Kitabı oku: «Tante Lisbeth», sayfa 6

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Eines Tages war Lisbeth außer sich darüber, daß Stanislaus statt zu arbeiten bummeln gegangen war, und machte ihm eine Szene.

»Du gehörst mir«, sagte sie zu ihm, »und wenn du ein anständiger Mensch bist, solltest du versuchen, das, was du mir schuldest, so bald als möglich abzuzahlen.«

Der Edelmann wurde bleich.

»Bei Gott«, fuhr sie fort, »bald bleiben uns zum Leben nur noch die fünfzehn Groschen, die ich armes Mädchen täglich verdiene.«

Die beiden armen Menschen erhitzten sich im Wortgefecht und standen einander feindselig gegenüber. Zum erstenmal machte der arme Künstler seiner Wohltäterin Vorwürfe, daß sie ihn vom Tode errettet habe, um ihm ein Sträflingsleben zu bereiten, das schlimmer sei als das ewige Nichts, in dem man wenigstens seinen Frieden habe. Das Wort »Flucht« entschlüpfte ihm.

»Fliehen!« schrie die alte Jungfer. »So hat Rivet also doch recht gehabt!«

Und kategorisch erklärte sie dem Polen, wie man ihn binnen vierundzwanzig Stunden für den Rest seiner Tage ins Gefängnis sperren könne. Das war ein Faustschlag. Steinbock verfiel in den düstersten Trübsinn und in vollkommene Schweigsamkeit.

In der nächsten Nacht hörte Lisbeth abermals Selbstmordvorbereitungen. Schnell stieg sie die Treppe zu ihres Schützlings Wohnung hinauf und lieferte ihm den Haftbefehl und eine rechtsgültige Quittung aus.

»Ach, mein Sohn, verzeihe mir!« bat sie mit feuchten Augen. »Werde glücklich! Verlasse mich! Ich quäle dich zu sehr. Aber versprich mir wenigstens, daß du manchmal an das arme Ding zurückdenken wirst, das dich dem Leben wiedergewonnen hat! Ach, du bist ja selber die Ursache all meiner Abscheulichkeit. Ich könnte sterben: was würde dann aus dir ohne mich? Das ist es ja, warum ich es nicht erwarten kann, dich in der Lage zu sehen, leicht verkäufliche Gegenstände herzustellen. Für mich will ich mein Geld doch nicht zurückhaben. Ich habe nur Angst vor deiner Trägheit, die du Träumerei nennst, und vor deinen Plänen, denen du in den Himmel starrend stundenlang nachhängst. Ich will doch nur, daß du dich an eine regelmäßige Tätigkeit gewöhnst.«

Sie sagte das in einem Tone und mit einem Blicke, die im ! Verein mit ihrer Haltung einer Flut von Tränen den hochgesinnten Künstler aufs tiefste rührten. Er drückte seine Wohltäterin ans Herz und küßte sie auf die Stirn.

»Behalte deine Schriftstücke nur!« meinte er beinahe heiter. »Warum willst du mich erst nach Clichy bringen? Bin ich hier nicht ebenso gefangen durch die Dankbarkeit?«

Dieser Zwischenfall in ihrem gemeinsamen Leben hatte im Laufe eines halben Jahres in dreifacher Weise auf Steinbocks Schaffen gewirkt. Er hatte das Petschaft gemacht, das sich in Hortenses Händen befand, dann die Gruppe, die der Antiquitätenhändler ausstellte, und endlich eine wundervolle Standuhr, die bis auf die äußere Herrichtung vollendet war. Diese Uhr verkörperte die zwölf Stunden wundervoll durch zwölf Frauengestalten, die in einem so rasend tollen Kreistanz dahinwirbelten, daß drei kleine Amoretten, über Blumen und Früchte nachstürmend, gerade nur noch die letzte, die Mitternachtsstunde, erhaschten. Ihr Gewand zerriß in den Händen des kecksten der kleinen Wichte. Die Uhr ruhte auf einem runden Postament mit feiner Ornamentik, die allerhand phantastische Tiere zeigte. Das Zifferblatt lag in dem gähnenden Rachen eines Ungeheuers. Jede Frauengestalt trug ein Sinnbild, das sehr glücklich auf die Beschäftigung der einzelnen Stunde hindeutete.

