Kitabı oku: «Die Berlinerin», sayfa 3

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Sommersprosse

Als Erik am nächsten Morgen pünktlich um neun Uhr an Romys Wohnungstür klingelte und sie ihm öffnete, wehte ihm der Duft gebrühten Kaffees entgegen. Sie war in einen jadegrünen Hausanzug gekleidet, der die Farbe ihrer Augen unterstrich. Das Haar hatte sie hochgesteckt, was sie strenger wirken ließ als am Tag zuvor, als sie es offen getragen hatte. Obwohl sie nicht geschminkt war, fand Erik sie unverändert bezaubernd. Mit einem Dankeschön für die Einladung übergab er ihr einen bunten Gerbera-Strauß, den er am Vorabend beim Hotelservice bestellt hatte. Sie quittierte seine Geste mit einem anerkennenden Lächeln.

Lilly, die in den Flur getrottet war, um ihre Neugier über den Besuch zu befriedigen, schoss bei Eriks Anblick davon und verschwand im Wohnzimmer. Romy kicherte. „Zu ihrem Glück hat Lilly ihr Futter schon bekommen, sonst müsste sie vor Bammel jetzt hungrig in ihrem Versteck ausharren, bis Sie wieder fort sind.“

Sie winkte Erik, ihr in die Küche zu folgen. Während sie eine Vase mit Wasser füllte und die Gerbera hineinstellte, bestaunte Erik den gedeckten Tisch unter dem Küchenfenster: Schinken, verschiedene Sorten Käse, gekochte Eier, Butter, Marmelade und ein Körbchen mit Toastbrot, Croissants und Laugenbrötchen. Erik konnte seine Verwunderung darüber nicht zurückhalten. „Wo kommen am heiligen Sonntag all die frischen Sachen her?“

„Meine Nachbarin, die sich um Lilly kümmert, kauft für mich ein, wenn ich auf Reisen bin, damit ich bei meiner Rückkehr nicht auf dem Trockenen sitze. Ich brauchte nur noch die Croissants und die Brötchen beim Sonntagsbäcker bestellen.“

Romy stellte die Blumenvase auf das Fensterbrett, hob die Glaskanne von der Kaffeemaschine und entfernte den Filter. „Setzen Sie sich.“

Erik ließ sich auf einem der drei Schalenstühle nieder.

„War mit dem Hotelzimmer alles in Ordnung?“

„Alles okay.“

„Und sonst? Gut geschlafen?“

„Auch okay.“

„Konnten Sie noch etwas zu essen aufs Zimmer bekommen?“

„Kein Problem, das ging schon okay.“

Romy goss Kaffee in die Tassen, setzte sich Erik gegenüber und bestrich eine Scheibe Toastbrot mit Butter und Erdbeermarmelade. „Okay, okay“, neckte sie ihn, „gestern waren Sie gesprächiger, Mr. Crazy.“

Obwohl Erik sich auf das Wiedersehen mit Romy gefreut hatte, war er nach seiner durchgrübelten Nacht von seiner Bestform weit entfernt und zu zwanglosem Geplauder nicht aufgelegt. Ihr Versuch, ihn aus der Reserve zu locken, hellte seine Stimmung keineswegs auf. Vielmehr wirkte ihre Neckerei auf ihn wie der Vorwurf, unhöflich zu sein oder sie sogar provozieren zu wollen, und er fühlte einen Impuls, gereizt zu erwidern, er habe sich einsam gefühlt und Sehnsucht nach ihr gehabt, sei zudem vom Klamüsern über sein bisheriges und künftiges Leben am Schlaf gehindert worden und habe deshalb alles andere als erholsame Stunden hinter sich. Doch bevor er Gefahr laufen konnte, mit etwas Unbesonnenem herauszuplatzen, was er hinterher hätte bereuen müssen, war Romy aufgestanden und in ihr Schlafzimmer entfleucht. Sie kam mit einem Pappkarton zurück, der mit Paketschnur umwickelt war.

