schulklassen für Mädchen. Weitere Bildung wurde dem Geschmack und dem Geldbeutel der Eltern überlassen“,12 erzählt Tilla Durieux in ihren Erinnerungen. Die Mutter will aus der Tochter eine Pianistin oder zumindest eine Klavierlehrerin machen, sie auf einen bürgerlich akzeptablen Beruf vorbereiten und zwingt sie, täglich vier Stunden zu üben. Tilla hasst das Klavier, das ihr täglich vier Stunden Kindsein raubt, aber sie liebt es, wenn die Mutter spielt. Dann tanzt sie im Nebenzimmer, fühlt sich als Prinzessin oder Fee, erfüllt sich Wünsche in Tagträumen. Denn ihre Kindheit ist einsam. Sie wächst allein, ohne Geschwister auf. Noch als alte Frau wird sie von ihrer „einsamen, in Träumen versponnenen Kindheit“13 sprechen. Besuche im Wiener Burgtheater wecken in ihr den leidenschaftlichen Wunsch, Schauspielerin zu werden. Sie will ausbrechen aus der Enge ihrer bürgerlichen Herkunft in eine Welt, in der sich das Leben abspielt, buntes, facettenreiches Leben mit den Höhen und Tiefen, die sie sich in ihrer Fantasie ausmalt. Sie nennt es später ein „krankhaftes Sehnen nach einer anderen Welt, die doch irgendwo stecken musste. Einer Welt voller Geheimnisse und zugleich voller Wahrheit.14“

Als sie der Mutter diesen Wunsch gesteht, schlägt ihr „die fassungslose Frau“ ins Gesicht. Den Beruf einer Schauspielerin assoziiert man zu jener Zeit mit Oberflächlichkeit, Libertinage, sogar mit Prostitution, auf keinen Fall aber mit der Zukunft einer „höheren Tochter“. Die angebliche Freiheit der Schauspielerin wird als Bedrohung des Sittenkodex empfunden, der bürgerlichen Ehefrauen, vor allem aber den Töchtern auferlegt ist. „Nicht nur der Kreis meiner Eltern, sondern die ganze Welt hatte zu dieser Zeit andere Ansichten über die Erziehung junger Mädchen als heute. (…) Wenn einen Beruf auszuüben an sich schon damals für ein Mädchen eine Degradierung bedeutete, wie viel mehr stellte sich eine werdende Schauspielerin abseits von allem Erlauchten und Hergebrachten.“15

So mag man vielleicht die Ohrfeige erklären, mit der Tillas autoritäre Mutter auf den Berufswunsch der Tochter reagiert. Aber Tilla verfolgt ihn hartnäckig und erkämpft sich schließlich den Besuch der Theater- und Vorbereitungsschule des Wiener Hofschauspielers Karl Arnau. In der Saison 1899/​1900 macht sie ihre ersten Bühnenerfahrungen und erlebt am Wiener Raimundtheater in der Rolle der scheidungswilligen, lebenslustigen Cyprienne im gleichnamigen Lustspiel von Victorien Sardou den ersten Publikumserfolg. 1901 wird sie in Olmütz von Direktor Lesser trotz ihres „Ponems“ unter Vertrag genommen. „Eine Saison Olmütz, eine Saison Breslau, und schon landete ich bei Max Reinhardt in Berlin.“16 Es ist ein Blitzstart.


Tilla Durieux im Jahr 1910

KARRIERESTART IN BERLIN

Berlin um 1900 ist in fieberhafter Aufbruchsstimmung. Gegenüber London, Paris und Wien hat die einstige Provinzhauptstadt Nachholbedarf und den deckt sie mit rasantem Tempo.

