Kitabı oku: «Mamsellenmord in der Friedrichstadt», sayfa 2
Ihr Diskurs wurde unterbrochen, als aus der Küche die Mamsell Johanna Kuschnowski herbeigeeilt kam, um sich bei Dr. Friedrich Kußmaul zu bedanken.
»Sie haben mir wirklich jeheilt, Herr Jeheimer Sanitätsrat!«, rief sie und schüttelte dem ein wenig entsetzten Arzt die Hand. »Et is würklich nüscht mehr zu sehen von allet. Mir war ja dreiste schon mein Bräutijam wegjeloofen, denn alßa mir mal anjefasst hat, da …«
»Lassen Sie’s gut sein, mein verehrtes Fräulein!« Friedrich Kußmaul war wenig erbaut davon, dass der Fall hier in aller Öffentlichkeit diskutiert werden sollte, denn die korpulente Mamsell hatte unter einem mächtigen Herpes zoster gelitten, den er mit seiner medicinischen Kunst nicht in den Griff bekommen hatte, so dass er sie in seiner Hilflosigkeit zu einer alten Frau geschickt hatte, die sich auf das Besprechen von Gürtelrosen verstand - und Erfolg gehabt hatte. Das musste sein Bruder aber nicht unbedingt wissen.
Gontard grinste und empfahl sich. »Ich muss noch zu Willibald Alexis. Er feiert mit seinen Freunden aus der Mittwochgesellschaft das Erscheinen seines neuesten Romans - Die Hosen des Herrn von Bredow.«
Willibald Alexis war am 29. Juni 1789 in Breslau auf die Welt gekommen, in der Stadt, aus der dem Volksmund zufolge jeder echte Berliner kam. 1806 war er mit seiner Mutter nach Berlin gezogen, 1815 hatte er als Freiwilliger an den Befreiungskriegen teilgenommen. Danach hatte er begonnen, Rechtswissenschaft und Geschichte zu studieren, unter anderem bei Friedrich Carl von Savigny und Friedrich von Raumer, und war 1820 Referendar am Criminalsenat des Kammergerichts geworden. Nach dem Erfolg seiner ersten Romane schied er aus der Beamtenlaufbahn aus und errang mit Cabanis, in dessen Mittelpunkt Friedrich der Große stand, mit Der Roland von Berlin und mit Der falsche Waldemar einen Erfolg nach dem anderen. Alle seine Stoffe waren der märkisch-brandenburgischen und preußischen Geschichte entnommen. Eigentlich hieß er Georg Wilhelm Heinrich Häring, aber um zu vermeiden, dass man Witze über seinen Namen machte, hatte er sich ein Pseudonym zugelegt. Seit 1836 lebte er in der Friedrichstadt, genauer in der Wilhelmstraße 97, also zwischen Leipziger und Zimmerstraße. 1838 hatte er Laetitia Perceval geheiratet, deren Vorfahren aus England stammten. Sein Haus war zu einem Treffpunkt des literarischen Berlin geworden.
Nun hatte Christian Philipp von Gontard nichts weiter geschrieben als ein kleines Gedicht zum dreißigsten Geburtstag seiner Frau, aber Henriette war über drei Ecken mit der Familie der Edlen Herren Gans zu Putlitz verwandt, und der Schriftsteller und Theatermann Gustav Gans war mit Willibald Alexis befreundet und hatte Gontard im letzten Winter zu einem Treffen mitgenommen.
Auch heute wieder hatte sich eine illustre Gesellschaft in der Wilhelmstraße versammelt, an ihrer Spitze Ludwig Tieck und Julius Eduard Hitzig, dann Konrad von Sandkirchen, ein hoher Beamter des Hofes, und Daniel Grahsen, ein Schreiber der Vossischen Zeitung.
Auf dessen Wohl hob Willibald Alexis sein Glas. »Herzlichen Dank für Ihre Wertschätzung meiner Romane und in der Hoffnung, dass auch Die Hosen des Herrn von Bredow Ihre Wertschätzung finden werden.«
Grahsen verneigte sich. »Ehre, wem Ehre gebührt.« Gontard hatte gelesen, was Grahsen geschrieben hatte:
Alle seine Romane sind von wärmsten Patriotismus durchdrun gen und bieten meisterhaft ausgeführte geschichtliche Zeit und Sittenbilder, so dass Willibald Alexis mit Recht der märkische Walter Scott genannt worden ist.
»Hoffentlich hat es der König auch gelesen«, sagte Julius Eduard Hitzig.