„Ich habe das Kleid zusammengefaltet und in Seidenpapier eingeschlagen, damit es beim Transport nicht zerknautscht.“

Mit einem gemurmelten Danke nahm Erik den Karton entgegen und stellte ihn hochkant auf das Fensterbrett neben die Blumenvase, während sich Romy wieder hinsetzte und in ihr Toastbrot biss. „Ihr Taxi kommt um 12:30 Uhr, Sie haben also noch jede Menge Zeit. Der Zug nach Frankfurt geht kurz nach 13 Uhr. Er wird höchstwahrscheinlich pünktlich sein, jedenfalls gibt es auf der Internet-Seite der Bahn bis jetzt keinen Verspätungsalarm. Außerdem habe ich zwei Sitzplätze reserviert, damit Sie für sich bleiben können. Das ist Ihnen hoffentlich recht.“

Erik schnitt vom Camembert eine Ecke ab und spießte sie mit der Messerspitze auf, ein bisschen zu heftig, als sei das Stückchen Käse ein lebendiges, aber feindliches Wesen, das den Tod verdiente. „An alles gedacht, hm? Sie gäben bestimmt eine tüchtige Sekretärin ab.“ Er hatte sich nicht bemüht, dem sarkastischen Ton seiner Worte einen humorvollen Anstrich zu geben.

Romy zog irritiert die Brauen zusammen. „Wieso? Was meinen Sie mit ‚tüchtig‘?“

„Na, so eine, die mit Vergnügen und Perfektion für ihren Boss Geschäftsreisen bucht, damit sie ihn los ist und ihre Ruhe hat.“

„Warum sagen Sie das?“

„Weil es wahr ist. Ich bin Ihnen unsympathisch, geradezu lästig. Sie können es gar nicht erwarten, mich loszuwerden, und bis dahin inszenieren Sie ein perfektes Frühstückstheater und quälen sich durch ein belangloses Geplauder, um uns einigermaßen bei Laune zu halten. Warum haben Sie mir nicht einfach den Pappkarton in die Hand gedrückt und mich zum Teufel gejagt?“

Eine leichte Röte legte sich über Romys Gesicht. Sie senkte den Blick und erwiderte nichts. Erik wertete ihr Schweigen als Bestätigung, dass er ihre Gedanken richtig erraten hatte, legte das Messer mit dem Stück Camembert auf seinen Brotteller und erhob sich. „Schon gut, Romy Bonero. Bestellen Sie das Taxi ab. Ich gehe zu Fuß zum Bahnhof. Das sollte in mehr als zwei Stunden locker zu schaffen sein.“

Er nahm den Pappkarton vom Fensterbrett und verließ ohne ein weiteres Wort die Küche. Doch binnen weniger Sekunden erfasste ihn Reue, dem Impuls seiner Übellaunigkeit nachgegeben und Romy mit einer idiotischen, unbeweisbaren Behauptung attackiert zu haben. Er war nicht zu ihr gekommen, um sie zu verletzen, auch nicht, weil ihm Nadjas Kleid übermäßig wichtig war, sondern weil er zwei Stunden des Zusammenseins mit ihr genießen und ihr dabei näher kommen wollte. Er hatte die Gunst der Stunde vermasselt, und selbst wenn er umkehrte und Romy um Verzeihung bäte, wäre der Zauber, den er sich für diesen Morgen erhofft hatte, nicht mehr zu beschwören.

„Erik!“

Bevor er die Wohnungstür erreicht hatte, war Romy bei ihm. Trotz der wenigen Schritte ging ihr Atem schnell. „Das stimmt nicht.“

Er wusste augenblicklich, was sie meinte. Trotzdem wollte er es von ihr hören. „Was stimmt nicht, Romy Bonero?“

„Dass ich dich nicht mag und loswerden will. Aber …“

„Aber was?“

„Meine Mutter mahnte mich oft: Kind, höre auf dein Herz, aber bedenke auch, dass man auf einem Scherbenhaufen kein Glück aufbauen kann.“

„Was bedeutet das für mich?“

„Denke über dein Leben nach, Erik. Gib Nadja eine Chance. Oder ziehe einen Strich unter deine Vergangenheit, bevor du dich auf eine neue Sache einlässt. Du musst das ohne mich entscheiden. Ich will nicht der Grund für das Unglück einer anderen Frau sein. Damit könnte ich nicht leben.“

Erik sah Romy eine Weile gedankenvoll an. Wie hätte er sie überzeugen können, dass sie nicht der Grund seines Konflikts war, sondern nur der Schlüssel zu der Kammer, in der er geschlummert hatte? Wäre Erik, als er Romy im Restaurant begegnete, im inneren Gleichgewicht gewesen, hätte er Nadjas Kleid nach Hause getragen und befände sich jetzt nicht in einer Wohnung im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg.