„In verblüffender Hast wuchs die Stadt über Preußen hinaus und wurde Reichshauptstadt, sprengt auch diesen Rahmen und war bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs durch ihre gewaltigen Kunstsammlungen, durch ihre weltumspannenden Finanzinstitute, durch Musik, Theater, Ausländerverkehr und ihre internationale Halbwelt eine Art Weltzentrum, ja auf mehreren Gebieten das Weltzentrum. Die gewaltige Entwicklung der gesamten Nation – in Einwohnerzahl, Wohlstand, Geschmack – ließ sich von Jahr zu Jahr aus der Physiognomie der Stadt ablesen, die sprunghaft von dürftigem Provinzialismus zu Weltgeltung wechselte.“17

Mit rund zwei Millionen Einwohnern ist die Stadt damals bereits Weltmetropole und schickt sich an, Theatermetropole zu werden. Max Reinhardt schafft sich mit den Reinhardt-Bühnen ein regelrechtes Theaterimperium. Aus der 1901 eröffneten Kleinkunstbühne „Schall und Rauch“ wird „Das Kleine Theater“ mit literarisch anspruchsvollen Aufführungen und 1903 gründet Reinhardt das „Neue Theater am Schiffbauerdamm“. Er hat nur einen ernst zu nehmenden Konkurrenten, nämlich Otto Brahm.

Brahm, seit 1894 Leiter des „Deutschen Theaters“, spielt als Erster Henrik Ibsen, Gerhart Hauptmann, Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal. Als er Hauptmanns „Weber“ auf die Bühne bringt, kündigt Kaiser Wilhelm II. aus Protest die Hofloge. Brahm praktiziert den naturalistischen Inszenierungsstil, der allerdings nach Meinung der Durieux mit der Zeit verknöchert sei. Als sein Pachtvertrag mit dem Eigentümer des Theaters nicht verlängert wird, übernimmt Brahm 1905 die Leitung des „Lessingtheaters“ und Max Reinhardt die Leitung des „Deutschen Theaters“.

Max Reinhardt, 1873 in Baden bei Wien geboren, hatte als Banklehrling auf den Stehplätzen des „k. k. Hofburgtheaters“ in Wien seine Leidenschaft für das Theater entdeckt, privaten Schauspielunterricht genommen und später in Wien und Salzburg verschiedene Rollen gespielt. Otto Brahm hatte ihn in einer Aufführung in Wien gesehen, engagiert und 1894 in das Ensemble des„Deutschen Theaters“ aufgenommen. Letzten Endes hat Reinhardt, als er 1905 die Leitung des „Deutschen Theaters“ übernahm, seinen einstigen Förderer Brahm überflügelt und dann beerbt. Er wird zum Begründer des modernen Regietheaters und erweitert die Regietechnik um Massenszenen, aufwendige Ausstattung, Lichteffekte und die Verwendung der Drehbühne. Für Bühnenbild und Kostüme beschäftigt er regelmäßig anerkannte bildende Künstler. So werden Edvard Munch, Emil Orlik, Lovis Corinth und viele andere zu Mitgestaltern seiner Inszenierungen. Im Mittelpunkt seiner Theaterarbeit stehen aber immer der Schauspieler und die Schauspielkunst.

Für das kaisertreue Publikum gibt es Kaiser Wilhelms „Königliches Schauspielhaus“. Der betrachtet es als patriotische Anstalt zur Verfestigung vaterländischer Gesinnung und lässt hauptsächlich Klassiker mit großem Pathos und die Dramen Ernst Wildenbruchs aufführen. Hier gibt es wallende Locken, ausgestopfte Waden und viel Gold und Silber. Tilla Durieux nennt es respektlos Kitsch. Der aus Galizien stammende Schauspieler Alexander Granach, der aus dem Schtetl aufbrach, um bei Reinhardt in Berlin Schauspieler zu werden, vergleicht in seiner Autobiografie „Da geht ein Mensch“ den Aufführungsstil der drei wichtigsten Berliner Bühnen:

„Im Königlichen Schauspielhaus (…) waren mehr Schauspielbeamte. Alle gingen wie auf Kothurnen und sprachen schön, zu schön, zu getragen und machten Gesten, wie nie ein Mensch sie machen würde (…). Aber genau so wie die Schauspieler im Königlichen Schauspielhaus zu unnatürlich waren, waren die im Lessingtheater zu natürlich. Man hustete, spuckte, kratzte sich, machte Riesenpausen – eine Vorstellung sah dann so aus, als ob man zufällig in ein fremdes Haus hineingekommen und Zeuge peinlichster privater Auseinandersetzungen wäre. (…) Reinhardts Theater war zwischen den beiden. Es war natürlich und doch nicht alltäglich, es war feierlich und doch ohne falsches Pathos, es war Theater, ein romantisches, poetisches Theater.“18

