Kitabı oku: «Turnvater Jahn», sayfa 4
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Als Leiche im Schafgraben?
1794 – 1796
Die Berliner hatten gehofft, dass mit dem Tod Friedrichs II. bessere Zeiten für sie anbrächen. Doch der Neffe des verstorbenen Königs, der 1786 als Friedrich Wilhelm II. den Preußen-Thron bestiegen hatte, war auch nicht so recht nach ihrem Geschmack. Er wurde für einen Taugenichts gehalten und hieß im Volk bald »Der dicke Lüderjahn«. Der Alte Fritz hatte ihn als Dreijährigen zu sich ins Schloss geholt, um ihn erziehen zu lassen, den Neffen aber sehr zartfühlend behandelt, in der guten Absicht, die gestrenge Erziehung seines eigenes Vaters nicht zu wiederholen. Kurzum, sein Zögling entwickelte sich zu einem Lebemann und hatte schon früh mehrere Mätressen. Dann wurde er verheiratet. Von seiner ersten Frau ließ er sich bald wieder scheiden, und auch die Ehe mit der zweiten konnte nur als unglücklich bezeichnet werden. Friedrich Wilhelm II. hatte viele außereheliche Affären. Eine gewisse Wilhelmine Encke wurde zu seiner offiziellen Nebenfrau und entwickelte sich zu einer preußischen Madame de Pompadour. Die Berliner goutierten das, denn Skandal war immer noch das Süßeste, was sie aber störte, war die scheinbar zunehmende Verschrobenheit ihres Königs. Immer öfter tippten sie sich an die Stirn und sagten: »Der hat se ja nich mehr alle!« Grund dafür war der Okkultismus, dem sich Friedrich Wilhelm II. verschrieben hatte. Er war in den Bann des Ordens der Gold- und Rosenkreuzer geraten und eine Marionette der beiden Männer geworden, die dort das Sagen hatten: Johann Christoph von Woellner und Johann Rudolf von Bischoffwerder.
Der Theologe Friedrich Gedike, den Alexander Friedrich Jahn in Berlin getroffen hatte, verfolgte diese Entwicklung mit großer Sorge. Mit Woellner stand er auf Kriegsfuß. Der hatte schon einmal behauptet, Gedike lehre die jungen Leute, sie sollten nicht an Jesus Christus glauben und nicht zum heiligen Abendmahl gehen, denn er selbst tue das auch nicht. Das war 1785 gewesen. Der Alte Fritz hatte Woellner daraufhin »einen hinterlistigen und intriganten Pfaffen« genannt und es abgelehnt, ihn in den Adelsstand zu erheben. Nun aber war Woellner unter Friedrich Wilhelm II. aufgestiegen zum Staats- und Justizminister und Chef des geistlichen Departements. Gedike, der 1793 die Leitung des Gymnasiums zum Grauen Kloster übernommen hatte, musste sich vor ihm in Acht nehmen, wollte er die Schule nicht noch weiter gefährden. Gerade eben hatte Friedrich Wilhelm II. erklärt, Gedike gehöre zu den Aufklärern, die er nicht mehr lange dulden werde.
»Wohin soll das nur führen?«, fragte Gedike seufzend, als er mit einem seiner Vertrauten, dem Deutschlehrer Franz Steinhauser, am 27. September 1794 beisammensaß.
»Der König hat etwas gegen die Aufklärer«, sagte Steinhauser. »Die Allgemeine Deutsche Bibliothek von Friedrich Nicolai darf nicht mehr erscheinen.« Dann schmunzelte er. »Ich behandle mit meinen Schülern gerade den Streit zwischen Goethe und Nicolai. Ihr wisst sicher, dass Goethe unserem wackeren Nicolai dessen polemische Kritik an seinem Werther nie verziehen hat. Aber kennt Ihr auch Goethes böses Gedicht, mit dem er sich an Nicolai rächen wollte?«
Als Gedike verneinte, reichte ihm Steinhauser das Blatt hinüber, auf dem das Gedicht fein säuberlich geschrieben stand.
Nicolai auf Werthers Grabe
Ein junger Mensch, ich weiß nicht wie,
starb einst an der Hypochondrie
und ward denn auch begraben.
Da kam ein schöner Geist herbei,
der hatte seinen Stuhlgang frei,
wie ihn so Leute haben.
Der setzt sich nieder auf das Grab
und legt ein reinlich Häuflein ab,
schaut mit Behagen seinen Dreck,
geht wohl eratmet wieder weg,
und spricht zu sich bedächtiglich:
»Der arme Mensch, er dauert mich
wie hat er sich verdorben!