Das war eine Anspielung auf einen Brief, den der König Willibald Alexis geschrieben hatte, nachdem er mit seiner harten Kritik an der Zensur bei Hofe unangenehm aufgefallen war.
Es fiel noch keinem Regenten von Neapel ein, den Krater des Vesuv zu verstopfen, weil er Feuer speit - so hatte Willibald Alexis in der Vossischen Zeitung die preußische Zensur gegeißelt. Pressefreiheit liege nun einmal im Blut, in der Luft, in der Vernunft.
Der Brief des Königs war nicht weniger eindeutig gewesen: Mit Widerwillen habe ich einen Mann von Ihrer Bildung und literarischer Bekanntheit in der Klasse derer gefunden, die es sich zum Geschäft machen, die Verwaltung des Landes durch hoh le Beurteilung ihres Tuns, durch unüberlegte Verdächtigung ihres nicht von ihnen begriffenen Geistes vor der großen meist urteils losen Menge herabzusetzen und dadurch ihren schweren Beruf noch schwerer machen.
Gontard sah Konrad von Sandhausen, den Obergewandkämmerer Friedrich Wilhelms IV., an. »Was sagen Sie denn dazu, dass der Romantiker auf dem Thron einen Mann, den andere anklagen, er verherrliche die Hohenzollern und die Preußen, derart abkanzelt? Einen überzeugten Monarchisten!«
Der Hofbeamte wand sich ein wenig. »Bitte verstehen Sie, dass der König keine Verfassung zwischen sich und dem Volke dulden will. Er hat die Gnade Gottes, und der Herr weist ihm jedes Mal den rechten Weg, das Volk aber kann niemals wissen, was richtig ist.«
»Weil es seit Jahrhunderten dumm gehalten wird«, sagte Grahsen.
»Mit Verlaub, mein Herr, Preußen hat bereits 1717 die allgemeine Schulpflicht eingeführt.«
»Ohne jedoch auf dem flachen Lande ausreichend für Schulen und Lehrer zu sorgen. Abgehalfterte Feldwebel werden auf die Kinder losgelassen.« Grahsen erregte sich immer mehr.
»Denken Sie aber an die Bildungsreformen Wilhelm von Humboldts«, hielt ihm von Sandhausen entgegen, »und an unser humanistisches Gymnasium!«
Ludwig Tieck beteuerte mit schwacher Stimme, dass der König ein guter Mann sei.
»Kein Wunder«, sagte Gontard, »hat er Sie doch vor vier Jahren als König der Romantik von Dresden nach Berlin zurückgeholt.«
»Wie?« Tieck, immerhin schon 73 Jahre alt, ging es gesundheitlich sehr schlecht, und Willibald Alexis hatte viel Mühe aufwenden müssen, ihn zum Besuch in der Wilhelmstraße zu bewegen. Sein letzter großer Roman, Vittoria Accorombona, der vom Untergang einer römischen Familie handelt, war schon vor sechs Jahren erschienen, und er schien langsam zu verstummen.
Jeder bekam nun aufgetragen, auf die Stellen einzugehen, die ihm in Willibald Alexis’ neuestem Roman am besten gefallen hatten, und Gontard wurde als Erster aufgerufen. Schnell hatte er im aufgeschlagenen Buch seine Passage gefunden:
Überall war Ordnung und das wartende Auge der Hausfrau sicht bar. Jeder, Mägde, Knechte, Töchter, Verwandte und Freunde, bis auf die Hunde hinab, schien sein besonderes Geschäft zu haben. Die begossen mit Kannen, die schöpften aus dem Fließ, die trugen das Wasser. Jene nestelten an den Stricken, welche zwischen den Kieferstämmen angespannt waren; sie prüften die Klammern, sie sorgten, dass die nassen Stücke sich nicht überschlugen. Dort hingen gewaltige Kessel über ausgebrannten Feuerstellen, und daneben standen Tonnen und Fässer. Aber diese Arbeit schien vorüber; nur auf den einzelnen Waschbänken, die in das schilfige Ufer des Fließes hineingebaut waren, spülten noch die Mägde mit hochaufgeschürzten Röcken und zurückgekrempelten Ärmeln. Es war die feinere Arbeit, die man bis auf die Letzt gelassen, die jede für sich mit besonderer Emsigkeit betrieb. Da gab es mancherlei Neckereien zwischen dem Schilf. Wollte aber ein Mann in die Nähe dringen, ward er unbarmherzig bespritzt.