Romy schien sein Schweigen zu werten, als könne er zu ihren Worten keinen Zugang finden. „Verstehe mich bitte, Erik“, fuhr sie fort, „wir kennen uns erst wenige Stunden, und du lebst in einer Beziehung. Wenn ich mich auf dich einlasse, verstricke ich mich vielleicht in eine Affäre, deren Folgen wir beide später bedauern könnten.“

Erik war gerührt darüber, dass sie ihn so inständig um sein Verständnis für ihren Standpunkt bat, obwohl sie nicht den geringsten Grund hatte, sich für irgendetwas zu rechtfertigen. Vielmehr wäre es an ihm gewesen, für seinen Fauxpas ihr gegenüber Abbitte zu leisten. Außerdem war ihm klar, dass sie mit jedem ihrer Worte recht hatte. Er strich ihr flüchtig über die Wange. „Ich verstehe dich, Romy. Sehr gut sogar. Wirst du auf mich warten?“

Romy schüttelte den Kopf. „Nein, nicht ins Blaue hinein. Wenn Mr. Right kommt, ist er da.“

„Also muss ich mich beeilen, wenn ich dieser Mr. Right sein will.“

„Vielleicht.“

„Sonst kannst du mir nichts auf den Weg mitgeben? Nichts weiter als ein ‚Vielleicht‘?“

„Nichts, Erik. Das ist alles.“

„Aber ich kann etwas zurücklassen.“ Erik ließ den Pappkarton aus der Hand gleiten, nahm Romy an beiden Schultern und küsste sie auf den Mund, nicht fordernd, sondern zärtlich und nicht länger, als es ihm für den Augenblick angemessen erschien. Sie ließ ihn gewähren, erwiderte seinen Kuss jedoch nicht.

„Ich komme zurück, Sommersprosse, verlass dich drauf.“ Er ließ ihre Schultern los, hob den Pappkarton vom Boden auf, öffnete die Tür und verschwand im Treppenhaus, ohne noch einmal den Kopf zu wenden. Erst als er unten ankam, hörte er, wie Romys Wohnungstür ins Schloss fiel. Sie schien ihm über das Treppengeländer den ganzen Weg bis zum Hauseingang nachgeschaut zu haben.

Am ersten Zeitungskiosk, auf den er traf, kaufte er einen Stadtplan und ließ sich vom Kioskbetreiber den Weg zum Hauptbahnhof zeigen: Richtung Süden bis zum Fernsehturm und zur Museumsinsel, dann nach Westen und ab Friedrichstraße am Spreeufer entlang bis zum Spreebogen und Humboldthafen.

Sie hat mich „Erik“ genannt und „du“ zu mir gesagt, und sie hat mir erlaubt, sie zu küssen, kam ihm zu Bewusstsein, als er, den Pappkarton unter den Arm geklemmt und den aufgefalteten Stadtplan in beiden Händen, losmarschierte und in seiner Brust ein Glücksgefühl aufstieg wie beim Anblick eines seltenen, erhabenen Naturschauspiels. „Ich komme wieder, Romy Bonero, was auch geschieht, ich komme wieder“. Unablässig wie eine Beschwörungsformel geisterte dieser Satz durch seinen Kopf, während er der Spree entgegeneilte. Doch je länger er unterwegs war, desto öfter drängten sich Romys mahnende Worte dazwischen: „Gib Nadja eine Chance. Ich will nicht der Grund für das Unglück einer anderen Frau sein. Damit könnte ich nicht leben.“

Köln

Nadja öffnete den Pappkarton und faltete das Seidenpapier auseinander. „Unser Kleid!“. Sie umarmte Erik und küsste ihn ungestüm. „Du bist einfach großartig! Dabei dachte ich zuerst, es sei dir nicht wichtig.“

Erik ließ ihren Ausbruch an Leidenschaft kommentarlos über sich ergehen. Im Gegensatz zu ihr war ihm klar, dass er nicht der wahre Mittelpunkt ihrer Happyend-Geschichte war, sondern lediglich als Stellvertreter für sentimentale Erinnerungen an eine Zeit fungierte, die längst jeden Bezug zum Hier und Heute verloren hatte. Er konnte schlicht und einfach nicht begreifen, wie Nadja in einem Meer nostalgischer Gefühlsduselei versinken konnte, anstatt wie er die Warnsignale schrillen zu hören, dass ihre Beziehung auf eine abschüssige Bahn geraten war. Beinahe schien es ihm, als diene ihr das Festhalten an der Vergangenheit als Schutzwall, der sie davor bewahrte, den unliebsamen Tatsachen der Gegenwart ins Gesicht sehen zu müssen.