Hätt er geschissen so wie ich,
Er wäre nicht gestorben!«
Gedike reichte dem Lehrer das Blatt zurück und seufzte. »Lieber Steinhauser, verwendet das Gedicht lieber nicht im Unterricht. Ich sehe schon Woellners Büttel angelaufen kommen, um Sie wegen der unangebrachten Sprache zu sanktionieren.«
Weiter kam Gedike nicht, denn ein Secretär klopfte an die Tür des Rektorats und meldete, dass ein gewisser Friedrich Ludwig Jahn aus Lanz erschienen sei, um sich einer Aufnahmeprüfung zu unterziehen.
»Ach, das habe ich fast vergessen!« Gedike fasste sich an den Kopf. »Er soll gleich hereinkommen.«
»Die Klassen sind eigentlich schon voll«, sagte Steinhauser.
»Sicher, aber der Vater ist ein guter Bekannter von mir und außerdem auch Pfarrer. Doch bleibt nur hier und macht Euch auch ein Bild von seinem Sohn.«
Als Friedrich Ludwig Jahn vor ihm stand, war Gedike, wie damals der Rektor Wolterstorff vom Salzwedeler Gymnasium, nicht gerade erbaut. Er bevorzugte Jungen, die gertenschlank waren und denen man ansah, dass sie ihren Aristoteles kannten und selbst Gedichte schrieben. Dieser Sechzehnjährige aber war ein grober Klotz, der eher in eine Schmiede passte denn auf ein Gymnasium.
»Nun denn, fangen wir mit dem Lateinischen an. Was heißt Concordia parvae res crescunt, discordia maximae dilabuntur?«
»Also … concordia ist die Eintracht und discordia die Zwietracht.«
»Und was ist mit denen?«
Jahn bekam es nicht gleich zusammen. »Ja, also, dilabuntur kommt von … von … na, dilanbuntere.«
»Dieses Wort gibt es meines Wissen im Lateinischen nicht«, stellte Gedike fest.
Steinhauser war zu sehr Menschenfreund, um nicht helfend einzugreifen. »Denkt doch mal an dī-lābor, di-lābī, was auseinanderfallen oder zerfallen bedeutet.«
Mit dieser Hilfestellung schaffte Jahn nach einigen weiteren Irrwegen schließlich die richtige Übersetzung: »Durch Eintracht wächst Kleines, durch Zwietracht zerfällt das Größte.«
Das war nicht eben glänzend, und auch in der Mathematik blieb Jahn unter dem Niveau, das im Grauen Kloster als Mindestmaß galt. Gedike fragte sich, ob es bei der kargen Besoldung eines preußischen Pfarrers wirklich lohnte, für einen Sohn von diesem Format monatlich drei Thaler Schulgeld aufzubringen und dafür auf vieles zu verzichten. Nun, in Lanz hatte man sich die Sache sicher reiflich überlegt, und nur ein richtiger Schulabschluss öffnete einem jungen Menschen die Tür zu den preußischen Universitäten und damit das Thor zu einem erfolgreichen Leben.
»Nun, Jahn, vielleicht seid Ihr in der Theologie so firm, dass wir hinsichtlich Eurer offensichtlichen Mängel in den eben abgeprüften Fächer etwas nachsichtiger sein können.« Gedike überlegte einen Augenblick, um eine geeignete Frage zu finden. »Wie lautet die erste der 95 Thesen von Martin Luther?«
»Als unser Herr und Meister Jesus Christus sagte: ›Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen‹, wollte er, dass das ganze Leben der Glaubenden Buße sei.«
»Das kam ja überaus prompt«, lobte Gedike. »Wo finden wir in der Heiligen Schrift Passagen zum Thema Buße?«
Auch bei dieser Frage brauchte der junge Jahn nicht lange zu überlegen. »Ich denke zuerst an Matthäus, Kapitel 3, Vers 2: Tut Buße, das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. Oder auch an Markus, Kapitel 1, Vers 15: Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist nahe gekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium. Dann fällt mir noch die Apostelgeschichte ein, Kapitel 2, Vers 38: Petrus sprach zu ihnen: Tut Buße und lasse sich ein jeglicher taufen auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung der Sünden.«
»Das ist phänomenal!«, rief Gedike begeistert. »Nun prüfen wir noch etwas Geschichte.« Damit wandte er sich an Steinhauser, dass der mit der Prüfung fortfahre.