»Das erinnert mich sehr an Szenen aus meiner Heimat«, sagte Konrad von Sandhausen, als ein jeder um Kommentare gebeten wurde. »Bei uns wurde immer am Flusse Szeszuppe gewaschen.«
Julius Eduard Hitzig schüttelte sich. »Wenn ich einen Fluss vor Augen habe, denn sehe ich immer nur eine Wasserleiche stromabwärts treiben.«
»Das ist eben Ihre professionelle Deformation«, hielt ihm Grahsen vor.
Das bezog sich darauf, dass Julius Eduard Hitzig, 1780 in Berlin als Isaac Elias Itzig auf die Welt gekommen, vor dem Ruhestand dem Staat als Justizbeamter, Director des Inquisitoriats und Mitglied im Criminal-Rat gedient hatte und neben Zeitschriften zur Strafjustiz auch - gemeinsam mit Willibald Alexis - den Neuen Pitaval herausgab, in dem Hunderte von Criminalfällen veröffentlicht wurden.
Hitzig konnte nichts mehr erwidern, denn in diesem Augenblick brachte die Mamsell einen kleinen Imbiss ins Zimmer, und die Herren schwiegen erst einmal, denn mit vollem Munde sprach man nicht. Danach wurde munter weiterdebattiert, bis Ludwig Tieck die Augen zufielen und mit ihm auch Daniel Grahsen und Konrad von Sandhausen die gastliche Stätte verließen. Gontard, Hitzig und sieben andere Männer blieben noch. Zwei weitere Stunden vergingen, und als Letzter war Julius Eduard Hitzig an der Reihe. Er hatte sich eine recht deftige Stelle ausgesucht.
»Wer wäscht die Nebel fort am Herbstmorgen, wer das schmutzi ge Winterkleid der Erde, und der Frühling steht da vor dem Herrn in seinem reinen Blumenkleide, von würzigen Düften umsäuselt. Des Menschen Hand hat nichts dazu getan.«
»Dechant, ich meine, in jedem guten Haus ist Reinlichkeit die erste Tugend, und wer sich auf Erden nicht gewaschen hat, der kommt auch nicht rein in den Himmel. Wie’s in einem geistlichen Haus steht, das weiß ich nicht, dafür lass ich andere sorgen. Aber wenn ich zu sorgen hätte, wisst Ihr, was ich täte?«
»Nur zu, Base,«, rief der Junker, die Hände reibend, »steckt ihn in den Waschkessel!«
»Ach was, ihn allein! Das müsste ein Kessel sein wie der Müggelsee, und die ganze Klerisei hinein mit allen euren Salben und Öl, Äbte, Bischöfe, Klöster, Nonnen und Mönche. Und Lauge dazu, bitter salzige, und umrühren wollte ich.«
»Kochen, Base! Ein Feuer darunter, das der Gottseibeiuns heizen müsste, sonst werden sie nicht rein.«
»Das Wasser würde schwarz werden schon von euren kleinen Verstecksünden, von der Eitelkeit, der Hoffart, dem Fraß, der Gleisnerei und Spiel und Trunk. Aber Wasser ist genug in der Mark. Abgeschäumt, ich würfe euch in einen neuen See. Da sötte ich aus eure Fleischessünden, doch das ist noch nicht das Größte, eure Habsucht und Herrschsucht und wie ihr verredet und verlästert, und nun wieder umgerührt.«
»Da kann ich den König schon verstehen, lieber Willibald Alexis, dass er Sie nicht sonderlich schätzt«, begann Gontard die Diskussion dieser Textpassage. »Da hat er gerade für die Katholiken den Weiterbau des Kölner Doms auf den Weg gebracht und will nun uns Protestanten mit einem gewaltigen Berliner Dom beglücken - und Sie polemisieren gegen den geistlichen Stand. Da möchte man doch …«
Weiter kam er nicht, denn in diesem Augenblick kam Laetitia Perceval völlig aufgelöst ins Zimmer gestürzt und rief, ehe sie in Ohnmacht fiel: »Man hat unsere Mamsell erstochen! Im Keller! Schrecklich zugerichtet liegt sie da in ihrem Blut.«
Drei
Albert Bölzke bummelte durch die Stadt und suchte nach Cigarrenresten, die jemand weggeworfen hatte. Manchmal war es die Hälfte einer Havanna, deren Geschmack einem Banquier oder Dandy nicht zugesagt hatte, meist aber nur ein schäbiger Stummel. An manchen Tagen war das Rauchen für Bölzke Frühstück, Mittag- und Abendbrot, da der Tabak eine Zeitlang den Hunger beschwichtigte. Eigentlich war er von Beruf Herumtreiber und Tunichtgut, aber da er bei den Behörden als Dienstmann registriert war - mit der Konzessionsnummer 52, die auf einem Messingschild zu sehen war, das er um den Arm trug –, konnte ihn kein Constabler mitnehmen und ins Armenhaus sperren. Zudem war er in gewisser Weise unantastbar, seitdem Adolf Glaßbrenner mit seinem Volksstück Eckensteher Nante im Verhör, das 1832 im Königsstädtischen Theater uraufgeführt worden war, Leute wie ihn gleichsam zu Berliner Originalen gemacht hatte und manch einer zu singen pflegte:
Det beste Leben hab ick doch, ick kann mir nich beklagen,
pfeift ooch der Wind durchs Ärmelloch, det will ick schon verdragen.