Mit einem hatte sie allerdings recht, wenn auch anders, als ihr bewusst sein konnte. Denn für Erik hatten die Worte „unser Kleid“ eine neue Bedeutung gewonnen. Jetzt war es das Kleid, das ihn mit einer Frau in Berlin verband. Die es nur einmal getragen hatte und nie wieder tragen würde. Mit der er, alle Begegnungen zusammengezählt, weniger Stunden verbracht hatte, als ein halber Tag zählt. Die er, bevor er sie verließ, um nach Hanau zurückzufahren, Sommersprosse nannte.

Ahnungslos hatte Nadja in ihrer Sehnsucht nach den Relikten ihrer Jugend einen schlafenden Drachen geweckt, in dessen Obhut das blaugrüne Kleid lange in Vergessenheit geruht hatte und keinen Einfluss mehr auf menschliche Schicksale zu haben schien. Sie hatte ihr Kleid zurück, frisch gereinigt und sorgfältig verpackt, so dass sie es auf ihre sentimentale Art verwahren konnte. Aber der Drache, der wieder im Spiel war, riss jetzt an seiner Kette und wollte sich befreien.

Jeder Versuch Eriks, sich einreden zu wollen, sein Zusammentreffen mit Romys sei nur eine belanglose Episode gewesen, blieb wirkungslos gegenüber seiner tiefen Überzeugung, dass sich nur selten zwei Menschen begegnen, die schon nach wenigen Augenblicken wissen, füreinander geschaffen zu sein. Immer wieder gingen ihm die Worte aus der Filmromanze „Die Brücken am Fluss“ durch den Kopf, mit denen der Fotograf Robert der Farmersfrau Francesca seine Liebe gesteht: „Such certainty comes but once in a lifetime – eine derartige Gewissheit erfährt man nur einmal im Leben.“ Erik war sich seiner Gefühle für Romy absolut sicher, und er hegte auch keinerlei Zweifel, dass sie für ihn genauso empfand – warum hätte sie sich sonst widerstandslos von ihm küssen lassen?

Doch als Nadja ihn in wiedererwachter Verliebtheit umgarnte und mit Zärtlichkeiten überhäufte, hatte er nicht den Mut, ihr seine wahren Gefühle zu offenbaren, sondern ging auf sie ein, wie sie es von ihm gewohnt war. Er hatte sie lange nicht mehr so glücklich gesehen und scheute davor zurück, sie zu verletzen, obwohl er keinen anderen Wunsch hegte, als wieder nach Berlin zu fahren und Romy in seine Arme zu schließen. Nadja hatte ihn schlicht und einfach überrumpelt, bevor er angemessene Worte hätte finden können, ihr die Wahrheit schonend beizubringen. Auch sagte ihm sein Verstand, dass die Zeit für ein Geständnis noch nicht reif war, denn nie zuvor war ihm schmerzhafter bewusst gewesen, wie abhängig er von Nadja war. Ekel vor sich selbst übermannte ihn jedes Mal, wenn er sie ohne Hingabe küsste und ihrem Verlangen folgte, weil er nicht verdrängen konnte, dass er ihren Körper nur zu seiner Befriedigung benutzte, und wenn es vorbei war, fühlte er sich dreckig und verderbt.

Es kostete ihn Kraft, seine Desillusion vor Nadja zu verbergen. Doch sie schien nichts davon zu bemerken. Ihre frisch erblühte Leidenschaft hatte die Studentin von einst wiedererweckt, die zu beschwingt und glücklich war, auch nur einen blassen Schimmer seiner Gemütsverfassung zu erahnen. „Es ist wie früher, Erik, findest du nicht?“

Nichts ist wie früher, hätte er ihr am liebsten ins Gesicht geschrien, und nie wieder wird es so sein. Er machte sich nichts vor: Die Neugier einstiger Tage, einander zu erforschen, die Unbeschwertheit und Bedingungslosigkeit ihrer gegenseitigen Hingabe, die Bodenlosigkeit ihrer Leidenschaft, das alles war den Routinen des Alltags und den ungleich verteilten Machtverhältnissen ihrer Beziehung gewichen. Er war ein Gefangener, dessen Gedanken nur noch darum kreisten, sich zu befreien.