»Wir wollen voraussetzen, lieber Friedrich, dass Ihr alle Kriege kennt, die Preußen geführt hat. Was aber hat unser österreichisches Brudervolk vor kurzem bewegt?«
Jahn zögerte keine Sekunde mit der richtigen Antwort. »Das war der Russisch-Österreichische Türkenkrieg von 1787 bis 1792.«
»Richtig. Und wer waren die Heerführer?«
»Grigori Alexandrowitsch Potjomkin bei den Russen, Sultan Abülhamid I. bei den Türken und Feldmarschall Laudon bei den Österreichern.«
»Sehr schön! Wer hat das Osmanische Reich schließlich gerettet?«
Jahn schmunzelte. »Unser König Friedrich Wilhelm II., indem er mit dem Sultan ein Bündnis geschlossen hat.«
Gedike kam das zwar ein bisschen verkürzt vor, dennoch zollte er dem Jungen die gebührende Anerkennung. »Nun, lieber Jahn, damit habt Ihr die Aufnahmeprüfung summa summarum bestanden und dürft Euch von nun an voller Stolz als Unterprimaner unserer Einrichtung betrachten.«
Friedrich Ludwig Jahn verfügte schon sehr früh über ein großes Selbstvertrauen. Er war nicht nur in hohem Maße von sich selbst überzeugt, sondern hatte darüber hinaus das Gefühl, am Ende einen Platz in den Geschichtsbüchern einzunehmen. Im Brief des Paulus an die Epheser stand: Er erleuchte die Augen eures Herzens, dass ihr erkennen möget, zu welcher Hoffnung ihr von ihm berufen seid. Jahn glaubte fest daran, dass er vom Herrn dazu auserwählt war, Höheres zu schaffen. Deshalb ging er im Stillen davon aus, so vermessen und irrwitzig das für einen Menschen seiner Intelligenz auch war, dass man ihn in Berlin jubelnd empfangen werde, zumindest in den Hallen seines neuen Gymnasiums. Doch natürlich dachte niemand auch nur im Traum an eine solche Begrüßung. Ein bisschen empörte Jahn das schon. Als er seinem Freund Philipp Pulvermacher im ersten Brief vom grünen Strand der Spree andeutungsweise davon Kenntnis gab, antwortete der: Was willst Du eigentlich? Der erste Monat des Jahres ist doch schon nach Dir benannt worden, der Jahnuar.
Eine preiswerte Unterkunft hatte Jahn in der Stallschreibergasse, im Hause des Königlichen Akzisebeamten Karl Friedrich Klotz, gefunden. Von dort aus hatte er zwar ein ganzes Stück zur Schule zu laufen, war aber auch schnell im Grünen, auf den Schöneberger und den Rixdorfer Wiesen hinter dem Schafgraben, dem späteren Landwehrkanal.
Berlin imponierte Jahn, denn die Stadt war ein anderes Kaliber als Salzwedel, Wittenberge oder Wismar. Gleichzeitig nahm er ihr übel, dass sie von ihm so gar keine Kenntnis nahm. Nirgendwo hisste man eine Fahne für ihn, niemand hielt eine zu Herzen gehende Begrüßungsrede, und keine der Gazetten erwähnte ihn mit einer Zeile. Natürlich wusste er, dass er eigentlich ein unbeschriebenes Blatt war, dennoch spürte er eine tiefe Enttäuschung. Hätten nicht jetzt schon alle wissen müssen, was in ihm steckte? Aber bitte, brachte die Stadt ihm keinen Respekt entgegen, konnte sie von ihm auch keine Ehrfurcht erwarten!
Wie schon in Salzwedel, war die Schule für Jahn mehr Zuchthaus denn Vorbereitung auf die Alma Mater. Was ihm hier an geistiger Nahrung geboten wurde, hätte er sich auch privat und ohne jede Subordination aneignen können.
Das Berlinische Gymnasium zum Grauen Kloster lag, wenig überraschend, an der Klosterstraße und blickte stolz auf über zweihundert Jahre Geschichte zurück. Am 13. Juli 1571 war es am Standort eines alten Franziskanerklosters, das Graues Kloster hieß, gegründet worden. Die Farbe im Namen erinnerte an das graue Gewand der Franziskanermönche. Nach dem Tod des letzten Mönches hatte der brandenburgische Kurfürst Johann Georg beschlossen, aus dem Kloster ein Gymnasium zu machen. Die Bildungsanstalt genoss einen ausgezeichneten Ruf und hatte vor einigen Jahren ein neues repräsentatives Schulgebäude erhalten.