Für Tilla Durieux ist der Eindruck, den Max Reinhardt auf sie macht, nach eigenen Worten „überwältigend“. Er spricht mit ihr und lässt sie jene andere Welt spüren, nach der sie sich seit ihrer Kindheit sehnt. Der Star unter Reinhardts Schauspielern ist damals Gertrud Eysoldt. Sie verfügt über ein großes Rollenspektrum, brilliert in den Stücken Hugo von Hofmannsthals, verkörpert hinreißend die Penthesilea im Drama von Heinrich Kleist und ist eine erotisch verführerische Lulu. Ihre Glanzrolle ist die Salome in Oscar Wildes gleichnamigem Einakter. Das Stück war nach der Pariser Uraufführung mit Sarah Bernhardt in der Titelrolle in Deutschland von der Zensur verboten worden und konnte nur in einer geschlossenen Vorstellung gezeigt werden. Reinhardt hatte über ein Jahr gekämpft, bis er es auf einer Berliner Bühne öffentlich aufführen konnte.

Portätfoto von 1905

Als die Eysoldt nach der dritten Vorstellung erkrankt, bietet sich für Tilla Durieux eine Chance. Die junge, unbekannte Schauspielerin, die von Breslau nach Berlin gekommen war und schon einige Rollen mit Erfolg bei Reinhardt gespielt hatte, springt für sie ein – und gewinnt. Tillas Darstellung der zügellosen orientalischen Prinzessin, eines frühreifen Mädchens, das sich seiner Macht über die Männer durchaus bewusst ist, begeistert und fasziniert Publikum und Kritik. Es ist Tillas Durchbruch, der Beginn ihrer großen Karriere.

„Diese Vorstellung habe ich tatsächlich mit vollständigem Aussetzen meines Bewusstseins gespielt, und ich erwachte erst, als der Vorhang fiel und der jubelnde Applaus mich wieder und immer wieder rief. Reinhardt kam auf mich zu und sagte: ,Sie sind ja ein großes Talent, wir werden Ihren Vertrag revidieren müssen.‘ Alles umringte mich, ich taumelte vor Freude.“19

So liest man es in den Erinnerungen der Schauspielerin. Die Zeit bei Max Reinhardt ist für Tilla Durieux zwar entbehrungsreich in materieller Hinsicht, aber überaus reich an Bühnenerfahrung. Auch in der Erinnerung noch voll begeistert schreibt sie:

„Wir waren alle verzaubert von seiner Persönlichkeit. Nur für die Proben lebten wir und die Aufführungen. Alles andere war wesenlos. Dass unsere Gagen winzig waren und wir verpflichtet waren, Kostüme und moderne Kleider davon zu schaffen, dass die Proben übermäßig lange dauerten, dass die Wangel20 und ich in der Nacht schneiderten, die Höflich21 verzweifelt mit Schulden kämpfte und ich immer mit knurrendem Magen herumlief – was machte das aus! Es wurde alles vergessen bei dieser wunderbaren Arbeit auf den Proben und bei den Premieren.“22

Bei aller Anerkennung für die Leistungen ihrer Konkurrentinnen setzt sich Tilla kritisch mit deren Aufführungsstil auseinander. Sie wirft Gertrud Eysoldt und Irene Triesch, der Hauptdarstellerin am „Deutschen Theater“, vor, in ihren Darstellungen in der Gedankenwelt der Jahrhundertwende verhaftet zu sein. Sie verkörpern ihrer Meinung nach ein Frauenbild aus einer Zeit, als Frauen noch nichts von Sport, nichts von Sonne, Luft und Wasser wussten, sondern sich vom Mann unverstanden fühlten, sich im verdunkelten Zimmer ihren seelischen Qualen hingaben und abends Verständnis und Trost erwarteten. „Diese Art Frauen verkörperte die Triesch und sie traf es ausgezeichnet.“23 Es ist ein Frauenbild, das Tilla Durieux so fremd ist, dass alles in ihr revoltiert.