Die seltsame Zuneigung Lisbeths zu ihrem Livländer war leicht begreiflich; sie wollte ihn wirklich glücklich machen. Aber er welkte und siechte in seiner Dachkammer dahin. Die Lothringerin bewachte ihren Schützling mit der Zärtlichkeit einer Mutter, der Eifersucht einer Gattin und der Schlauheit eines Drachen. Es gelang ihr, ihm jegliche Torheit, jegliche Zerstreuung unmöglich zu machen, indem sie ihn stets ohne Geldmittel ließ. Sie wollte ihr Opfer, ihren Gefährten ganz für sich allein und erzwungen treu haben. Sie sah nicht ein, wie grausam und unvernünftig das war, denn sie selber war an das Ertragen jedweder Art ven Enthaltsamkeit gewöhnt. Sie liebte ihn so ideal, daß sie auf seine leibliche Liebe verzichtete, und doch dabei so egoistisch, daß sie ihn keiner andern Frau gönnte. Sie vermochte sich nicht damit zu begnügen, ihm nur die Mutter zu sein, und doch hielt sie sich selber für verrückt, wenn sie mitunter an eine andere Möglichkeit dachte.

Dieser Zwiespalt, die wilde Eifersucht und das Glück, einen Menschen ihr eigen zu nennen, dies alles erschütterte ihr ganzes Wesen bis in die Tiefen. Seit vier Jahren wirklich verliebt, nährte sie die törichte Hoffnung, der widerspruchsvolle und aussichtslose Zustand könne von Dauer sein. Ihr Starrsinn mußte den Untergang dessen herbeiführen, den sie ihren Sohn nannte. Der Kampf in ihr zwischen Gefühl und Verstand machte sie ungerecht und herrisch. Sie rächte sich an dem jungen Manne dafür, daß sie weder jung, schön noch reich war. Jedesmal freilich, wenn sie sich so gerächt hatte, sah sie ihr Unrecht ein und war dann von unendlicher Demut und Zärtlichkeit. Sie erkannte immer erst dann, daß es ihre Pflicht war, ihrem Idol ein Opfer zu bringen, wenn sie ihm ihre Macht durch Folterungen hatte fühlen lassen. In den Augen dieses unglücklichen jungen Träumers, der so hochfliegende Pläne hegte und so sehr zum Müßiggange neigte, konnte man lesen, wie öde und leer ihm sein Leben durch die Schuld seiner Beschützerin geworden war. Wähnt man nicht auch in den Augen der Löwen hinter den Gittern im Zoologischen Garten eine Wüstenlandschaft zu sehen? Die Zwangsarbeit, die Lisbeth von ihm verlangte, befriedigte seine Künstlersehnsucht nicht. Seine Mißstimmung wandelte sich in körperliche Krankheit, und er siechte dahin. Er wußte nicht, wie er sich das Geld zu den ihm notwendigen Dummheiten verschaffen könne. Manchmal, wenn die Energie in ihm wach wurde und das Bewußtsein seines Elends seine Verzweiflung noch erhöhte, stand er Lisbeth gegenüber wie etwa der verschmachtende Wanderer in wasserarmer Gegend vor einem Salzwasserquell. Sie aber genoß die bitteren Früchte der Armut und Zurückgezogenheit wie Freuden. Mit Angst dachte sie daran, daß ihr die erste beste Leidenschaft ihren Sklaven entführen könne. Manchmal bereute sie sogar, diesen Träumer durch Tyrannei und Vorwürfe gezwungen zu haben, ein großer Meister der Kleinkunst zu werden, und ihm damit den Weg gezeigt zu haben, wie er einmal ohne sie weiterkommen könne.

Als der Staatsrat das Opernhaus betreten wollte, fand er zu seinem Erstaunen den Musentempel in der Rue le Peletier unerleuchtet. Nirgends waren Schutzleute, Bediente usw. zu erblicken; nirgends das sonst andrängende Publikum. Er sah sich nach einem Anschlag um und las auf dem weißen Zettel:

»Wegen Unpäßlichkeit von Mademoiselle Josepha Mira fällt die heutige Vorstellung aus.«

Sofort stürzte er zu Josepha, die wie alle Mitglieder der Oper in der Nähe, in der Rue Chauchat, wohnte.

»Zu wem wollen Sie, mein Herr?« fragte der Pförtner zu Hulots großem Erstaunen.

»Kennen Sie mich denn nicht mehr?« fragte der Baron. Er fing an, unruhig zu werden.

»Im Gegenteil, gerade weil ich die Ehre habe, den Herrn Baron zu kennen, erlaube ich mir die Frage.«

Den Baron durchzuckte es eiskalt.

»Was ist geschehen?« fragte er.

