Kitabı oku: «Turnvater Jahn», sayfa 5
»O Gott!«, rief Pfarrer Roth entsetzt. »Er hat das Nervenfieber. Georg Friedrich, wir müssen sofort anspannen und nach Salzwedel fahren, den Arzt holen.«
Der Mediciner hatte bald eine Diagnose gestellt. »Es ist Typhus.«
»Was hilft dagegen?«, fragte die Pfarrersfrau.
»Nur noch beten.«
Da traf es sich gut, dass Jahn in ein Pfarrhaus geraten war. Langsam schien er die Krankheit zu besiegen.
Als es ihm schon wieder etwas besserging, stand eines Tages sein alter Freund Philipp Pulvermacher an seinem Bett. »In Salzwedel erzählt man sich, dass du hier in Hindenburg gestrandet bist. Du machst Sachen! Erzähl mal, wie es dir in der letzter Zeit ergangen ist!«
Pulvermacher setzte sich und hörte zu, ohne Jahn zu unterbrechen. Erst wenn der Freund am Ende angekommen war, wollte er seine Fragen stellen.
» … und nun liege ich hier und bin dem Tod gerade noch von der Schippe gesprungen.«
»Was ein Beweis dafür sein dürfte, dass der Herr noch Großes mit dir vorhat«, sagte Pulvermacher, ohne selbst zu wissen, ob das ironisch oder ernst gemeint war. »Aber ich denke, er wird sein Antlitz nur über dir leuchten lassen, wenn du gleich nach deiner Genesung zu deinen Eltern gehst, die sich ganz sicher furchtbar grämen. Hast du ihnen nach deinem vorgetäuschten Selbstmord einmal geschrieben?«
Statt zu antworten, brach Jahn in Tränen aus.
In Lanz wie im nahen Lenzen sprachen alle, welche die Geschichte des vermeintlichen Freitods kannten, von den »leidgeprüften Eltern«, wenn sie von Alexander Friedrich Jahn und seiner Frau Dorothea Sophie redeten. Die waren zwar glücklich, dass ihr Sohn noch lebte und nach Hause zurückkehrt war, aber auch voller Verzweiflung darüber, dass er sein Leben offenbar schon verspielt hatte.
Die Mutter hatte die Hände gerungen und ausgerufen: »Was soll nur aus ihm werden?«
Der Vater hatte Friedrich Ludwig schweigend begrüßt, kein zorniges Wort war von ihm zu hören gewesen. Dazu glaubte er als Pfarrer zu sehr an den Willen Gottes. Auch hatte er gefühlt, dass den Sohn ein unbegreiflicher Optimismus erfüllte. Stand dahinter wirklich nur der unerschütterliche Glaube an sich selbst? In einer ruhigen Stunde fragte er ihn.
»Nun«, antwortete Friedrich Ludwig Jahn nach einer Weile des Nachdenkens, »hier zu Lande glauben alle, lieber Vater, dass die Geschichte stillsteht, aber das tut sie nicht. Denkt an die Revolution in Frankreich vor sieben Jahren! Ihre Wellen haben Preußen zwar noch nicht erreicht, aber sie werden sich nicht aufhalten lassen, ganz bestimmt nicht.«
»Das sagst du, Friedrich Ludwig, obwohl du die Franzosen nicht magst?«
»Gleichviel, die Flut wird irgendwann über Europa hereinbrechen und alles umstürzen. Es wird große Zeiten geben, in denen die Stunde für Männer wie mich gekommen ist.«
Alexander Friedrich Jahn war beeindruckt von so viel Zuversicht und innerem Feuer, konnte aber die Frage nicht zurückhalten, was der Sohn bis dahin zu unternehmen gedenke.
»Ich studiere natürlich Theologie!«, sagte der ohne Zögern.
»Wie willst du das anstellen, ohne das Gymnasium abgeschlossen zu haben?«
»Ach, in Halle werden sie das gar nicht merken. An vielen Universitäten muss man nicht einmal unbedingt eine Maturitätsprüfung vorweisen.«
4
Jahn, das Alphatier
1796 – 1802
Die Idee, in Halle eine Universität zu gründen, stammte vom brandenburgischen Kurfürsten Friedrich III., dem späteren ersten König in Preußen. Zur Einweihung der Alma Mater Halensis am 1. Juli 1694 war sogar Kaiser Leopold I. aus Wien an die Saale geeilt. Der Philosoph Christian Wolff und der Rechtsgelehrte Christian Thomasius verliehen ihr ersten wissenschaftlichen Glanz. Durch Thomasius wurde Halle sogar zu einem Ausgangspunkt der deutschen Aufklärung.