„Dieses tränenreiche Stammeln und weichliche Jammern waren mir in tiefster Seele verhasst. (…) Ich wusste, ich würde jede dieser Rollen anders anpacken, denn dieses Hingeben ohne Abwehr, diese Trauer der schwachen Untätigen erschien mir verächtlich. Ich fühlte genau, dass ich mit dieser Auffassung allein stand.“24

Später, als sie ihren Stil gefunden hat, werden ihr manche Kritiker, zum Beispiel Alfred Kerr und Alfred Polgar, Mangel an Gefühl vorwerfen und ihren Intellekt betonen, den sie bei einer Schauspielerin als Nachteil werten. Auch Julius Bab stellt fest, dass das Herz nur wenig an ihrer Kunst beteiligt sei und schreibt: „Deshalb bleiben ihre allerpersönlichsten und allervollkommensten Leistungen wohl jene, die einen leicht karikaturistischen Einschlag haben. Wenn sie bei Shaw oder Schnitzler die Damen hinstichelt – dann ist sie schlechthin unübertrefflich. Denn dann triumphiert restlos ein überlegener Kunstverstand.“25

Es scheint, dass diese Kritiker jenem Frauenbild nachhängen, gegen das Tilla Durieux revoltiert. Doch bevor es so weit war, schreibt sie, musste ihr erst das Leben „Gelegenheit geben, einen bitteren Kampf zu kämpfen, und der Mann musste erst erscheinen, der mir den Weg zeigt, wie man seine Gedanken in Kunst umsetzt.“26 Dieser Mann erscheint in der Gestalt Paul Cassirers, ihres zweiten Ehemanns, als Tilla noch mit dem ersten verheiratet ist.

LEBENSMENSCH PAUL CASSIRER

Tillas Mutter, die mit ihr eine Wohnung teilt, ist einerseits stolz auf den Erfolg der Tochter, andererseits um deren Moral besorgt. Die ständigen Querelen und hysterischen Ausbrüche der Mutter mögen mit ein Grund für Tillas Heirat mit dem jungen Maler Eugen Spiro gewesen sein. Sie heiratet ihn 1904 und ist durch die Ehe dem Einfluss ihrer Mutter entzogen. Das Paar bezieht eine bescheidene Wohnung in Halensee, wo die Miete erschwinglich ist. Spiro hat regelmäßig kleinere Aufträge und Tilla spielt mit Erfolg die unterschiedlichsten Rollen. Doch die Ehe währt nicht einmal ein Jahr lang. Bei einer Abendgesellschaft, die Eugen Spiro und seine Gattin gemeinsam besuchen, lernt Tilla den renommierten Kunsthändler und Verleger Paul Cassirer kennen.

Er stammt aus einer assimilierten jüdischen Familie, die zu den reichsten und einflussreichsten Familien Berlins zählt. Cassirer ist Bahnbrecher der Moderne in Kunst und Literatur im damals tobenden Richtungsstreit zwischen der vor allem in Frankreich florierenden Kunstströmung der Impressionisten und dem in Deutschland offiziell sanktionierten Historismus. Die neue Kunstszenerie der Impressionisten und der Expressionisten, die Cassirer in Paris kennengelernt hat, will er gegen den expliziten Widerstand des Kaiserhauses und konservativer Adels- und Großbürgerkreise auch in Berlin durchsetzen. Gemeinsam mit seinem Cousin Bruno Cassirer eröffnet er am 1. November 1898 mit einer Ausstellung dreier Künstler der europäischen Moderne, Max Liebermann, Edgar Degas und Constantin Meunier, einen Kunstsalon in der Berliner Viktoriastraße 35. Bereits 1901 hatte er mit untrüglichem Gespür Vincent van Gogh in Deutschland ausgestellt, bis 1910 in insgesamt zehn Einzelausstellungen. Nach der Trennung von seinem Cousin führt Paul den Kunstsalon allein weiter. 1904 zeigt er eine große Cézanne-Ausstellung mit dreißig Gemälden. 1908 gründet er den „Paul Cassirer Verlag“, in dem er den literarischen Expressionismus verlegt, und 1909 die „Pan-Presse“, eine Druckanstalt für Originalgrafik mit dem Ziel, die besten zeitgenössischen Künstler zu vereinen. Als Mitbegründer und Mitherausgeber der Zeitschrift Pan verlegt er während des Ersten Weltkriegs in der Schweiz pazifistische Literatur.