»Wenn der Herr Baron in Fräulein Miras Wohnung hinaufginge, so würde er daselbst Fräulein Heloise Brisetout antreffen, Herrn Bixiou, Herrn Leon von Lora, Herrn Lousteau, Herrn von Vernisset, Herrn Stidmann und mehrere nach Patschuli duf- tende Damen. Man hält Einzugsschmaus ...«

»So? Aber wo ist denn ...?«

»Fräulein Mira, Herr Baron? Ich weiß nicht, ob ich es Ihnen sagen darf.«

Der Baron drückte dem Manne einen Taler in die Hand.

»Hm! Sie wohnt jetzt in der Rue de la Ville-l'Evêque, in einem Haus, das ihr der Herzog von Hérouville eingerichtet hat«, berichtete der Portier im Flüstertone.

Nachdem er sich noch nach der Nummer dieses Hauses erkundigt hatte, nahm der Baron eine Droschke und war alsbald vor einem jener hübschen neumodischen Häuser angelangt, die bis in die Einzelheiten den höchsten Luxus offenbaren.

Der Baron wurde in seinem blauen Rocke, der weißen Krawatte, der weißen Weste, seinem Nanking-Beinkleid, den Lackstiefeln und dem steif gestärkten Hemd von dem Hüter dieses neu geschaffenen Paradieses für einen verspäteten Gast gehalten. Sein vornehmes Äußere, sein Gang, alles rechtfertigte diese Annahme. Auf das Läuten des Pförtners erschien ein Diener im Treppenhaus. Selbiger, ebenso neu wie das Haus, ließ den Baron eintreten, da dieser ihm im Befehlstone und mit einer Imperatorengeste auftrug: »Diese Karte Fräulein Josepha!«

Unwillkürlich, in Armesünderstimmung, blickte sich Hulot um und stellte fest, daß die Ausstattung dieses über und über mit teuren Blumen geschmückten Empfangszimmers gut viertausend Taler gekostet haben mochte. Der Diener kam zurück und bat ihn, einstweilen Platz zu nehmen; die Herrschaften würden sogleich vom Tische aufstehen und den Kaffee hier einnehmen.

Der Baron hatte den Luxus des Empire miterlebt, der gewiß verschwenderisch war und dessen Schöpfungen, so kurz ihre Zeit auch bemessen war, doch fabelhafte Summen gekostet hatten. Trotzdem stand er wie geblendet vor diesem Salon, dessen drei Fenster nach einem wahren Feengarten zu lagen. Dabei bewunderte er nicht nur das Seltene, die Goldpracht, die kostbaren Skulpturen im Stile der Pompadour und die wundervollen Stoffe – das alles konnte ja schließlich auch der erste beste Kommerzienrat für Berge von Gold bestellen und besitzen –, sondern noch etwas anderes, etwas, was nur Fürsten finden, aussuchen, bezahlen und schenken können: zwei Gemälde von Greuze, zwei von Watteau, zwei Porträts von van Dyck, zwei Landschaften von Ruisdael, zwei von Guaspre, einen Rembrandt und einen Holbein, einen Murillo und einen Tizian, zwei Teniers und zwei Metsu, einen van Huysum und einen Abraham-Mignon, zusammen also eine Galerie im Werte von vielleicht zweihunderttausend Francs. Die Rahmen standen den Bildern nicht nach.

»Schau, schau! Du kapierst also, Kerlchen!« hörte er plötzlich Josepha hinter sich sagen.

Sie war auf den Fußspitzen durch eine Tapetentür auf den dicken Persern herangekommen und ertappte nun ihren Verehrer in der höchsten Verwirrung. Ihm rauschte es in den Ohren. Er hörte die Totenglocke des Unglücks.

Josepha, in Weiß und Gelb gekleidet, hatte sich für dieses Fest so geschmückt, daß sie selbst inmitten dieses unsinnigen Luxus wie die Perle im Golde glänzte.

»Famose Bilder, nicht?« lachte sie. »Ja, darin steckt des Herzogs ganzer Gewinn aus Aktien, die er in einem günstigen Moment verkauft hat. Er ist nicht dumm, mein kleiner Herzog! Siehst du, die großen Herren aus der guten alten Zeit machen jetzt aus Kohle Gold. Vor Tische brachte mir der Notar den Kaufvertrag von all dem Klimbim zum Unterschreiben; die Quittung lag gleich dabei. Es gibt noch Gentlemen! Das ist dein Pech! Na, Alterchen, du bist hiermit eingeladen, aber nur unter der Bedingung, daß du auf der Stelle zwei Flaschen Schampus trinkst. Damit kommst du so ungefähr auf das augenblickliche Niveau der andern da drüben. Siehst du, Freundchen, wir sind hier alle sehr in Anspruch genommen. Darum mußte es in der Oper schon ein ›Wegen Unpäßlichkeit fällt die heutige Vorstellung aus‹ geben. Der Direktor ist total beschwipst. Er quakt bereits ...«

»Josepha!« stöhnte der Baron.