Det Morgens, wenn mir hungern tut, ess ick ne Butterstulle,
dazu schmeckt mir der Kümmel jut aus meine volle Pulle.
Glaßbrenners Vorbild, den Eckensteher Nante, eigentlich Ferdinand Strumpf, geboren 1803, hatte Bölzke gut gekannt, waren sie sich doch an der Ecke Königs- und Neue Friedrichstraße oft über den Weg gelaufen und hatten sich in der nahen Destillation Eulner einen genehmigt.
In der Brüderstraße gelang es Bölzke, einem Bäckerjungen ein fast verbranntes Weißbrot abzuluchsen, das seinen gröbsten Hunger stillte, aber es gelüstete ihn auch nach etwas Fleischlichem, und so pfiff er einer dicken Mamsell hinterher, die mit einem großen Korb in der Hand dem Markt zustrebte.
Kaum hatte er seinen Pfiff ausgestoßen, da riss ein Kumpan, der dicht hinter ihm ging, heftig an seinem Ärmel. »Pass uff, Albert, dette dir nich verdächtig machst!«
»Wieso’n dit?«
»Weil se letzte Nacht ’ne Köchin umjebracht ham, abjeschlachtet wie dem Tillack sein Schwein.«
Bölzke grinste. »Ach, du meinst die Amalia Matschke bei dem Schreiberling da im Kella, dem Alexis. Det war ick doch selba, und nu versuche ick, den Criminal-Commissarius zu täuschen.«
Heinrich machte ein verdutztes Gesicht. »Vasteh ick nich.«
»Na Mensch, is doch klar wie Kloßbrühe: Der Werpel, der denkt doch nu, der Bölzke, der kann et nich jewesen sein, sonst wära nich so dämlich und pfeift die Weiba weita hintaher.«
»Ick bewundere dir, Albert! Wat du so allet an Jeist im Koppe hast! Aba wenn de eenen jesoffen hast, biste wie’n Tier.«
Bölzke hörte das gerne und setzte seine Runde fort. Er kam sich dabei vor wie ein Fuchs, denn wie der durch Wald und Feld, so streunte er durch Berlin, immer auf der Suche nach einer Beute - und sei sie noch so klein. Fernerhin genoss er das Berliner Straßenleben wie ein fortlaufendes Theaterstück.
In der Poststraße streifte ein Schornsteinfeger ein Dienstmädchen, das mit einem blau-weißen Umhang unterwegs war, und das keifte: »Ochse, mach er mich nicht weiß, er oller Müllergeselle!«
Bölzke sah auf dem Werderschen Markt Dr. Kußmaul mit dem reichen Tuchhändler Damaschke stehen.
»Wat würden Se mir raten, Herr Dokta? Ick bin 69, aber bei bester Gesundheit, habe Vermögen und will ma ’ne junge Hübsche von 19 anlachen. Glauben Se, ick könnt der so janz simpel beibringen, ick wär erst 49?«
Dr. Kußmaul lachte. »Aber nicht doch, tun Sie genau das Gegenteil! Sie wird viel eher auf Ihr Angebot eingehen, wenn Sie ihr sagen, dass Sie schon 79 sind.«
Bölzkes Stimmung wurde allmählich besser und erreichte ihren Höhepunkt, als ihm auf der Friedrichstraße das Fuhrwerk eines Speditionsgeschäftes entgegenkam und er entdeckte, dass sich sein alter Kumpan Georg oben zwischen den Colli versteckt hatte und auf jemanden wartete, dem er ein Paket in die fangbereiten Arme werfen konnte.