Er behielt seine Gedanken für sich. Stattdessen grub er, wenn Nadja und er beieinander lagen, sein Gesicht in ihre Halsbeuge und wunderte sich über den betörenden Geruch ihrer noch immer jugendlich frischen Haut und darüber, weshalb er keine Liebe mehr für sie empfinden konnte, obwohl sie ihn einst mit ihren dunkelbraunen, fast schwarzen Augen und den sinnlich geschwungenen Lippen bis in seine frivolsten Träume verfolgt hatte.

Die Träume kehrten nicht wieder, und Erik wurde von Tag zu Tag klarer, dass er sich vor einer Entscheidung nicht mehr länger drücken konnte. Er hatte Romys Aufforderung befolgt, seiner Beziehung zu Nadja eine Chance zu geben, doch seine behutsamen Versuche, mit ihr über seine Gefühle zu sprechen, waren gescheitert. Sie hatte ihm ungeduldig zugehört und die Stirn gerunzelt. „Was genau passt dir denn nicht? Brauchst du mehr Geld? Hast du Wünsche, über die du nicht sprechen kannst? Vielleicht ein Auto, oder was stellst du dir vor?“

„Es geht nicht ums Geld, Nadja, es geht um mich. Ich komme mir nutzlos vor.“

„Du bist doch nicht nutzlos. Du hältst mir den Rücken frei, machst den Haushalt, gehst einkaufen, kochst und putzt. Ohne dich käme ich überhaupt nicht zurecht.“

Erik seufzte: „Versteh mich doch. Ich komme mir vor als … als sei ich kein richtiger Mann.“

Sie lächelte kokett und fuhr mit der Hand über seinen Oberschenkel. „Was für ein Unsinn! Du bist ein Mann, das kann ich dir schriftlich geben.“

Er griff nach ihrer Hand und hielt sie fest, bevor ihre Berührung zu intim werden konnte. „Es ist mir ernst, Nadja“, erwiderte er barsch. „Ich will nicht den Rest meines Lebens als Hausmann verbringen.“

Verärgert zog sie ihre Hand von ihm zurück. „Willst du etwa gar nichts tun, während ich mich Tag für Tag im Büro abrackere? Es läuft doch bestens, so wie es ist.“

„Für dich läuft es bestens, Nadja, aber nicht für mich.“

„Dann mal Klartext: Was genau willst du?“

„Arbeiten. Eigenes Geld verdienen. Aber dann kann ich den Haushalt nicht mehr allein machen. Du müsstest einen Teil übernehmen.“

Nadja lächelte nachsichtig und schlug einen überlegenen Ton an: „Vergiss es! Du hast dein Studium abgebrochen, keinen Beruf gelernt und auch sonst keine praktische Erfahrung. Ich sehe nicht ein, dass ich mich wegen einer Laune von dir mit Hausarbeit belasten soll, damit du in einer Tankstelle oder als Taxifahrer ein paar lumpige Kröten zusammenkratzen kannst, die den Bock nicht fettmachen.“

„Warum kannst du nicht begreifen, dass es mir nicht allein ums Geld geht, sondern …“

Zornig fiel sie ihm ins Wort. „Weil du ein unvernünftiger, undankbarer Egoist bist, der in Problemen herumstochert, die gar nicht vorhanden sind.“

An diesem Punkt hatte Erik erkannt, dass jedes weitere Wort zwecklos gewesen wäre. Nadja hatte sich in ihrer Welt eingerichtet, einer Welt, in der sie die Macht in Händen hielt und nicht bereit war, von ihrem Terrain auch nur einen Quadratzentimeter abzutreten. Sie hatte seine Argumente, die er sich zurechtgelegt hatte, um ihr Verständnis zu gewinnen und ihre Beziehung in ein neues Fahrwasser zu lenken, von vornherein abgebügelt, so dass ihm keine andere Wahl blieb, als ohne sie und gegen ihren Willen zu handeln. Wenn ihm daran gelegen war, eigenständig zu werden, anstatt in Mutlosigkeit zu verfallen und sich aufzugeben, durfte er nicht mehr länger warten, sondern musste die Idee, die ihm in jener einsam verbrachten Nacht im Zarenhof zugeflogen war, in die Tat umsetzen. Wenn sein Plan funktionierte, könnte er ihm zu einer Beschäftigung verhelfen, von der sich leidlich leben ließe. Arbeitslosigkeit, Sozialhilfe - das musste er um jeden Preis vermeiden, denn damit wäre kein guter Anfang gemacht. Nie wieder wollte er an eine Frau gebunden sein, der er nicht auf gleicher Augenhöhe gegenüberstand.