Friedrich Ludwig Jahn traf am 27. April 1796, einem Mittwoch, in Halle ein und eilte zwei Tage später in die Ratswaage am Marktplatz, das Hauptgebäude der Universität, um sich zu immatrikulieren. An seiner Seite lief Philipp Pulvermacher, der ebenfalls in Halle studieren wollte.
»Ich bin gespannt, ob sie merken werden, dass ich ein wenig schummle«, sagte Jahn.
»Wenn du Glück hast, wollen sie gar nichts merken, denn die Universitäten kämpfen hart um jeden neuen Studenten. Ich hoffe, im Immatrikulationsbureau sitzt kein Korinthenkacker, der unbedingt dein Abiturzeugnis sehen will.«
Pulvermacher hatte in Salzwedel die gymnasiale Reifeprüfung ohne Not bestanden. Um den Beamten, der ziemlich humorlos dreinschaute, ein wenig einzulullen, trat er als Erster vor, um sich einschreiben zu lassen.
»Wonach gelüstet es Ihn?«
Pulvermacher musste nicht lange überlegen. »Nach Geschichte und Philosophie.«
»Das ist doch brotlose Kunst! Möchtet Ihr Euch nicht doch lieber der Medicin oder der Juristerei zuwenden?«
»Nein.«
»Wie Ihr wünscht. Matrikelnumero 255. Der Nächste!«
Jahn machte sich möglichst klein, um den vierschrötigen Beamten nicht herauszufordern. Auch gab er sich alle Mühe, devot zu klingen.
»Name?«
»Friedrich Ludwig Jahn aus Lanz in der Prignitz. Geboren am 11. August 1778.«
»Nicht so schnell!«, schnauzte der Beamte ihn an. »Da kann doch kein Mensch mitkommen. Noch einmal, aber langsam!«
Das fing ja gut an! Jahn wiederholte das Gesagte Wort für Wort und fügte hinzu, dass sein Vater Pfarrer sei. »Wie auch mein Großvater und mein Urgroßvater.«
»Wie schrecklich! Sicherlich will auch Er Theologie studieren?«
»Ja.«
»Noch ein Pfaffe mehr! Welches Gymnasium?«
»Das in Salzwedel und das zum Grauen Kloster in Berlin.«
»Eine gute Anstalt, das Berlinische Gymnasium. Das Reifezeugnis?«
Jahn tat erschrocken. »Oje, das habe ich in meiner Kammer liegenlassen.«
Der Beamte machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das ist eine dumme Ausrede! Also schreibe ich: Examinandus. Die Prüfung müsst Ihr nachholen! Matrikelnummer 256. Der Nächste!« Der Beamte gab sich strenger, als die Regeln es verlangten. Eigentlich nahm man es an den Universitäten mit der nachzuholenden Prüfung nicht so genau.
Jahn konnte aufatmen. Die erste Hürde war genommen. Bald darauf überwand er auch die zweite: Er fand eine einigermaßen bezahlbare Unterkunft. Sein neues Quartier lag glücklicherweise nur ein paar Meter von dem seines Freundes Philipp Pulvermacher entfernt. Wenn man auch von der neuen Adresse nicht sagen konnte, dass sie ungemein schmückte. Sie lautete: Kuhgasse 3.
»Vom Kuhdorf in die Kuhgasse, das passt doch wunderbar.« Pulvermacher hatte es leicht zu lästern. »Wenigstens ist es bis zur Universität nur ein Kuh- … äh, Katzensprung.«
Die ersten Vorlesungen waren eine große Enttäuschung für Friedrich Ludwig Jahn. Dabei war er, als er die Namen seiner Professoren gelesen hatte, noch von Ehrfurcht erfüllt gewesen. Der Theologe und Pädagoge August Hermann Niemeyer zum Beispiel war ein über Halle hinaus bekannter Mann, dessen Schriften überall geschätzt wurden. Außerdem war er der Urenkel von August Hermann Francke, dem Begründer der Franckeschen Stiftungen, die sich als pietistisches Sozial- und Bildungswerk verstanden. Ein anderer Professor, der Theologe Georg Christian Knapp, gehörte zu den bekannten Vertretern des Hallischen Pietismus. Über die Glaubensrichtung des Pietismus konnte er sich dann auch stundenlang auslassen. »In Deutschland hat der Theologe Philipp Jacob Spener den Pietismus maßgeblich geprägt. Sein Hauptwerk Pia Desideria datiert auf das Jahr 1675. Ein Leipziger Kollege hat einmal in einem Sonett das festgehalten, was ich die Seele des Pietismus nennen möchte«, erklärte Knapp.