»Orje, hier bin ick, schmeiß wat runta!«
Und ehe der Kutscher vorn auf dem Bock reagieren konnte, hatte Georg ein Paket gegriffen und in Richtung Bölzke geworfen. Der hatte keine Mühe, es zu fangen, und beide flüchteten mit ihrer Beute die Behrenstraße hinunter, um sich im Thiergarten vor ihrem Verfolger in Sicherheit zu bringen, was ihnen auch gelang. Als sie das Paket öffneten, jubelten sie, denn es enthielt handgedrehte Cigarren aus Vierraden. Die verscherbelten sie alsdann bei verschiedenen Händlern, die nicht lange nach der Herkunft einer Ware fragten, und machten sich einen schönen Tag, indem sie erst einmal zur Fischerstraße gingen und im »Nußbaum« aßen. Es hätte auch für ein vornehmeres Gasthaus gereicht, aber sie hatten Angst, dass ihnen dort der Viertel-Commissarius auf den Zahn fühlen würde. Angetrunken, aber immer noch aufrecht liefen sie durch die Residenzstadt und suchten nach einem Plätzchen, wo sie ein wenig Ruhe finden konnten.
»Am besten, du kommst bei mir mit inne Jartenstraße«, lallte Orje.
Sie setzten sich in Bewegung, und unterwegs stieß auch noch Heinrich zu ihnen. Zu dritt zogen sie weiter, kamen aber nur bis zum Hamburger Thor, wo ihnen ein Trupp lärmender und rauchender Arbeitsmänner den Weg versperrte. Die hatten sich mit dem Wachhabenden angelegt, dem Grenadier Bienert, der vor dem Wachtgebäude stand und nach dem Rechten sah. Er nahm einen der Arbeitsmänner ins Visier.
»Sie da, det Roochen is an diese Stelle tunlichst zu unterlassen!«
Der lachte nur. »Dumme Bemerkungen sind ooch zu unterlassen.«
Daraufhin packte Bienert ihn und wollte ihn in die Wache schleppen, doch sofort löste sich ein Arbeitsmann aus der Menge, um seinem Kollegen beizuspringen. Er packte Bienert an der Brust und suchte, ihn zu Boden zu stoßen. Augenblicklich kam eine ganze Mannschaft aus dem Wachtgebäude, um die beiden Aufsässigen zu packen und in Arrest zu nehmen. Als man sie in die Wachstube gebracht hatte, forderten die Arbeitsmänner draußen deren Freilassung, und als die Sprechchöre keinen Erfolg hatten, stieß man Drohungen aus und bewarf das Wachthaus mit Steinen. Da konnten Bölzke und seine Freunde nicht anders, als mitzumachen. Fensterscheiben gingen zu Bruch. Die Wachmannschaft stürzte heraus, um die Menge zu attackieren. Gut gezielte Würfe trafen sie an Helm und Körper. Derart herausgefordert, zog einer seinen Infanteriesäbel, um sich damit Respekt zu verschaffen. Schläge mit der flachen Seite auf den Kopf waren dazu ein bewährtes Mittel. Als einen der Ersten traf es Albert Bölzke.
Heinrich sah, wie er leblos auf dem Pflaster liegen blieb, und murmelte: »Det is nu die Strafe, detta die Matschke abjestochen und uffgeschlitzt hat.«
Vier
Der Criminal-Commissarius Waldemar Werpel lebte nach der Devise »Eile mit Weile«, und so ließ er die Suche nach dem Mörder der Mamsell Amalia Matschke langsam angehen. Bevor er mit den Gästen sprach, die am Mordabend im Hause Wilhelmstraße 97 mit Willibald Alexis das Erscheinen des Romans Die Hosen des Herrn von Bredow gefeiert hatten, wollte er hören, welche Erkenntnisse der Stadtphysicus beim Betrachten der Leiche gewonnen hatte. Zu diesem Zweck hatte er sich in die Charité zu begeben.
Das erste Berliner Leichenschauhaus für die Stadtphysici, wie die Rechtsmediciner zu dieser Zeit hießen, war 1811 errichtet worden. Wegen der unzumutbaren Bedingungen dort wurden ab 1839 Räume des Leichen- und Sektionshauses der Charité für diesen Zweck genutzt. 1833 war an der Friedrich-Wilhelms-Universität die Praktische Unterrichtsanstalt für die Staatsarzneikunde gegründet worden, in der die Gerichtliche Medicin und die Medicinalpolizei zusammengefasst waren. Erster Lehrstuhlinhaber war der gerichtliche Stadtphysicus Karl Wilhelm Ulrich Wagner, der die Staatsarzneikunde auch als akademisches Fach etablierte.