»Eine Auseinandersetzung? Ach, das ist fad!« unterbrach sie ihn übermütig. »Siehst du, die sechshunderttausend Francs, die dieses Haus mit der Einrichtung gekostet hat, die besitzt du nun einmal nicht. Und eine Verschreibung auf dreißigtausend Francs pro Jahr, wie sie mir neulich der Herzog in einer Bonbonniere mitgebracht hat, die kannst du mir auch nicht stiften! Übrigens war das eine sehr nette Idee!«

»Du bist in den Grund und Boden verdorben!« knirschte der Staatsrat, der in diesem Augenblicke seiner Wut die Brillanten seiner Frau durch Simili ersetzt hätte, nur um noch vierundzwanzig Stunden an der Stelle des Herzogs von Hérouville sein zu dürfen.

»Das Verdorbensein, das ist doch mein Metier!« spottete sie. »Mensch, nimm die Sache nur nicht tragisch! Warum hast du die Aktien nicht gehabt? Armer lieber angestrichener Kater! Du solltest mir dankbar sein, daß ich dich aus dem Garne lasse, ehe du die Zukunft deiner Frau und die Mitgift deiner Tochter mit mir verschwendest! Großer Gott, du weinst! Der König stirbt! Es lebe der König!«

Indem sie mit einer theatralischen Gebärde deklamierte: »Meine Laura geht vorüber, meine Laura kennt mich nicht!« wandte sie sich weg.

Durch die halboffene Tür drang in diesem Augenblicke die strahlende Lichtflut, das Crescendo des Lärms und die Stimmung eines raffinierten Bacchanals.

Die Sängerin blickte sich in der Tür noch einmal nach Hulot um, und als sie ihn wie angewurzelt stehen sah, trat sie nochmals zu ihm und sagte:

»Baron, den Plunder in der Rue Chauchat habe ich der kleinen Brisetout vermacht. Falls Sie Ihre Hausmütze, Ihren Stiefelknecht, Ihre Leibbinde und ihre Bartwichse dort abholen wollen – ich habe den Befehl gegeben, sie Ihnen auszuhändigen.«

Dieser abscheuliche Hohn hatte die Wirkung, daß der Baron aus dem Salon stürzte, wie es Lot aus Gomorra getan haben mag, aber ohne sich – wie Lots Weib es tat – noch einmal umzusehen. Auf dem Heimwege rannte er wie ein Besessener und redete vor sich hin. Zu Hause traf er seine Familie noch genauso friedlich beim Whist um die Groschen wie vor seinem Weggange.

Als Adeline ihren Mann erblickte, ahnte sie sofort ein schreckliches Unglück, irgend etwas Unehrenhaftes. Sie reichte Hortense ihre Karten hin und zog Hektor in den kleinen Salon, in dem ihr Crevel vor kurzem Schmach und Unglück vorhergesagt hatte.

»Was hast du?« fragte sie erschreckt.

»Verzeih mir; ich muß dir diese Gemeinheit erzählen.«

Zehn Minuten lang ließ er seinem Zorn freien Lauf.

»Ja, mein Freund«, sagte die arme Frau heldenmütig, »solche Geschöpfe kennen die Liebe nicht, die reine und hingebende Liebe, wie du sie verdienst. Wie konntest du nur hoffen, wo du doch sonst so scharfsinnig bist, gegen Millionen anzukämpfen?«

»Geliebte Adeline!« rief der Baron aus, indem er seine Frau umarmte und ans Herz drückte. Sie träufelte ihm Balsam in die offene Wunde seiner Eitelkeit. »Wenn der Herzog von Hérouville sein Vermögen verlöre, würde sich Josephas Wahl zwischen ihm und mir ganz gewiß nicht für ihn entscheiden«, sagte der Baron.

»Lieber Freund«, begann Adeline, indem sie nochmals ihre letzte Kraft zusammennahm, »wenn du unbedingt eine Geliebte haben mußt, warum hältst du dir dann nicht wie Crevel solche, die nicht teuer sind, aus einem Stande, wo sie mit wenigem zufrieden sind? Das wäre nur unser aller Vorteil. Ich verstehe dein Bedürfnis, nur deine Eitelkeit begreife ich nicht!«

»Was bist du für eine vortreffliche Frau!« rief er aus. »Ich bin ein alter Narr und verdiene nicht, einen Engel wie dich zur Gefährtin zu haben.«

»Ich bin einfach die Josephine meines Napoleons«, erwiderte sie in leiser Melancholie.