Es ist jetzt stadtbekannt der Nam’ der Pietisten.
Was ist ein Pietist? Der Gottes Wort studiert
Und nach demselben auch ein heilig Leben führt.
Das ist ja wohl getan, ja wohl von jedem Christen.
»Das ist mir zu unpräzise«, bemerkte Pulvermacher, der sich oft mit zu Jahn in die Vorlesungen setzte. Neben ihm zischte man schon wegen der schier unerträglichen Langeweile und stieß leise Verwünschungen aus.
Knapp nahm nicht wahr, was vor ihm in den Reihen ablief, und fuhr ungerührt fort. »Der Pietismus ist entstanden, weil viele den Eindruck hatten, dass sich die Menschen nur noch unzureichend an eine christliche und fromme Lebensführung hielten. Sie wollten ihren persönlichen Weg zu Gott finden … «
So ging es über Wochen hinweg, bis Knapp am Ende des Semesters endlich beim Hallischen Pietismus angekommen war. »Ein Mann ragt glänzend hervor: August Hermann Francke, der von 1663 bis 1727 lebte und ein Schüler besagten Philipp Jacob Speners war. August Hermann Francke wurde nicht nur zum Professor für Griechisch und orientalische Sprachen an die neugegründete Universität Halle berufen, sondern gleichzeitig auch zum Pfarrer des Vorortes Glaucha. Er hat das Waisenhaus hier in Halle gegründet, aus dem umfangreiche pädagogische und wissenschaftliche Anstalten hervorgegangen sind. Lassen Sie mich nun auf seine Auseinandersetzungen mit Christian Thomasius und Christian Wolff eingehen.«
»Ich gehe auch gleich ein«, stöhnte Jahn.
Bei August Hermann Niemeyer langweilte er sich nicht minder. Das lag weniger am Professor selbst als vielmehr daran, dass Jahn mit seinen achtzehn Jahren schon umfassende theologische Kenntnisse aufzuweisen hatte.
Niemeyer fing im ersten Semester bei null an und klärte die Studenten darüber auf, dass sie die zehn Gebote in den ersten Bücher Moses fänden. »So heißt es etwa im 2. Buch, Exodus genannt, im 20. Kapitel, Vers 2: Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.«
»Doch«, murmelte Jahn. »Meine Göttin ist das Vaterland«
»Es lebe die Borussia!«, war Pulvermachers Kommentar dazu. Borussia war der latinisierte Name Preußens, die weibliche Gestalt der Borussia symbolisierte den preußischen Staat.
Das Studium in Halle bereitete Jahn kaum Freude. Zudem war er der Naturbursche geblieben, der lieber durch Felder, Wälder und Wiesen wanderte als durch Straßen und Gassen. Dabei war die Große Märkerstraße in Halle, in welche die Kuhgasse mündete, gar nicht einmal so übel. Oft spazierte Jahn mit dem Freund hier entlang.
Philipp Pulvermacher wohnte bei einem Buchhändler, der heimatkundliche Forschungen betrieb und den beiden Studiosi gern erklärte, welche Berühmtheiten bereits in der Stadt gewohnt hatten.
»Im Haus Numero 2 hat kein Geringerer als Georg Friedrich Händel das Oboespielen erlernt.«
Pulvermacher stieß Jahn den Ellenbogen in die Seite. »Ich hoffe, du suchst in Halle keine Händel.«
»Warum nicht? Wenn’s mir Spaß macht … «
»Im Haus Numero 5 hat Professor Justus Henning Boehmer gewohnt.«
Pulvermacher lachte. »Der ist mir allerdings ein Boehmer’sches Dorf.«
»Boehmer war ein hochgeehrter und sehr gebildeter Kirchenrechtsgelehrter, der unter anderem Kirchenlieder geschrieben hat.«
Jahn konnte sich nun auch wieder daran erinnern, dass sein Vater einmal von Boehmer gesprochen hatte.
»Das Haus mit der Numero 6 wird auch das Weymar’sche Haus genannt«, fuhr ihr Cicerone fort.