Wagner war am 21. Januar 1793 in Braunschweig geboren worden. Er hatte 1813 in Göttingen die medicinische Doktorwürde erlangt und war danach in den braunschweigischen Militärdienst eingetreten, wo er 1815 nach der Schlacht bei Waterloo zum Generalstabsarzt aufgestiegen war. 1819 hatte er sich in Berlin habilitiert, um ein Jahr später außerordentlicher Professor der Staatsarzneikunde zu werden. 1826 hatte man ihn zum ordentlichen Professor ernannt, 1828 war er Criminal- und 1829 Stadtphysicus geworden.
Als Werpel ins Wagner’sche Kabinett in der Charité eingetreten war und Platz genommen hatte, war aber nicht die Mamsell Amalia Matschke das bevorzugte Thema, sondern die Schlacht bei Waterloo, an der auch er teilgenommen hatte.
»Am 28. Juni des Jahres 1815 haben wir beim Dorfe Plancenoit gestanden«, erklärte Werpel dem Stadtphysicus und legte dessen Briefbeschwerer in die Mitte der Schreibunterlage. »Das hier ist das kleine Städtchen Waterloo in der belgischen Provinz Brabant, fünfzehn Kilometer südöstlich von Brüssel. Folgt man in südlicher Richtung der Straße nach Charleroi, so trifft man wenige Kilometer von Waterloo entfernt auf zwei Höhenrücken.« Er markierte sie mit einem Brieföffner und einem Lineal.
»Hier ist es gewesen, hier hat die Schlacht getobt. Ach ja, wie der General Wellington sagte: Ich wollte, es wäre Nacht oder die Preußen kämen.«
Auch Prof. Wagner konnte sich lebhaft an alles erinnern und berichtete, wie seine Braunschweiger in ihren schwarzen Uniformen die britische berittene Artillerie unter Captain Mercer für Franzosen gehalten und beschossen hätten. »Die haben nun mit ihrer Batterie das Feuer erwidert, und was meinen Sie, Werpel, was ich für Arbeit damit hatte, meine Leute wieder zusammenzuflicken!
Schließlich haben wir einen Reiter zu Mercer geschickt, und der hat dann in einer merkwürdigen Mischung aus breitem braunschweigischem Platt und ein paar Brocken der englischen Sprache die Anhöhe hinaufgerufen: ›Ah, mine Gott, mine Gott! Vot it is you doos, sare? Dat is your friends, de Proosiens; and you kill them! Ah, mine Gott, mine Gott! Vill you no stop, sare?‹«
Nachdem sie diese und andere Episoden ausführlich durchgegangen waren, kamen sie endlich auf Amalia Matschke zu sprechen.
»Ich habe zwölf Einstiche in den Rumpf gezählt«, sagte der Stadtphysicus. »Und dann ist ihr auch noch der Leib aufgeschlitzt worden.«
Werpel schüttelte sich. »Das erinnert mich an das Schwein vom Tillack.«
Wagner schloss die Augen. »Mich eher an die Schlachtfelder, auf denen ich …«
»Wer kann denn so was tun?«, fragte Werpel.
»Die Kaiser, Könige und Feldherren.«
»Nein, ich meine das Schwein vom Tillack und den Mord bei Willibald Alexis.«
Der Stadtphysicus musste nicht lange nachdenken.
»Nur einer aus dem Irrenhaus.«
»Da ist aber keiner entwichen. Danach habe ich mich bereits erkundigt«, sagte Werpel.
»Dann ist er bis jetzt noch nicht eingesperrt.«
Werpel nickte. »Genau das habe ich mir auch gedacht. Und meinen Sie, Herr Professor, dass der Mörder bei dem Schwein von Tillack nur geübt hat?«
»Das kann man zweifelsohne sagen. In so einem Kerl schießt es plötzlich hoch, und er stürzt sich auf alles, was lebendig ist und sich schlecht wehren kann.«
»Und woran kann man einen solchen Menschen erkennen?«, wollte Werpel wissen.
»Man kann ihn nur daran erkennen, dass man ihn an nichts erkennen kann. Das ist gerade das Schlimme. Es wird ein Mensch sein, der aussieht wie Sie und ich. Er ist im alltäglichen Leben durch und durch gewöhnlich, vermute ich, aber etwas zwingt ihn dazu, einen anderen zu töten, wenn sich eine günstige Gelegenheit bietet.«
»Der Tillack meint, dass es bei seiner Jolanthe eine Rotkappe gewesen ist«, sagte Werpel.
»Eine was?«, fragte der Stadtphysicus.