»Josephine reichte nicht an dich heran!« erklärte er. »Komm, ich will mit meinem Bruder und meinen Kindern Whist spielen. Ich werde mich meiner Vaterpflichten erinnern und meine Hortense verheiraten. Ich will brav werden!«

Die arme Adeline war so gerührt von dieser Güte, daß sie sagte: »Dies Geschöpf muß einen recht schlechten Geschmack haben, wenn sie einen anderen, wer es auch sei, meinem Hektor vorzieht. Ich würde nicht für alles Gold der Erde auf dich verzichten! Wie kann man dich lassen, wenn man das Glück hat, von dir geliebt zu werden!«

Der Blick, mit dem der Baron für die Schwärmerei seiner Frau dankte, bestärkte sie in ihrem Glauben, daß Sanftmut und Ergebenheit die mächtigsten Waffen der Frau seien. Hierin täuschte sie sich. Wenn edle Gefühle übertrieben werden, können sie die gleiche Wirkung wie die größten Laster haben. Bonaparte ist Kaiser geworden, weil er auf das Volk schießen ließ, zwei Schritt von dem Platze entfernt, wo Ludwig der Sechzehnte Thron und Kopf verlor, weil er das Blut eines Herrn Sauce nicht vergießen wollte.

Nachdem Hortense mit Steinbocks Petschaft unter ihrem Kopfkissen geschlafen hatte, um sich auch nachts nicht davon zu trennen, stand sie am folgenden Tage frühzeitig zum Ausgehen angekleidet da und ließ ihren Vater bitten, zu ihr in den Garten zu kommen, sobald er seine Toilette beendet habe. Es war gegen halb zehn Uhr, als Vater und Tochter Arm in Arm das Seineufer entlang über den Pont-Royal nach der Place du Carrousel gingen.

»Wir wollen so tun, als gingen wir spazieren, Vater!« schlug Hortense vor, als sie durch das Tor auf den Riesenplatz kamen.

»Spazierengehen? Hier?« fragte der Vater spöttisch.

»Man kann ja glauben, wir gingen ins Museum. Siehst du dort hinten ...«, dabei zeigte sie auf die Holzbuden, die sich an den Häusern hinzogen, die rechtwinklig zur Rue du Doyenné lagen, »dort hinten sind Raritäten- und Bilderläden!«

»Deine Tante Lisbeth wohnt dort.«

»Ich weiß wohl; aber sie darf uns nicht sehen.«

»Was hast du eigentlich vor?« fragte der Baron, als sie noch ungefähr dreißig Schritte von den Fenstern der Frau Marneffe entfernt waren, an die er sich plötzlich erinnerte.

Hortense hatte ihren Vater vor die Auslage eines der Läden an der Ecke des Häuservierecks geführt, das sich längs der Galerien des alten Louvre ausbreitet und dem Hotel de Nantes gegenüberliegt. Der Baron blieb draußen und vertrieb sich die Zeit damit, nach den Fenstern der hübschen kleinen Frau hinüberzuschauen, die tags zuvor ihr Bild in das Herz des alten Lebemannes eingeschmuggelt hatte, just um die Wunde zu heilen, die er so bald darauf empfangen sollte. Er war somit auf dem besten Wege, den Rat seiner Frau zu befolgen.

Halten wir es fortan mit den kleinen Bürgerfrauen! sagte er zu sich selbst, indem er Frau Marneffes Reize vor seiner erregten Phantasie erstehen ließ. Diese Frau wird mich die habgierige Josepha schnell vergessen lassen.

Während er nach den Fenstern seines neuen Liebchens spähte, erkannte er auf einmal Herrn Marneffe, der seinen Überzieher selbst abbürstete und augenscheinlich Ausschau hielt und jemanden vom Platze her zu erwarten schien. Der verliebte Baron fürchtete bemerkt zu werden (was später auch geschehen sollte) und drehte der Rue du Doyenné den Rücken zu, aber nur so weit, daß er von Zeit zu Zeit noch einen Blick nach den Fenstern werfen konnte. Durch diese Wendung sah er sich aber plötzlich Auge in Auge mit Frau Marneffe, die, von den Kais herkommend, um die vorgelagerten Häuser herum zu ihrem Hause ging. Valerie zuckte zusammen, als sie den erstaunten Blick des Barons auffing. Ihre Augen antworteten verschämt-kokett.