»Ah!«, rief Jahn. »Der Hof von Sachsen-Weimar-Eisenach hat hier wohl sein Domizil gehabt.«
»Nein. Weymar – mit Y in der Mitte – war ein Leinenwebermeister, den man gewisslich nicht als berühmte Person bezeichnen kann. Aber ein anderer bedeutender Mann hat hier einst Quartier genommen: der Mediciner Georg Laurea aus Breslau, der als Leibarzt bei drei brandenburgischen Kurfürsten in Diensten stand.«
Zur Numero 7 war nichts zu sagen, erst wieder zu dem Haus mit der Numero 8. »Hier hat der Rechtswissenschaftler Johann Gerhard Schlitte gewohnt.«
»Ach, was haben die Studenten bei Schlitten damals gelitten!«, reimte Pulvermacher.
»Das kann sein. Jedenfalls befinden sich hier eine Speiseanstalt mit Gasthaus, die insbesondere von Studenten frequentiert wird, und der Sitz der Freimaurerloge ›Philadelphia zu den drei goldenen Armen‹. Nebenan, die Numero 10, ist das Christian-Wolff-Haus.«
Ehrfurchtsvoll schwiegen Jahn und Pulvermacher, denn Wolff, der am 9. April 1754 in Halle verstorben war, galt als großer Universalgelehrter und einer der wichtigsten Philosophen der Aufklärung.
Da Jahn bekanntermaßen nicht frei war von einer gewissen Ruhmessucht, stellte er sich vor, wie in hundert Jahren bei einer Stadtführung durch Halle auch sein Name genannt wurde: »Hier hat der große Friedrich Ludwig Jahn im Jahre 1796 gelebt.«
Interessant für die beiden Studenten war auch das Haus mit der Numero 11. Nicht wegen der Geistesgrößen, die hier gewohnt haben mochten, sondern wegen des Gasthofs »Zum goldenen Stern«. Hier sollten sie viele Stunden verbringen.
Als sie fast am Ende der Großen Märkerstraße angekommen waren, eröffnete ihnen ihr Stadtführer, dass sie nun eine Straße mit dem Namen Großer Berlin queren würden.
»Hört mir auf mit Berlin!«, bat Jahn.
»Wieso denn?«, widersprach ihm Pulvermacher. »Berlin ist der Nabel Preußens. Wer reüssieren will, kommt niemals um Berlin herum.«
»Für Berlin fehlt mir das Geld«, sagte Jahn. Geldmangel war in der Tat sein großes Problem, denn die Unterstützung vom Vater reichte nicht aus, um auf Dauer in Halle zu leben.
»Es hat alles keinen Sinn«, sagte Jahn eines Tages zu Philipp Pulvermacher. »Ich schnüre jetzt mein Ränzel und ziehe wieder hinaus in die Welt. Jedermanns Gänge kommen vom Herrn. Welcher Mensch versteht seinen Weg?«
»Ich an deiner Stelle würde lieber versuchen, hier in Halle ein wenig Geld zu verdienen«, riet ihm der Freund.
Die Franckeschen Stiftungen zu Halle – anfangs hießen sie Glauchasche Anstalten – waren 1698 von dem Theologen und Pädagogen August Hermann Francke ins Leben gerufen worden. Francke, 1663 in Lübeck zur Welt gekommen, gründete eine Armenschule, um die Not von Kindern aus den unteren Bevölkerungsschichten zu lindern. Die Einrichtung genoss bald einen so guten Ruf, dass etliche Glauchaer Bürger ihre Kinder gegen eine geringe Schulgebühr in den Unterricht gaben. 1695 richtete Francke schließlich das Pädagogium als »Erziehungs- und Bildungsanstalt für Kinder aus dem Adel und dem reichen Bürgertum« ein. Zwei Jahre später kam eine Lateinschule hinzu, die Bürgerssöhne auf das Studium vorbereitete. Um die Kosten niedrig zu halten, ließ man Studenten unterrichten, die dafür freies Quartier, freies Holz und 16 Groschen Lohn erhielten.
Dass Latein Spaß machen konnte, war eine völlig neue Erfahrung für die Schüler im Hauptgebäude der Franckschen Stiftungen. So kamen sie mit Caesars De Bello Gallico auch unerwartet gut voran.