»Ein Wesen, das Krallen hat und rotglühende Augen und Menschen tötet, um mit deren Blut die Farbe seiner Kappe immer wieder zu erneuern. Vertreiben kann man es mit einem Bibelzitat.«
Wagner war zu sehr Naturwissenschaftler, um bei solchen Aussagen nicht die Augen zu verdrehen. »Ich meine keinen Kobold oder bösen Geist, sondern eine teuflische Kraft, die in der Psyche eines kranken Menschen steckt und ihn zu Grausamkeiten treibt.«
»Einerlei«, sagte Werpel. »Es ist jedenfalls blutdürstig.«
»Also suchen Sie mit aller Kraft den Mann, der von ihr befallen ist!«, rief der Stadtphysicus. »Damit mich der Leichen-Commissarius nicht zu weiteren aufgeschlitzten Leibern rufen muss.«
Werpel schnappte sich also den Constabler Krause, um mit ihm gemeinsam zur Wilhelmstraße 97 zu laufen.
»Warum mussten Se denn jrade mir nehm?«, fragte Krause. »Imma bin ick der Dumme.«
Werpel schmunzelte. »Selbsterkenntnis ist der erste Weg zur Besserung.«
Krause strahlte. »Ach so, ick soll befördert wer’n. Na, denn isset wat anderet.«
Bei Willibald Alexis in der Wilhelmstraße 97 wollte sich Werpel noch einmal den Tatort ansehen und ließ sich und den Constabler von der Gattin des Schriftstellers zunächst in den Keller führen.
»Hier habe ich die arme Mamsell gefunden und bin schreiend nach oben gelaufen, wo mein Mann und seine Gäste plaudernd beisammensaßen«, berichtete Laetitia Perceval.
Werpel wartete auf eine Intuition. »War die Matschke schon lange bei Ihnen?«
»Nein, sie war nur an diesem Abend zur Aushilfe im Haus, weil mein Mädchen allein nicht alles schaffen konnte.«
Werpel trug diese Aussage in seine Kladde ein, weil sie ihm irgendwie bedeutsam erschien. »Es können also nicht allzu viele Menschen gewusst haben, dass sie bei Ihnen war?«
»Eigentlich nur ihre Mutter und ihre Schwester.«
»Die werden wir auch noch anhören, danke.« Werpel fiel noch etwas ein. »Ist denn die Mamsell von sich aus in den Keller gegangen, oder haben Sie sie geschickt?«
Laetitia Perceval versuchte sich zu erinnern. »Nein, ich habe sie nicht geschickt, sie ist wohl in den Keller gegangen, um neuen Wein zu holen.«
»Und wann war das ungefähr?«
»Es muss so zwischen zehn und halb elf gewesen sein.«
»Und von der Straße aus hatte jedermann Zugang zum Keller?«
»Von der Straße aus kommt man nicht in den Keller«, erklärte Laetitia Perceval, »aber vom Hof her, und auf den gelangt man unbemerkt von der Leipziger Straße.«
Werpel seufzte. »Es hätte demnach jeder in den Keller eindringen können.«
»Ick weeß nich, wat Sie ham«, sagte der Constabler Krause. »Wenn wa den Täta erst ham, dann zeicht der uns, wie et jewesen is, und allet is janz einfach.«
Werpel wurde immer mutloser, denn er ahnte schon, dass alles, was er unternahm, nichts nutzen würde. Aber seine Oberen und die Bürger erwarteten von ihm, dass er irgendwelche Maßnahmen ergriff. Er ließ sich zu Willibald Alexis führen und hoffte, dass der eine Idee haben würde.
Doch der Schriftsteller zuckte mit den Schultern.
»Nein, ich kann Ihnen nicht weiterhelfen. Aber einen Augenblick bitte, ich glaube, da draußen reißt mein Freund Hitzig am Klingelzug, und der ist schließlich einst Criminalrath gewesen und kennt mehr Criminalfälle als ich, vielleicht fällt ihm etwas ein.«
Werpel freute sich, dass ihm der Weg zu Julius Eduard Hitzig erspart blieb, und bat ihn, nachdem man sich begrüßt hatte, um seine Meinung im Fall Amalia Matschke.