»Welch hübsche Frau«, sprach der Baron wie vor sich hin, »wie geschaffen, um Torheiten zu begehen!«

»Ach, mein Herr«, antwortete sie, indem sie sich mit einer Bewegung, als fasse sie einen plötzlichen Entschluß, ihm zuwandte, »Sie sind der Herr Baron Hulot, nicht wahr?«

Erstaunt bejahte er es.

»Da der Zufall unsere Blicke einander zum zweiten Male begegnen läßt und da es scheint, daß ich das Glück habe, Sie zu interessieren oder neugierig gemacht zu haben, so will ich Ihnen sagen: machen Sie keine Torheiten, sondern üben Sie lieber Gerechtigkeit! Meines Mannes Geschick liegt in Ihrer Hand.«

»Wie meinen Sie das, Gnädigste?« fragte der Baron galant.

»Mein Mann arbeitet unter Ihrer Oberleitung im Kriegsministerium in der Abteilung des Herrn Lebrun, unter Herrn Coquet«, erwiderte sie, ihn anlächelnd.

»Ich wäre wohl geneigt, Frau ... Frau ...?«

»Frau Marneffe!«

»Meine liebe Frau Marneffe – geneigt, wollte ich sagen, eine Ungerechtigkeit um Ihrer schönen Augen willen zu begehen. Eine Kusine von mir wohnt in Ihrem Hause; ich werde sie dieser Tage, so bald wie möglich, besuchen. Legen Sie mir Ihr Gesuch dort vor!«

»Verzeihen Sie meine Kühnheit, Herr Baron! Aber Sie werden verstehen, warum ich es wagte, so zu reden. Wir haben nämlich gar keine Protektion.«

»Soso!«

»Herr Baron, Sie mißverstehen mich!« sagte sie und schlug die Augen nieder.

Dem Baron kam es vor, als ginge damit die Sonne unter.

»Ich bin in Verzweiflung, aber ich bin eine anständige Frau«, fuhr sie fort. »Vor einem halben Jahre habe ich meinen einzigen Beschützer verloren, den Marschall Montcornet.«

»Sind Sie nicht seine Tochter?«

»Jawohl, Herr Baron, aber er hat mich nie als solche anerkannt.«

»Aber er hat Ihnen doch einen Teil seines Vermögens hinterlassen?«

»Er hat mir nichts hinterlassen, Herr Baron, weil sich kein Testament vorgefunden hat.«

»Armes Kind! Ja, ja, der Marschall ist an einem Schlaganfall gestorben. Verzagen Sie nur nicht! Mut! Man wird nicht vergessen, was man der Tochter eines Bayard des Kaiserreichs schuldet!«

Frau Marneffe grüßte graziös. Sie war ebenso stolz auf ihren Erfolg wie der Baron auf den seinen.

Zum Teufel, wo mag sie zu so früher Stunde herkommen? fragte er sich, indem er den Wellenbewegungen ihres Kleides nachblickte, das sie mit einer etwas übertriebenen Koketterie trug. Um vom Baden zu kommen, sieht sie zu ermüdet aus. Ihr Mann erwartet sie. Das ist rätselhaft und gibt zu denken.

Nachdem Frau Marneffe in ihrem Hause verschwunden war, entschloß sich der Baron, nachzusehen, was seine Tochter drinnen im Laden mache. Er trat ein, und da er noch immer nach Frau Marneffes Fenster hinblickte, hätte er beinahe einen jungen Menschen mit blassem Gesicht und leuchtenden grauen Augen umgerannt, der einen schwarzwollenen Sommerüberzieher, ein grobes Leinwandbeinkleid und gelblederne Halbschuhe trug. Er stürzte wie ein Hühnerhund aus der Tür und lief auf Frau Marneffes Haus zu, in dem er auch verschwand.