»Friedrich Wilhelm, lest vor, was bei Caesar geschrieben steht, und übersetzt den Satz!«
»Gallos ab Aquitanis Garumna flumen, a Belgis Matrona et Sequana dividit. Also … flumen, fluminis bedeutet der Fluss. Und dividere, divido, divisi, divisum heißt teilen. Dann muss es heißen: Der Fluss Garonne trennt die Gallier von den Aquitanern, die Marne und die Seine trennen die Gallier von den Belgiern.«
»Sehr schön! Louis Ferdinand, macht Ihr weiter!«
»Horum omnium fortissimi sunt Belgae, propterea quod a cultu atque humanitate provinciae longissime absunt, minimeque ad eos mercatores saepe commeant atque ea quae ad effeminandos animos pertinent important, proximique sunt Germanis, qui trans Rhenum incolunt, quibuscum continenter bellum gerunt.«
Das war schon schwerer ins Deutsche zu übertragen, aber schließlich kam mit Hilfe der ganzen Klasse doch eine brauchbare Übersetzung zustande: »Die Tapfersten all dieser sind die Belgier, und zwar deswegen, weil sie von der Lebensweise und Bildung der römischen Provinz am weitesten entfernt sind, sehr selten Kaufleute zu ihnen kommen und das einführen, was zur Verweichlichung der Gemüter führt, und weil sie den Germanen, die jenseits des Rheines leben und mit denen sie ständig Krieg führen, sehr nahe sind.«
Friedrich Ludwig Jahn, einer der für den Unterricht eingesetzten Studenten, nutzte diese Passage, um den Schülern nahezubringen, was ihm am Herzen lag. »Ich sehe in dieser Passage viele Parallelen zur gegenwärtigen Zeit. Die Deutschen sind verweichlicht. Unsere germanischen Vorfahren würden sich im Grabe umdrehen, wenn sie den Zustand ihrer Nachkommen sehen könnten. Wer kennt heute außerdem seine deutsche Heimat noch so richtig? Es kann doch keiner mehr als eine Meile zu Fuß zurücklegen, ohne gleich zusammenzubrechen. Nicht einmal über ihre nähere Umgebung wissen die Menschen Bescheid. Friedrich Wilhelm, welche Dörfer gibt es im Umkreis von Halle?«
»Ähm … «
»Ähm ist meiner Ansicht nach kein Dorf.«
Andere Schüler brachten nun ein paar Orte zusammen, doch damit gab sich Jahn nicht zufrieden. »Wer von Euch war schon einmal in Lieskau? Niemand. Nun, Eure Geographielehrer unternehmen mit Euch ganz offensichtlich nur Landkartenreisen. Es kommt aber darauf an, sich die Welt zu erwandern, sich alles mit eigenen Augen anzusehen und vor Ort alles selbst zu riechen und zu hören. Am nächsten Sonnabend spazieren wir durch die Dölauer Heide nach Lieskau und am Wochenende danach die Saale flussaufwärts nach Röpzig!«
Diese Ankündigung wurde mit Jubel aufgenommen, und Jahn genoss es, zum ersten Mal in seinem Leben andere Menschen in seinen Bann geschlagen zu haben. Seine Statur war imposant, seine Kleidung hingegen glich der eines Bettlers. Der Freund Philipp Pulvermacher beschrieb Jahn in einem Brief an seinen Onkel in Berlin recht treffend wie folgt:
Er ist von hoher, das gewöhnliche Maß überschreitender muskulöser Gestalt, Meister in den Leibeskünsten, begabt mit kräftigen Armen und derben Fäusten, auf die er sich verlassen kann und die zu gebrauchen er auch sofort bereit ist. Was sein Äußeres betrifft, so ist das ebenso vernachlässigt wie beim Alten Fritz, sein Leibrock ist meist staubig und zerrissen. Er ist ein in hohem Grade unruhiger Geist, der mehrmals in der Woche und oft einige Tage hintereinander durch die Gegend streift, einem hungrigen Wolf vergleichbar, wobei es bei ihm der pure Lebenshunger ist. Mir fehlen zumeist Zeit und Kraft, ihm zur Seite zu sein.
Die Wanderschaft ist die Bienenfahrt nach dem Honigtaue des Erdenlebens, hatte Jahn einmal in sein Tagebuch geschrieben. Da hatte er das Studium der Theologie bereits aufgegeben und sich der deutschen Geschichte, Sprache und Literatur zugewandt. Wobei er, wie zu Schulzeiten, keine Kolleghefte führte und sich keinerlei Aufzeichnungen machte. Seine Kommilitonen verspottete er wegen ihrer »Heftereiterei«. Aufgrund seiner Intelligenz und seines außergewöhnlichen Gedächtnisses fiel er trotzdem nicht hinter die anderen zurück, im Gegenteil, den meisten war er überlegen. Auch saß er jetzt bei Professoren im Hörsaal, denen er großen Respekt entgegenbrachte und von denen er eine Menge lernte, so bei Matthias Christian Sprengel, einem Geographen und Historiker, und bei dem Philosophen Johann August Eberhard. Von ganz besonderer Bedeutung für Jahns ferneren Lebensweg aber war der Sprachforscher, Altertumswissenschaftler und Philosoph Friedrich August Wolf. Der vertrat in Halle auch das Fach Eloquenz, von dem Jahn sich ganz besonders angezogen fühlte.