Paul Cassirer, 1912 (Porträt von Leopold von Kalkreuth)

Kaiser Wilhelm II., der nicht nur Europas mächtigster Regent sein will, hat auch den Ehrgeiz, als Förderer von Kunst und Wissenschaft in die Geschichte einzugehen. „Eine Kunst, die sich über die von mir bezeichneten Grenzen und Schranken hinwegsetzt, ist keine Kunst mehr“,27 stellt er lapidar fest. Aber Cassirer kümmert sich nicht um diese Grenzen und stellt die schönsten modernen Werke in seinem Salon aus. Der Kaiser, der die alte Historien- und Schlachtenmalerei protegiert, empfindet es als skandalös, dass „dieser Cassirer“ die „französische Dreckskunst zu uns bringen möchte“. Doch solche Bemerkungen stärken Cassirers Motivation nur noch mehr. 1917 zeigt er Edgar Degas, Max Slevogt, Constantin Meunier und als Hauptattraktion siebzehn Gemälde von Edouard Manet, darunter „Frühstück im Grünen“. Er ist Förderer vor allem Max Slevogts und Max Beckmanns, stellt Oskar Kokoschka aus und druckt in seinem Verlag auch dessen Dramen. Er sponsert und verlegt unter anderem auch Heinrich Mann und Else Lasker-Schüler.

Tilla ist vom ersten Augenblick an von dem charismatischen und geistreichen Visionär bezaubert und fasziniert. Paul Cassirer wiederum ist von ihrer Bewunderung angetan und geschmeichelt. Es ist der Beginn einer filmreifen Liebesgeschichte, einer Amour fou, die in einer Katastrophe enden wird. Als Tilla Eugen Spiro gesteht, dass sie einen anderen liebt, bricht dieser fassungslos zusammen. Er kann sich dieses Geständnis nur mit einer psychischen Erkrankung seiner Frau erklären. Er kann nicht akzeptieren, dass sie ihn in einem unkontrollierten Affekt verlassen will. Bevor sie einen so weitreichenden Entschluss fasse, solle sie erst in einem Sanatorium zur Ruhe kommen und wieder sie selbst werden, verlangt er. Tilla willigt ein, weiß aber nicht, dass das Sanatorium eine Heilanstalt für Nervenleidende ist. Als sie als Insassin ihre Lage erkennt und man sie offiziell nicht entlassen will, stiehlt sie sich davon, setzt sich in einen Zug und fährt nach Berlin. In der Viktoriastraße 35 fällt sie Paul Cassirer in die Arme. Eugen Spiro erkennt, dass er sie verloren hat, und willigt in die Scheidung ein. Später wird Tilla sagen, dass sie und Eugen zu jung gewesen wären, um erkennen zu können, dass sie nicht zueinander passten.

Cassirer bewundert die schauspielerische Leistung der Durieux und spürt gleichzeitig, dass in ihr noch mehr steckt, als sie bis jetzt gezeigt hat, und das will er, ähnlich wie Professor Higgins in George Bernard Shaws „Pygmalion“, in ihr wecken. Er wird ihr Mentor, fördert ihr Interesse für die Literatur, nicht nur für die Stücke, in denen sie spielt, und macht sie mit Künstlern aus seinem Freundeskreis bekannt, damit sie mit den Strömungen moderner Kunst vertraut wird. Er bringt ihr die Schönheit der Sprache nahe, indem er ihr Gedichte vorliest. Als er behauptet, sie hätte den Dialekt ihrer Heimat noch nicht ganz abgelegt und habe von Atmung und Stimme keine Ahnung, nimmt sie bei Francisco d’Andrade, dem berühmtesten Tenor der Zeit, Gesangsunterricht. Sätze aus ihren Rollen muss sie ihm immer wieder und so lange vorsagen, bis sie in seinen Ohren tadellos klingen. Sie beschreibt eine solche Übung vor der Aufführung von Wilhelm Schmidtbonns Stück „Der Graf von Gleichen“, in dem sie die Rolle der Gräfin spielen soll, folgendermaßen:

„Paul studierte mit mir und sprach mir mit seiner Stimme, die so seltsam klang, derart eindrucksvoll die schwierigsten Stellen vor, dass ich sie endlich bezwang. Nur an einem Satz scheiterte ich immer wieder, das war der Schlusssatz des Stückes: ,Sollt es noch einmal geschehen, ich tät es noch einmal.‘ Nach meiner Abendvorstellung quälte mich Paul bis vier Uhr morgens mit diesem einzigen Satz. Ich weinte, wollte die Rolle abgeben, schrie, aber alles half nicht. Bis ich endlich gegen Morgen den richtigen Ton gefunden hatte und bei der Erstaufführung auch mit diesem Satz den Erfolg des Stückes befestigte.“28

In den ersten Jahren ihrer Beziehung mit Paul lernt Tilla den Pianisten und Pädagogen Leo Kestenberg kennen. Eine Konzertlaufbahn hatte er zugunsten seiner sozialdemokratischen Bildungsarbeit und seiner literarischen Aktivitäten aufgegeben. Bei ihm nimmt Tilla Klavierstunden, nicht mehr unter Zwang, wie in der Kindheit, sondern jetzt mit Begeisterung. Als er sie einmal fragt, ob sie ihn vielleicht bei seinen Vorträgen für Arbeiter unterstützen wolle, sagt sie sofort zu. An Sonntagvormittagen fährt sie nun mit ihm hinaus in die Hasenheide und in andere Arbeiterviertel Berlins und rezitiert Lyrik von Johann Wolfgang Goethe, Friedrich Schiller, Richard Dehmel und Georg Herwegh. Dazwischen spielt Kestenberg am Klavier klassische Musik. Bei einem dieser Vorträge lernt sie Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg kennen, die später von ihr finanziell unterstützt wird. Der gewaltsame Tod der beiden in den Wirren nach dem Ersten Weltkrieg wird sie tief erschüttern.

Dass die mondäne Schauspielerin, die in den exzentrischen Kreisen der Kunstwelt verkehrt, gleichzeitig eine engagierte Sozialdemokratin ist, findet Paul Cassirers Anerkennung, aber nicht die seiner Familie. Besonders die Frauen seiner erfolgreichen und in der Berliner Gesellschaft angesehenen Brüder finden seine Verbindung mit einer mittellosen Schauspielerin unpassend und behandeln sie daher mit herablassender Nonchalance.

Nach sechs Jahren des Zusammenlebens heiraten Tilla Durieux und Paul Cassirer am 24. Juni 1910. Die gefeierte Diva der Berliner Bühnen und der reichste Kunsthändler Deutschlands sind eines der Traumpaare der Weimarer Republik. Ihre Wohnung in der Margarethenstraße mit Bibliothek, Steinway-Flügel und Gemälden von Manet, Renoir, Cézanne und van Gogh wird zum Treffpunkt der künstlerischen Avantgarde. Sie ist glücklich, Pauls Frau zu sein, genießt die Kontakte mit Künstlern und linken Intellektuellen, verspürt aber bald auch die Schattenseiten dieser Ehe. Paul Cassirer, narzisstisch und jähzornig, ist patriarchalisch anspruchsvoll, verlangt von Tilla, dass der Haushalt problemlos funktioniert und er seinen Aktivitäten ungehindert nachgehen kann. Dass auch sie einen Beruf hat und dafür hart arbeitet, interessiert ihn nicht. Ebenso wenig interessiert es ihn, dass sie oft stundenlang auf ihn wartet und dann weinend zu Bett geht, wenn er mit seinen Künstlerfreunden nächtelang debattiert und dabei vergisst, dass er mit ihr verabredet war. Auch wenn er sie immer wieder melodramatisch seiner Liebe versichert, gibt er seine zahlreichen Affären nicht auf, verfolgt Tilla aber mit quälender Eifersucht. Dennoch sagt sie, dass sie nie einen Menschen so geliebt habe wie ihn.

„Ich verdanke Paul Cassirer die schönsten und die bittersten Stunden, meine geistige Entwicklung, meine wachsenden Erfolge an der Bühne, eine unendliche innere Bereicherung, aber auch den tiefsten Kummer. Meine Augen hatten durch ihn die Herrlichkeit der Welt gesehen, aber auch die verzweifeltsten Tränen geweint.“29

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23 aralık 2023
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