Jahn fühlte sich in diesem Haus von Anfang an nicht wohl, weil er sich darin so klein und unscheinbar vorkam. In Lanz war er allgemein bekannt gewesen, in Salzwedel hatte er immerhin noch einiges Gewicht gehabt, hier aber ging er in der Masse unter. Unter diesem Umstand litt er wie unter einer Krankheit, denn sein Geltungsdrang war groß. Was blieb ihm anderes übrig, als alles zu tun, um aufzufallen?
Er lieh sich das Gewehr seines Wirtes aus und schoss damit am Floßgraben auf Wasserratten. Auch streunte er gern am Ufer herum und stieg noch im Oktober zum Schwimmen ins Wasser. Beides wurde dem Rektor hinterbracht.
»Jahn, das Schießen überlassen wir den Soldaten!«, belehrte ihn Gedike.
»Das ist ein Fehler«, entgegnete Jahn. »Wenn Preußen wieder einmal Krieg führt und Österreicher, Russen oder Franzosen auf unser Territorium vorrücken, dann haben wir größere Aussicht auf einen Sieg, wenn das Volk aus den Fenstern auf sie feuert. Die Amerikaner hätten ihren Unabhängigkeitskrieg gegen die Engländer niemals gewonnen, wenn die Bürger nicht so gut mit dem Gewehr vertraut gewesen wären.«
»Nun gut, zum zweiten Eurer Delikte. Ihr wisst, dass allen Schülern das Schwimmen im Floßgraben wie auch in allen anderen Gewässern wegen der gefährlichen Strömungen verboten ist!«, schimpfte Gedike.
»Das mag für die anderen zutreffen, aber nicht für mich. Ich bin ein so vortrefflicher Schwimmer, dass ich unertrinkbar bin.«
»Ein solches Wort gibt es in der deutschen Sprache nicht.«
»Dann sollten wir es einführen.«
Diese lakonische Bemerkung brachte Jahn den ersten Kerkeraufenthalt im Gymnasium zum Grauen Kloster ein. Er nahm ihn hin wie einen Ritterschlag. Die zweite Arreststrafe bekam er aufgebrummt, als er nicht über die Treppe in sein Klassenzimmer gelangte, sondern über das Fallrohr der Regenrinne, an dem er hinaufkletterte. So machte er sich langsam bei seinen Schulkameraden wie auch bei den Lehrern einen Namen. Den Pädagogen ging er allerdings mit seiner Haarspalterei wie seinem Hang zu langen Diskussionen auf die Nerven.
Georg Ludwig Spalding, der zu Jahns Schulzeiten der namhafteste Professor am Gymnasium zum Grauen Kloster war, machte da keine Ausnahme. Er kam aus Pommern, hatte in Göttingen und Halle Theologie und Philologie studiert, war längere Zeit durch Frankreich, England und Holland gezogen und hatte im Hause des Prinzen Ferdinand von Preußen als Hauslehrer gewirkt. Jetzt unterrichtete er die Fächer Griechisch und Hebräisch.
»Warum müssen wir eigentlich Hebräisch lernen, Herr Professor?«, fragte ihn Jahn eines Tages.
Spalding stöhnte auf. »Um zumindest das Alte Testament im Original lesen zu können.«
Jahn ließ nicht locker. »Können wir der Schrift auf Hebräisch etwa etwas anderes entnehmen als auf Deutsch?«
»In Nuancen schon.«
»Und das lohnt die ganze Mühe?« Jahn schüttelte den Kopf. »Wir sollten uns lieber mit der Sprache beschäftigen, in der unsere Vorfahren miteinander gesprochen haben, und Althochdeutsch lernen.«
»Griechisch und Hebräisch gehören zum Kanon eines Bildungsbürgers«, betonte Spalding.
»Wer legt das denn fest?«
»Die geistige Elite eines Landes.«
»Und zu der gehört auch Ihr?«
Spalding war am Ende seiner Kräfte. »Das haben andere zu entscheiden. Und Ihr, Jahn, verbringt den Rest der Stunde auf dem Flur, damit ich meinen Unterricht ordentlich abhalten kann.«
Jahns Feinde in der Unterprima freuten sich stets, wenn der Besserwisser der Klasse verwiesen wurde. Reinhold von Angereck, an sich ein Muttersöhnchen, fragte einmal, ob der Begriff Dummerjan auf seinen Klassenkameraden, den dummen Jahn, zurückzuführen sei. Jahn hatte das gehört und rächte sich, indem er dem Mitschüler unbemerkt glühende Kohlen in den Pelzmuff steckte. Als Angereck sich nur wenig später die klammen Finger in seinem Muff wärmen wollte, stieß er einen tierischen Schrei aus.