Als Hortense den Laden betrat, hatte sie sofort die bewußte Gruppe erkannt, die in der Nähe der Tür auf einem Tische zur Schau gestellt wurde. Selbst ohne Kenntnis ihrer Entstehungsgeschichte hätte die Gruppe wahrscheinlich das junge Mädchen durch das ergriffen, was man das Brio, das heilige Feuer des Meisterwerks, nennt. Nicht alle Werke selbst genialer Künstler haben in gleichem Maße jenen gewissen Glanz, das Weithinstrahlende, das selbst dem ungeübten Auge auffällt. So erregen einige Bilder Raffaels, zum Beispiel die berühmte Verklärung Christi in der Vatikanischen Galerie, die Madonna di Foligno ebenda oder die Fresken in den Stanzen nicht die augenblickliche Bewunderung wie der Violinspieler aus der Galerie Sciarra, die Porträts des Angelo und der Maddalena Doni in Florenz, die Vision Ezechiels im Palazzo Pitti, die Grablegung Christi der Galerie Borghese und die Vermählung Mariä in der Brera. Der Johannes der Täufer in der Tribuna und der heilige Lukas, die Madonna malend, in der Accademia di San Luca zu Rom üben nicht denselben Zauber aus wie das Porträt Leos des Zehnten und die Sixtinische Madonna. Trotzdem sind das alles gleich hohe Werke. Ja, mehr noch: die Stanzen, die Verklärung Christi, die Loggien und die Tafelbilder des Vatikans stellen das Höchste dar in Erhabenheit und Vollendung. Aber diese Meisterwerke verlangen selbst von geschulten Bewunderern eine Art Anspannung, ein Studium, um in allen Teilen erfaßt zu werden, während der Violinspieler, die Vermählung der Jungfrau, die Vision Ezechiels von selber durch die Doppeltür der Augen ins Herz dringen und sich darin einen Platz erobern. Welche Freude, das Schöne so mühelos zu empfangen! Vielleicht ist das nicht der Gipfel der Kunst, sicherlich aber ihre höchste Wonne. Diese Tatsache beweist, daß in den Familien der Kunstwerke derselbe Zufall eine Rolle spielt wie in den Familien der Menschen, wo es auch Sonntagskinder gibt, die umsonst zur Welt kommen und ohne ihren Müttern wehe zu tun, denen alles zulächelt und alles gelingt. So treibt das Genie des Künstlers gerade wie die Liebe der Menschen verschiedenartige Blüten.

Das Brio (ein italienisches Wort, das sich nicht gut übersetzen läßt, das Stendhal bei uns eingebürgert hat) zeichnet besonders Frühwerke aus. Es ist die Frucht des Ungetüms und des kühnen Schwunges des jugendlichen Genies, einer Begeisterung, die sich bei späteren Werken nur noch zu besonders glücklicher Stunde äußern kann. Aber dann kommt das Brio nicht mehr aus dem vollen Herzen des Künstlers, und anstatt seine Werke vulkanartig zu überfluten, quillt es nur spärlich und aus von außen erregten Quellen: der Liebe, der Eifersucht, oft auch dem Hasse und noch öfter der Sehnsucht nach dem alten Feuer, dem der Künstler seinen Ruhm verdankt.

Steinbocks Gruppe verhielt sich zu seinen übrigen späteren Werken wie die Vermählung Mariä zu dem Gesamtwerke Raffaels. Es war seine erste Tat, geschaffen in der vollen unnachahmlichen Grazie, im Sturm und Drang und im wundervollsten Reichtum der Jugend.

Hortense unterdrückte ihre Bewunderung, indem sie die Ersparnisse ihrer Kinderjahre im Geiste überschlug. Mit gleichgültiger Miene fragte sie den Händler: »Wie teuer ist dies da?«

»Eintausendfünfhundert Francs«, erwiderte er ihr und blickte rasch nach dem jungen Manne hin, der auf einem Schemel in einer Ecke saß.

Dieser junge Mann war hingerissen von dem lebendigen Meisterwerke, das er in dem jungen Mädchen erschaute. Durch des Händlers Blick aufmerksam geworden, erkannte Hortense sofort in ihm den Künstler. Die Röte, die sein bleiches leidendes Gesicht plötzlich färbte, und das Feuer, das ihre Frage in seinen grauen Augen entzündet hatte, verrieten ihn ihr. Sie betrachtete dieses hagere längliche Gesicht, das ihr wie das eines Asketen erschien. Sie bewunderte diese festgeformten roten Lippen, das feinlinige Kinn und das kastanienbraune Haar mit dem slawischen Seidenglanzschimmer.

»Bei einem Preise von zwölfhundert Francs bitte ich um die Zusendung«, erklärte sie.

»Eine echte Antike, gnädiges Fräulein«, wandte der Händler ein, der sich wie alle Leute seines Gewerbes einbildete, mit Reden wunder was zu sagen.

»Verzeihen Sie, bester Herr, das ist in diesem Jahre entstanden«, entgegnete sie ganz bescheiden, »und ich möchte sie insbesondere bitten, falls es bei der gebotenen Summe bleibt, uns den Künstler persönlich zuzuschicken. Wir könnten ihm vielleicht immerhin ansehnliche Aufträge verschaffen.«

»Wenn er zwölfhundert Francs bekommen soll, was bliebe dann für mich? Ich will verdienen«, meinte der Händler.

»Natürlich!« erwiderte das junge Mädchen nicht ohne einen Anflug von Geringschätzung.