»Wie wichtig die Sprachfertigkeit ist, spiegelt schon der Volksmund wider«, erklärte Wolf. »So heißt es dort zum Beispiel: ›Wer red’t, hat recht‹ oder ›Du kannst einen ja mit deinen Reden besoffen machen‹. Das heißt, wir können mit gekonnter Rhetorik andere Menschen zu einem Verhalten bewegen, das unseren Zielen und Zwecken dienlich ist. Zur Redekunst gehört a priori ein außerordentlich großer Grundwortschatz, der Variationsmöglichkeiten zulässt, abhängig davon, an welche Gruppe von Menschen wir uns wenden. Ohne Sprachfertigkeit werden wir uns in Diskussionen mit anderen, insbesondere mit gebildeten Menschen, nicht durchsetzen können. Heute will ich nun auf die Wichtigkeit von Synonymen eingehen. Synonymie meint, dass zwei Wörter in etwa dieselbe Bedeutung haben, wobei aber auch auf die Konnotationen zu achten ist. Wer kann ein Beispiel nennen?«
Jahn meldete sich. »Die Wörter Ross und Gaul beziehen sich zwar auf dasselbe Tier, das Pferd, haben aber einen anderen Begriffsinhalt. Im ersten Fall sprechen wir von einem edlen Pferd, im zweiten von einem minderwertigen Tier, einem Klepper.«
»Sehr gut.«
Jahn fiel Wolf auch auf, als möglichst viele bedeutungsgleiche Wörter für das Verb denken gefunden werden sollten. Es sprudelte nur so aus Jahn heraus. »Denkarbeit leisten, urteilen, nachdenken, den Verstand gebrauchen, erwägen, abwägen, in Betracht ziehen, bedenken, sich Gedanken machen, seinen Geist anstrengen, Überlegungen anstellen, annehmen, reflektieren, meinen, sich vorstellen, der Ansicht sein, werten, einschätzen, philosophieren, ermessen, erachten, sich vor Augen führen … «
Am meisten glänzte Jahn aber, wenn die Aufgabe lautete, Menschen durch die Kraft von Worten zu begeistern.
»Jahn, Ihr seid Prediger in einer Gemeinde, in der die Gläubigen dazu neigen, Eiferer zu werden, und damit Gefahr laufen, sich und dem Glauben zu schaden. Was schleudert Ihr denen entgegen?«
Jahn überlegte einen Augenblick, dann hatte er einen Einfall. »Ich ziehe das 5. Buch Mose heran, 4. Kapitel, Vers 24: Denn der Herr, dein Gott, ist ein verzehrend Feuer. Wer diesem Feuer zu nahe kommt, der wird sich an ihm verbrennen. Glaube ist gut, Eifern aber ist schlecht. Denkt an die Flagellanten und die Geißler aus dem Mittelalter, die durch die Straßen gezogen sind und sich die nackten Schultern mit Seilen, Peitschen und dornenbesetzten Knüppeln blutig geschlagen haben.«
Auch dieser Beitrag fand Wolfs Wohlwollen. Oft lobte der Professor Jahns Sprachinstinkt. Seine Begeisterung über den Studenten wuchs noch, als er von Jahns ausgedehnten Wanderungen erfuhr. Er selbst wies regelmäßig darauf hin, dass die Formung des Geistes unbedingt durch eine Erziehung des Körpers ergänzt werden müsse. Wo immer es möglich war, förderte er Jahn.
Das Studium füllte Jahn bei weitem nicht aus. Nur dazusitzen und sich mit trockenem Wissen füttern zu lassen war ihm zu passiv. Das Feuer loderte ihn ihm. Bei Shakespeare hieß es: Die ganze Welt ist eine Bühne. Wenn dem so war, dann wollte er die Hauptrolle spielen und als Held alle anderen mitreißen. Er wollte etwas bewirken, das von Dauer war. Er wollte Geschichte schreiben, deutsche Geschichte. Aber wo sollte er anfangen? Welchem Thema sollte er sich widmen? Ein Gespräch mit seinem Freund Philipp Pulvermacher gab ihm den entscheidenden Impuls.