Ein anderer Mitschüler, mit dem Jahn ständig in Fehde lag, war Robert Lankkord, Spross einer angesehenen Kunstgießerfamilie. Der hatte bis zu Jahns Auftauchen das Sagen gehabt, sah sich nun in seiner Rolle als Anführer gefährdet und hetzte gegen den Neuen, wo immer es ging. »Die Urmenschen sind zurück!«, tönte er auf dem Schulhof. »Friedrich Ludwig Jahn ist da!« Oder er fragte die anderen: »Was ist der Unterschied zwischen Jahn und Janus? Janus hat zwei Gesichter, Jahn gar keins, der hat nur ’ne Visage.« Das französische Wort für Gesicht war bei den Berlinern seit der Einwanderung der Hugenotten langsam zu einem Synonym für dumme Fresse geworden. »Beim Jahn merkt man schon am Geruch, dass er frisch aus’m Stall kommt«, wiederholte Lankkord des Öfteren. Auch regte er einen Schüler der unteren Klassen, der für seine künstlerische Begabung bekannt war, dazu an, Jahn als Gorilla zu zeichnen. Dessen Name war Karl Friedrich Schinkel. Jahn verzichtete darauf, ihn zu verprügeln, denn an Jüngeren und Schwächeren vergriff er sich nicht. Aber Robert Lankkord sollte nicht ungeschoren davonkommen.
Jahn dachte lange darüber nach, womit er ihn treffen konnte. Mehrere Tage lang wartete er vergeblich auf einen Einfall. Die Streiche, die er in Salzwedel ausgeheckt hatte, ließen sich in Berlin nicht ohne weiteres wiederholen. Was ihn schließlich weiterbrachte, war eine gewisse Unpässlichkeit seines Quartiersgebers, des Königlichen Akzisebeamten Karl Friedrich Klotz. Den hatte er schon seit Tagen mit einem verkniffenen Gesicht herumlaufen sehen. »Was ist Euch eigentlich widerfahren?«, fragte er schließlich.
»Eine Obstipation.«
»Habt Ihr verdorbenes Obst gegessen – jetzt, im Winter?«
Klotz quälte sich ein Lächeln ab. »Eine Obstipation ist eine ganz gewöhnliche Verstopfung. Ich gehe heute noch zum Arzt und hole mir ein Pülverchen.«
Das Mittel war von einer solch durchschlagenden Wirkung, dass er es kaum auf den im Hof gelegenen Abort schaffte. Es war auch noch die Hälfte davon übrig. Diesen beträchtlichen Rest des Abführmittels konnte sich Jahn ohne große Mühe verschaffen. Jetzt musste er nur noch auf eine günstige Gelegenheit warten, um es Robert Lankkord unbemerkt ins Essen zu schütten. Als ein Teil der Unterprima, unter ihnen Jahn als Pfarrerssohn und Lankkord als Klassenprimus, zum Berliner Hofprediger und Oberkonsistorialrath Friedrich Samuel Gottfried Sack eingeladen wurde, war es so weit. Bei einer einfachen, aber liebevoll zubereiteten Mahlzeit sollte über den Schulalltag, die Zukunftspläne jedes Einzelnen und ganz allgemein über Gott und die Welt geplaudert werden.
»Ob der alte Sack auch zu Tisch gebeten wird?«, hatte Jahn gefragt, und Spalding hatte ein böses Gesicht gemacht, ihn aber für diese Worte nicht bestrafen können, denn auch Sacks Vater war Hofprediger gewesen.
»August Friedrich Wilhelm Sack ist bereits 1786 vom Herrn in die Ewigkeit heimgeholt worden.«
Als Entree wurde eine Bärlauchsuppe aufgetragen. Die duftete so verführerisch, dass die Jungen kaum das Ende des Tischgebets abwarten konnten, um zum Löffel zu greifen. Doch kaum hatten sie ihn zum Munde geführt, drangen von der Straße her Hochrufe ins Zimmer.
»Der König kommt vorüber!«, rief Sack, und alles eilte ans Fenster.
Da war der Moment gekommen, in dem Jahn seinem verhassten Mitschüler unbemerkt das Abführmittel ins Essen schütten konnte. Schnell verrührte er es. Als Lankkord seine Bärlauchsuppe ausgelöffelt hatte, verspürte er ein heftiges Bauchgrimmen und schaffte es, auch wegen der fremden Umgebung, nicht mehr bis auf den Abort. Obwohl ihm die Dienstboten bei der Säuberung seiner Hose behilflich waren, ließ sich eine gewisse olfaktorische Nachwirkung nicht ganz vermeiden.