»Ach, gnädiges Fräulein, nehmen Sie das Werk!« rief der Pole aufgeregt dazwischen. »Mit dem Händler werde ich mich schon einigen.« Bezaubert von der hohen Schönheit Hortenses und der in ihren Augen widergespiegelten Liebe zur Kunst, fügte er hinzu: »Ich bin der Schöpfer dieser Gruppe. Seit vierzehn Tagen komme ich dreimal den Tag her, um nachzusehen, ob jemand ihren Wert erkennt und sie kaufen will. Sie sind meine erste Bewunderin. Nehmen Sie sie!«

»Wollen Sie uns in einer Stunde zusammen mit dem Händler besuchen? Hier ist die Karte meines Vaters!« sagte Hortense.

Während der Händler in den Nebenraum ging, um die Gruppe zu verpacken, setzte sie ganz leise hinzu, zum größten Erstaunen des Künstlers, der zu träumen glaubte:

»Zum Vorteile Ihrer Zukunft, Herr Steinbock, zeigen Sie Fräulein Fischer diese Karte nicht, noch sagen Sie ihr den Namen des Käufers. Sie ist unsere Tante.«

Die Worte »unsere Tante« versetzten den Künstler in einen Rausch. Es war ihm, als gehe er in das Paradies ein, und Eva stände vor ihm. Lisbeth hatte ihm soviel von ihrer schönen Nichte erzählt. Und er hatte ebenso von Hortense geträumt wie sie von dem Geliebten ihrer Tante.

Die Blicke, die beide nun in Wirklichkeit tauschten, kann man sich vorstellen. Es waren Flammenblicke. Tugendhafte Verliebte kennen keine Verstellung.

»Donnerwetter, was machst du so lange hier drinnen?« fragte der Vater seine Tochter.

»Ich habe eben meine ersparten zwölf hundert Francs verausgabt, Vater. Komm, wir wollen gehen!«

Sie hängte sich bei ihrem Vater ein. Er wiederholte:

»Zwölfhundert Francs!«

»Sogar dreizehnhundert! Das Fehlende wirst du mir doch leihen!«

»Und wofür hast du diese Summe ausgegeben? In dem Laden da?«

»Ja, ja, dort«, entgegnete sie glücklich. »Wenn ich dabei einen Mann gefunden habe, so ist das doch nicht zuviel, nicht?«

»Einen Mann, Hortense? In dem Laden da?«

»Höre zu, Väterchen! Würdest du mir verbieten, einen großen Künstler zu heiraten?«

»Gewiß nicht, Kindchen«, erwiderte er. »Große Künstler sind heutzutage ungekrönte Fürsten. Ruhm und Geld, das sind die beiden sozialen Angelpunkte ... das heißt, nach der Ehre«, fügte er mit ein wenig Heuchelei hinzu.

»Nun ja«, meinte Hortense, »und wie denkst du über die plastische Kunst?«

»Die Bildhauerei ist so eine Sache!« gab er kopfschüttelnd zur Antwort. »Man braucht da große Protektion, ganz abgesehen von einem großen Können, denn die Regierung ist die alleinige Abnehmerin. Das ist eine Kunst ohne Absatzmöglichkeit, in unserer Zeit, wo es keine Monumentalität mehr gibt. Man kauft nur kleine Gemälde, kleine Skulpturen. Es gibt dementsprechend nur Kleinkünste.«

»Sollte das ein großer Künstler nicht überwinden?« warf Hortense ein.

»Das wäre des Rätsels Lösung, gewiß!«

»Ein Künstler, der unterstützt würde?«

»Desto besser!«

»Ein Edelmann?«

»Ist er das?«

»Er ist Graf!«

»Dabei Bildhauer?«

»Ja. Er hat kein Vermögen.«

»Rechnet er etwa auf das von Fräulein Hulot?« fragte der Baron scherzend, wobei er einen forschenden Blick in die Augen seiner Tochter warf.

»Dieser große Künstler, Graf und Bildhauer hat Ihre Tochter, Herr Baron, soeben zum ersten Male in seinem Leben gesehen, und zwar ganze fünf Minuten lang!« erwiderte Hortense mit ruhigster Miene. »Weißt du, Väterchen, während du gestern im Abgeordnetenhause warst, hatte Mutter einen Ohnmachtsanfall. Dieser Anfall, den sie auf ihre schwachen Nerven schiebt, hatte seine Ursache in ihrer Sorge darüber, daß ich noch nicht verheiratet bin. Sie hat mir nämlich gesagt: um mich an den Mann zu bringen.«

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