»Kommst du heute Abend mit zum Treffen der Landsmannschaft Preußen?«, fragte der ganz harmlos.
Jahn explodierte förmlich. »Landsmannschaft! Wenn ich das schon höre! Preußen, Sachsen, Schlesier, Bayern, Hessen – alle kochen ihr eigenes Süppchen. Es ist eine Schmach für alle Deutschen, dass wir kein einiges Vaterland haben. Jeder kämpft gegen jeden und neidet dem anderen alles. Das stinkt zum Himmel! Da kann ich nur rufen: Deutschland erwache!«
Pulvermacher blieb gelassen und referierte über den Leviathan von Thomas Hobbes, den sie in einem Seminar gerade durchgesprochen hatten. »Hobbes meint, die Menschen führen einen Krieg aller gegen alle – bellum omnium contra omnes –, in dem der Mensch dem Menschen ein Wolf sei – homo homini lupus. Wettstreit und Ruhmessucht sind für Hobbes die verderblichen Leidenschaften. Die Menschen scheuen … « Pulvermacher warf einen Blick in sein Kollegheft, um genau zitieren zu können. » … keine Gewalt, sich Weib, Kind und Vieh eines anderen zu unterwerfen … das Geraubte zu verteidigen … sich zu rächen für Belanglosigkeiten wie ein Wort, ein Lächeln, einen Widerspruch oder irgendein anderes Zeichen der Geringschätzung. Ständig herrsche also Krieg, ständig müsse man daran denken, sich selbst zu verteidigen. Infolge dieser widrigen Umstände leben die Menschen in ständiger Furcht und der drohenden Gefahr eines gewaltsamen Todes. Ihr Leben sei einsam, armselig, scheußlich, tierisch und kurz. Der Mensch ist nach Hobbes prinzipiell egoistisch und lehnt gesellschaftliche Bindungen ab.«
Über den Zustand der Gesellschaft in Halle konnten sich Jahn und Pulvermacher sehr bald Klarheit verschaffen. Streitigkeiten gab es häufig wegen des sogenannten Breiten Steins. In der Innenstadt waren die Straßen an vielen Stellen mit drei Reihen von Steinen ausgelegt, um sie besser passierbar zu machen. Die Reihe in der Mitte bestand aus breiten Steinen, die Reihen an den Seiten setzten sich aus schmalen Steinen zusammen. Begegneten sich nun zwei Gruppen oder auch nur zwei einzelne Personen, gab es ein jedes Mal einen ritualisierten Hahnenkampf. Wer konnte sich durchsetzen und in der Mitte weitergehen – und wer war unterlegen und musste ausweichen? Die Studenten fühlten sich als Herren der Stadt, und begegneten ihnen einfache Bürger, Handwerker oder Bauern, so zogen die es vor, zur Seite auszuweichen. Taten sie es nicht, wurden sie mit Stöcken oder einer Hetzpeitsche traktiert. Kritisch wurde es, wenn sich zwei Horden von Studenten begegneten, womöglich auch noch angetrunken. Dann gab es blutige Schlägereien.
Als Jahn und Pulvermacher einmal auf eine Gruppe Schlesier trafen, beherzigte der Freund die alte Devise, dass der Klügere nachgebe, und sprang auf den Fahrweg. Jahn aber ging unbeirrt weiter und prallte auf einen gewissen Friedrich Auras, mit dem er vordem schon einmal aneinandergeraten war.
»Zur Seite, du stinkendes brandenburgisches Arschloch!«
»Geh du zur Seite, du schwachsinniger schlesischer Kotzensohn!« Das stand für Hurensohn.
Dann schlugen Jahn und Auras mit Fäusten aufeinander ein und verabredeten sich für den nächsten Tag zum Duell. Das war in Halle so üblich. Manchmal gab es bis zu zehn Duelle am Tag. Übliche Duellwaffen waren Säbel, Pistole und Cannes, an der Spitze mit Blei beschwerte Spazierstöcke.