»Riechst du nun eher nach Kuh- oder eher nach Schweinestall?«, fragte ihn Jahn. Er war auf diesen Streich sehr stolz und erzählte gleich am darauffolgenden Tag seinem Freund Philipp Pulvermacher davon, der mit seinem Vater nach Berlin gekommen war, um den siebzigsten Geburtstag eines nahen Verwandten zu feiern. »Ist das der Geburtstag des reichen Bierbrauers?« Jahn hatte schon ein paar Mal von dem Mann gehört.
»Ja, Onkel Joachim Friedrich feiert, der ältere Bruder meines Vaters. Die beiden sind sich nicht besonders grün, mich aber hat er in sein Herz geschlossen.«
Die beiden Freunde redeten nun über ihren Schulalltag.
»Hast du mit den Lehrern hier in Berlin weniger Zank als mit denen in Salzwedel?«, wollte Philipp Pulvermacher wissen.
»Eigentlich nicht«, musste Jahn gestehen.
Wenig später gelang es ihm sogar, auch Franz Steinhauser zu verärgern, der bislang immer auf seiner Seite gestanden hatte.
»Wir schreiben das Jahr 1795 seit Christi Geburt«, begann Steinhauser, als es um das Thema eines Aufsatzes ging, der an diesem Vormittag zu schreiben war. »Bis heute hat es auf der Welt schon viele große Männer gegeben.«
»Die Frauen nicht zu vergessen!«, rief Jahn dazwischen. »Zum Beispiel Maria, die Mutter unseres Herrn Jesus Christus. Oder die Königin Dido, die Karthago gegründet hat. Kleopatra, Hildegard von Bingen, Katharina die Große … «
Steinhauser blieb ruhig. »Danke für die Belehrung, Jahn! Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob das Euren Mitschülern bei der Wahl ihres Vorbildes hilft. Das Thema unseres Aufsatzes lautet: Welcher große Mann wärt Ihr gern gewesen? Mit Begründung!«
Das löste schallendes Gelächter aus, und Jahn war blamiert. Er überlegte, ob er nicht Maria Theresia nehmen und schreiben solle, er habe in geheimen Unterlagen gelesen, dass sie eigentlich ein Mann gewesen sei, ließ es dann aber, weil er Steinhauser eigentlich gern hatte. Als er auf die Konzeptblätter der anderen sah, konnte er die Namen des Philosophen Sokrates, des Feldherrn Miltiades und des Königs Friedrich des Großen lesen. Aber das gefiel ihm alles nicht. Ich bin ich, dachte er, das reicht vollkommen. Ich will mir nicht vorstellen, ein anderer zu sein. Und so schrieb er statt eines langen Aufsatzes mit vollständiger Gliederung nur einen Satz auf sein Blatt: Ich kann und will diese Wahl nicht treffen, weil darin ein moralischer Selbstmord liegt.
Franz Steinhauser musste den ganzen Abend darüber nachdenken, was Jahn wohl damit gemeint hatte. Wenn jemand von Selbstmord sprach, schreckte er ein jedes Mal auf, zu deutlich stand ihm Goethes Werther vor Augen. Friedrich Ludwig Jahn war zwar seines Wissens nicht unsterblich in eine Frau verliebt, aber auch er war ein Rebell und Freigeist. Jahn hätte gut in Schillers Räuber gepasst, als Freund von Karl Moor.
Am darauffolgenden Sonntagmorgen, dem 2. April 1795, hatte Steinhauser diese Angelegenheit wieder vergessen, denn die Vorbereitungen auf seinen Unterricht nahmen ihn voll und ganz in Anspruch. Sie fiel ihm erst wieder ein, als er die Unterprima betrat und Jahn nicht entdecken konnte, weder auf seinem angestammten Platz noch anderswo im Klassenzimmer.
»Hat jemand Jahn gesehen?«
»Nein.«
»Wahrscheinlich ist er erkrankt.«
Steinhauser war nicht beunruhigt, als Jahn aber auch am nächsten Tag nicht im Gymnasium erschien, ging der Lehrer doch zum Rektor, um ihn von der Abwesenheit des Schülers in Kenntnis zu setzen.