»Ich frage Sie sozusagen auf dem Wege der Amtshilfe.«
»Was mich am meisten erschüttert, ist die Tatsache, dass wir hier oben im Zimmer keine Schreie gehört haben«, sagte Hitzig. »Der Mörder muss ihr also den Mund zugehalten oder sie vorher betäubt haben. Wie auch immer, die große Frage ist erst einmal, ob der Täter zufällig auf die Matschke gestoßen ist oder schon vorher in irgendeiner Beziehung zu ihr gestanden hat. Aber wenn ich an das Schwein denke, das bei Tillack abgestochen worden ist, dann ist von demselben Täter auszugehen, und wir haben es mit einem Mann zu tun, der durch die Stadt geistert und nach immer neuen Opfern sucht. Die Morde an dem Schwein und an der Mamsell können so gesehen erst der Anfang gewesen sein. Menschliche Ungeheuer hat es zu allen Zeiten gegeben.«
»Ja, sicher«, stimmte der Constabler Krause ihm zu.
»Ick denke da nur an den Tschech.« Heinrich Ludwig Tschech hatte am 26. Juli 1844 mit einer Pistole ein fehlgeschlagenes Attentat auf Friedrich Wilhelm IV. verübt, und die Berliner sangen über ihn: »Hatte je ein Mensch so’n Pech / wie der Bürgermeister Tschech, / dass er diesen dicken Mann / auf zwei Schritt’ nicht treffen kann!«
Hitzig verdrehte die Augen. »Beide Fälle sind doch nicht vergleichbar. Tschech war doch nicht von Mordgelüsten erfüllt, er war ein neuer Michael Kohlhaas, der nicht hinnehmen wollte, dass man ihn in Storkow als Bürgermeister abgesetzt hatte.«
Werpel zog seine Kladde hervor. »Wenn ich mir einmal notieren dürfte, wer hier alles zu Gast gewesen ist, als die Matschke getötet wurde …«
»Ich muss doch sehr bitten!«, rief Willibald Alexis. »Für meine Gäste lege ich meine Hand ins Feuer.«
»Keiner hat sich auch nur für länger als eine Minute aus dem Zimmer entfernt«, fügte Hitzig hinzu. »Und als die Ersten gegangen sind, hat die Mamsell noch gelebt.«
Werpel machte eine beschwichtigende Geste. »Ich will auch nur wissen, ob jemand eine Beobachtung gemacht hat, die uns auf die Spur des Täters bringen könnte.«
»Nun gut.« Alexis und Hitzig nannten ihm die Namen aller, die das Erscheinen der Hosen des Herrn von Bredow gefeiert hatten.
Der Criminal-Commissarius bedankte sich und zog gemeinsam mit dem Constabler Krause in den nächsten Stunden und noch am nachfolgenden Tag durch die Stadt, um Ludwig Tieck, Konrad von Sandkirchen, Daniel Grahsen und einige andere zu befragen, doch niemand hatte etwas beobachtet, das ihn weiterbringen konnte. Als Letzter kam Christian Philipp von Gontard an die Reihe. Zu dem hatte Werpel ein ausgesprochen zwiespältiges Verhältnis. Einerseits hatte ihm der Artillerie-Offizier schon bei der Aufklärung mancher Fälle geholfen, andererseits aber auch dafür gesorgt, dass Werpel sich nichtsnutzig und jämmerlich vorkam und Angst haben musste, von den Leuten verspottet zu werden. Er fand ihn in der Vereinigten Artillerie- und Ingenieurschule.
»Sie wissen bestimmt schon, wer es war«, begann Werpel die Unterredung mit ihm.
Gontard lächelte. »Sie wohl auch, sonst hätten Sie keinen Constabler mitgebracht.«
Krause freute sich, dass er einmal beachtet wurde. »Ja, ick bin da, wenn eena festjenommen wer’n soll, aba vorher schon jeflüchtet is.«
»Was sagt Ihnen Ihr Instinkt im Fall der Amalia Matschke, Herr von Gontard?«, fragte Werpel.
Gontard musste nicht lange überlegen. »Willibald Alexis und Julius Eduard Hitzig werden dahinterstecken. Sie haben es getan, um einen spektakulären Fall für ihr Werk Der neue Pitaval zu haben - mit der Überschrift Der Mamsellenmörder.«
»Bis jetzt ist nur eine Mamsell aufgeschlitzt worden«, wandte Werpel ein.
»Zu befürchten ist, dass es nicht dabei bleiben wird«, sagte Gontard nun mit dem gebotenen Ernst. »Denn alles deutet auf einen kranken Verbrecher hin.«
Werpel nickte. »Das vermute ich ebenfalls, aus einer Irrenanstalt ist aber keiner entwichen, da habe ich schon meine Erkundigungen eingezogen.«
»Wie kann einer entweichen, der noch gar nicht eingeliefert worden ist?«, überlegte Gontard. »Der Mann wird als gewöhnlicher Bürger unter uns leben - bis ihn dann immer wieder sein Fieber packt.«