Philipp Pulvermacher, der als Jahns Sekundant fungierte, beharrte bei seinen Verhandlungen mit dem Vertreter des Schlesiers auf der Pistole, denn er wusste, dass der Freund ein vorzüglicher Schütze war. Doch der andere lehnte ab: »Ich möchte nicht, dass dein Mann tödlich getroffen wird.«
Pulvermacher lachte. »Hinter deiner Sorge steht bestimmt keine Nächstenliebe, sondern die Angst, dass dein Mandant auf dem Kirchhof landet. Sicher hast du schon mitgekriegt, dass mein Freund Friedrich Ludwig Jahn als Schütze unübertroffen ist.«
Sie diskutierten lange. Die bei Duellen benutzten Pistolen waren vergleichsweise harmlos, denn sie hatten keinen gezogenen Lauf, so dass sich damit kaum gezielt treffen ließ. Drangen ihre großkalibrigen Rundkugeln aber wirklich einmal in den Leib eines Duellanten, hatten sie oft tödliche Folgen. Da Pulvermacher aber wie der andere Sekundant schwere Verletzungen oder gar einen letalen Abgang vermeiden wollte, einigten sich beide schließlich auf den Canne.
»Das Duell läuft bis zur ersten blutenden Wunde oder bis zur Kampfunfähigkeit.«
»Abgemacht.«
So schlugen dann der Brandenburger und der Schlesier am Ufer der Saale aufeinander ein, nur am Kopf durch eine Art Helm geschützt.
Jahn hatte als Junge nicht nur oft zugesehen, wie die Soldaten auf den Lanzer Weiden mit ihren Säbeln geübt hatten, sondern auch mittun dürfen, so dass es ein Leichtes für ihn war, als Sieger aus seinem ersten Duell hervorzugehen. Die wilden Attacken des Schlesiers konnte er ohne Mühe abwehren, und es war gar eine Freude, den anderen in seiner Kunst der Vergeblichkeit zu beobachten. Jahn überlegte, wie er den Kampf beenden konnte, ohne seinem Gegner ernsthaften Schaden zuzufügen. Schließlich entschied er sich, ihn so hart an der rechten Schulter zu treffen, dass er zu keinem weiteren Schlag mehr ausholen konnte. »So, mein Lieber, da hast du dein kleines Andenken!«
Der Schlag saß, Auras schrie auf und sank ins Gras. Das Duell war entschieden. Doch so richtig genießen konnte Jahn den Sieg nicht, denn zum einen schmerzte es ihn immer, wenn Deutsche gegen Deutsche kämpften, und zum anderen war er zu sehr zum Christen erzogen worden, um diesen Mangel an Friedfertigkeit und Gemeinschaftsgefühl gutzuheißen. Er fand es abstoßend, wie sich die Elite der deutschen Jugend verhielt. Was sollte aus einem Land werden, dessen hoffnungsreichste Männer sich andauernd prügelten, hurten und soffen anstatt etwas zu lernen und sich Gedanken über Gott und die Welt zu machen? Jahn sollte diese »Entartungen des akademischen Lebens« später wie folgt zusammenfassen:
Der größte Teil derer, welche Universitäten besuchen, benutzt die erste Zeit der akademischen Laufbahn, um die Rohheiten seiner älteren Kameraden zu erlernen, sich in ihr unsittliches Betragen einzustudieren und eine von Barbaren ersonnene Zunftsprache sich geläufig zu machen. In der ersten Hälfte der mittlern Zeit übt der Jüngling die erlernten Thorheiten und Bosheiten. In der andern Hälfte wird der Verführte schon wieder Verführer. Mit siechem Körper, geschwächtem Verstande, erschöpftem Geldbeutel sucht nun der Wüstling in aller Eile seinem Gedächtnis so viel einzuprägen, um die Fragen bei der bevorstehenden Prüfung notdürftig beantworten zu können.
Bei Lichte besehen war Jahn allerdings auch keiner, der dem Ideal des fleißigen, sparsamen und zurückgezogen lebenden Studenten entsprach. Den beiden anderen in Halle vertretenen Studentengattungen war er aber auch nicht zuzurechnen – weder den Prahlhänsen, die trinkfest, anmaßend, aufbrausend und andauernd auf Raufereien aus waren, noch den Zierbengeln, die sich eitel gaben, mit dem Geld ihrer Eltern nur so um sich warfen und immer nach amourösen Abenteuer suchten. Jahn suchte noch nach seiner ganz eigenen Rolle.
Fast jeden Morgen traf er sich mit Philipp Pulvermacher auf der Kuhgasse. Meist kam ihm der Freund mit einem strahlenden Gesicht entgegen, doch an einem Morgen im November 1798 war das anders. »Was ist mit dir? Du siehst so nachdenklich aus.«