Gedike war gar nicht wohl, als er das hörte. Hatte Jahn sich wirklich das Leben genommen, geriet der gute Ruf seiner Anstalt schnell in Gefahr. Und wie sollte er Jahns Vater beibringen, dass sein Sohn freiwillig aus dem Leben geschieden war? Aber noch war nichts bewiesen. »Forscht sofort bei seinen Wirtsleuten nach!«
Nach Schulschluss machte sich Steinhauser also auf den Weg zur Stallschreibergasse. Dort angekommen, schienen sich seine schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen.
»Friedrich Ludwig hat am Sonntagmorgen das Haus verlassen und ist seitdem nicht wiederaufgetaucht. Wir dachten, dass er in der Schule übernachtet hat oder vielleicht nach Lanz zurückgegangen ist.«
Man schickte mit der schnellsten Post einen Brief nach Lanz, aber aus der Prignitz kam die Antwort, dass Friedrich Ludwig dort nicht eingetroffen sei.
»Los!«, entschied Gedike, als er das hörte. »Man sage dem Criminal-Commissarius Bescheid und lasse Jahn suchen!«
Die Polizei fand nach längerer Suche Jahns Kleidungsstücke an der hölzernen Brücke über dem Floßgraben, die beim Volke Leichenbrücke hieß, weil viele Leichenwagen sie auf ihrem Weg zu den Friedhöfen außerhalb der Stadtmauern überquerten.
»Wahrscheinlich konnte er das Schwimmen wieder einmal nicht lassen«, vermutete einer der Lehrer. »Er wird dabei ertrunken sein. Es ist auch noch viel zu kalt dazu.«
»Ich befürchte eher, dass er sich ein Beispiel an Werther genommen hat«, sagte Steinhauser.
»Ach was!«, ließ sich der Hebräisch- und Griechischlehrer Spalding vernehmen. »Der Kerl führt uns doch alle hinters Licht! Der hat den Freitod nur vorgetäuscht, damit endlich einmal alle von ihm reden.«
Gedike wusste nicht, wem er recht geben sollte, denn alle Meinungen klangen plausibel. Erst am 8. Mai 1795, mehr als fünf Wochen nach Jahns Verschwinden, ließ er eine Anzeige in das Neue Berliner Intelligenzblatt setzen, in der er die Bevölkerung ersuchte, von dem etwaigen Auffinden des Leichnams ihm Anzeige zu machen. Gleichzeitig aber bat er Jahn, solle er noch am Leben sein, sich bei ihm zu melden. Er habe mit keinerlei Nachteilen zu rechnen.
Friedrich Ludwig Jahn wanderte zu dieser Zeit durch die Mark Brandenburg. Zwar lief er westwärts, doch sein Ziel hieß keineswegs Lanz. Er wusste, dass seine Eltern sich um ihn sorgen würden, und es tat ihm leid, dass er ihnen solchen Kummer bereiten musste, aber er dachte immer nur im Sinne Martin Luthers: Hier gehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen! Er versuchte sein Handeln auch damit zu rechtfertigten, dass sein Vater ihn zum Besuch der Gymnasien in Salzwedel und Berlin gezwungen habe. Was hasste er diese Schulkasernen! Dort durfte er nicht selbst denken und sich nicht aussuchen, was er lernen wollte. Stattdessen bekam er wie mit einem Trichter den Stoff in den Kopf gefüllt, den sich die Herren Lehrer willkürlich ausgesucht hatten. Aber jetzt war er endlich frei! Und wenn er auch nicht viel Griechisch gelernt hatte, so wusste er doch, was ἀναρχία, mit lateinischen Buchstaben anarchia geschrieben, bedeutete: die Herrschaftslosigkeit. Jahn fühlte sich schon im Jahre 1795 als Aufrührer, was er aber streng genommen gar nicht war, da er das Königreich Preußen und den Staat als solchen nicht in Frage stellte.
Ganz auf sich gestellt konnte er in den Monaten April und Mai nicht überleben, denn auf den Feldern gab es noch nichts zu ernten und an den Bäumen und Sträuchern kein Obst zu pflücken. Auch besaß Jahn weder Gewehr noch Pfeil und Bogen, um ein essbares Tier zu erlegen. Also musste er sich immer wieder bei Bauern verdingen und im Stall und auf den Feldern helfen. Fragte man ihn nach dem Grund seiner Reise, dann gab er an, als Scholar unterwegs zu sein, als fahrender Student, und nannte stets einen anderen Namen, weil er annehmen musste, dass die Obrigkeit nach ihm fahndete. Nur einmal geriet er in eine brenzlige Situation, als er bei Tangermünde über die Elbe setzte und den Schiffer notgedrungen um das Fährgeld prellen musste. Er hatte nicht einmal die kleinste Münze in der Tasche, und durch den Strom zu schwimmen, wagte er nicht, denn dazu war das Wasser zu kalt. Er hatte mit der Elbe schon einmal schlechte Erfahrungen machen müssen.
Eigentlich hätte er in diesen Wochen als freier Mann viel glücklicher sein müssen als zuvor am Gymnasium. Doch Jahn hatte schnell erkannt, dass ihn seine Wanderschaft vom Regen in die Traufe geführt hatte. Arm und einsam durch die Lande zu ziehen war nun auch nicht das wahre Leben. Jahn träumte davon, nach Amerika auszuwandern. Über die Pilgerväter hatte er viel gelesen, ebenso über den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, der 1775 seinen Anfang genommen hatte. Die dreizehn Kolonien von Massachusetts im Norden bis hinunter nach Georgia kannte er alle beim Namen, und er war davon überzeugt, dass sich die Vereinigten Staaten im nächsten Jahrhundert immer weiter ausdehnen würden, bis sie am Pazifik angekommen waren. Dort gab es weites Land, wo man frei leben konnte. In Amerika würde er Tiere in den Wäldern erlegen und Fische in Flüssen und Seen fangen. Aber Preußen war sein Vaterland und das Deutsche seine Muttersprache. Beides aufzugeben erschien ihm noch schlimmer als Fahnenflucht. Also würde er wohl hier bleiben, auch wenn er sich weiterhin nach Amerika sehnte. Angesichts dieser Zerrissenheit suchte er bisweilen Trost im Gebet, so zum Beispiel in einem Vers des 119. Psalms: Siehe, ich liebe deine Befehle; Herr, erquicke mich nach deiner Gnade.
Eines Tages kam er – war es nun Zufall oder Gottes Wille – nach Hindenburg, einem kleinen Ort am Südrand der altmärkischen Wische. Zwanzig Kilometer südlich lag Stendal und sieben Kilometer östlich das Elbufer. Eine Weile musste Jahn darüber nachdenken, wann ihm der Ort Hindenburg schon einmal untergekommen war, dann fiel es ihm ein: Einer seiner Mitschüler aus der Salzwedeler Zeit war hier zu Hause gewesen, Georg Friedrich Roth, damals sein einziger Freund. Kurz entschlossen fragte er nach ihm.
»Roth, so heißt unser Pfarrer«, erteilte man ihm Auskunft.
Und richtig, als er am Pfarrhaus angeklopft hatte, öffnete ihm der alte Klassenkamerad die Tür. Er verbrachte gerade ein paar Ferientage bei seinen Eltern. Sie begrüßten sich freudig. Pfarrer Roth nahm Jahn gern bei sich auf, nachdem der ihm erzählt hatte, dass er auf dem Weg von Berlin nach Göttingen sei, um sich dort an der Universität einzuschreiben. »Früher wollte ich Advokat werden, aber nun möchte ich Theologie studieren, um das Erbe der Väter zu bewahren. Ich habe das Gelübde abgelegt, den ganzen Weg zu Fuß zurückzulegen, um Buße zu tun für alle meine Sünden.«
»Das ist sehr löblich, mein Sohn! Du kannst gern ein paar Tage bei uns bleiben, um neue Kraft zu schöpfen.«
Aus den wenigen Tagen wurden indes etliche Monate, denn kaum hatte sich Jahn in der ihm zugewiesenen Dachkammer häuslich eingerichtet, befiel ihn eine merkwürdige Krankheit. Zuerst fühlte er sich unsagbar matt und litt unter Kopfschmerzen und Verstopfung, dann begann sein Fieber in Stufen zu steigen, wobei sein Herz so langsam schlug, dass er fürchtete, es bleibe stehen. Auf der Haut begann sich rötlicher und in Flecken auftretender Ausschlag zu zeigen, und seine Zunge war auffallend grauweißlich belegt, nur die Spitze leuchtete rot. Das alles hätte den Pfarrer Roth und seine Frau nicht so sehr geängstigt, hielten sie die Symptome doch für die Anzeichen einer heftigen Influenza, wenn Jahn nicht plötzlich begonnen hätte zu phantasieren. »Der Wal kommt … die Elbe herauf … Ich nehme meine Lanze, denn ich komme aus Lanz … Ich bin ein Landsmann. Wehe denen, die Böses gut und Gutes böse heißen … Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm!«