Sein Verlangen, Romy wiederzusehen, wuchs von Tag zu Tag. Da sie ihm ihre E‑Mail-Adresse und Telefonnummer nicht hatte geben wollen, schickte er ihr regelmäßig Briefe - keine Liebesbriefe, die sie als aufdringlich oder sogar albern hätte empfinden können, sondern Mitteilungen und Fragen unverfänglichen Inhalts, um mit ihr in Kontakt zu bleiben: Was sie so mache; ob sie vorhabe, in absehbarer Zeit wieder einmal im Raum Frankfurt zu sein, dann könne man sich auf einen Kaffee treffen; wie es ihrer Katze Lilly gehe. Auf jeden seiner unverbindlichen Plauderbriefe hoffte er, eine ebenso unverbindliche Antwort zu erhalten. Vergeblich, denn Romy schrieb kein einziges Mal zurück. Er forschte im Online-Telefonbuch nach ihrer Rufnummer, sowohl unter ihrem bürgerlichen Namen als auch unter ihrem Pseudonym, aber wie er befürchtet hatte, war sie nicht registriert. Also schrieb er ihr weiterhin Briefe.

Ihre Weigerung, ihm zu antworten, bestärkte ihn zusätzlich darin, aus seiner Idee so schnell wie möglich ein Konzept zu entwickeln, denn ginge sein Plan auf, könnte ihn nichts mehr daran hindern, nach Berlin aufzubrechen. An einem Montag, als Nadja sich auf den Weg ins Büro gemacht hatte, blieb er noch eine Weile am Frühstückstisch sitzen. Er schlug die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom Samstag auf und blätterte, bis er die Karikatur von Greser & Lenz fand, die wie immer mit politisch unbequemen Aussagen provozierte. Bestimmt würde sie wieder Proteste von Lesern nach sich ziehen, die derartige Verstöße gegen die politische Korrektheit mit einer seriösen Tageszeitung wie der Frankfurter Allgemeinen nicht in Einklang zu bringen vermochten. Die Redaktion druckte diese Leserbriefe ab, hielt jedoch am Prinzip der Meinungsfreiheit und an dem Karikaturisten-Duo fest.

Erik liebte die Zeichnungen von Greser & Lenz, die sich im Gegensatz zu den üblichen, mit wenigen Strichen skizzierten Karikaturen üppig in Details ergingen und viele versteckte Botschaften enthielten. Vor Jahren hatte er, als Ausgleich zu seinem Studium, einen Zeichenlehrgang gemacht, weil er schon in seiner Gymnasialzeit gerne gezeichnet und eine Vorliebe für Karikaturen entwickelt hatte. Es war ihm sogar gelungen, ein wenig seinen eigenen Stil zu entwickeln. Doch nachdem er das Studium aufgegeben und als Hausmann seine täglichen Pflichten zu erfüllen hatte, ließ er sein Hobby erst schleifen und, seit er mit Nadja in Hanau lebte, ganz einschlafen. Dabei hätte er jede Menge Zeit gehabt, es zu pflegen und seine Fähigkeiten zu perfektionieren.

Jetzt begann er mit sich zu hadern, dass er das Potenzial, das in ihm schlummerte, nicht schon eher wachgerüttelt hatte. Er ging ins Schlafzimmer und öffnete den Karton, der als einziger seit dem Umzug nach Hanau noch verschlossen in einer Ecke stand, und kramte die vernachlässigten Dinge heraus: ein Tagebuch mit mehr leeren als beschriebenen Seiten, ein altes Fotoalbum, einen Tuschekasten, eine Blechschachtel mit Pinseln, ein paar Spitzerdosen, ein Ledermäppchen mit Bleistiften, Buntstiften und Radierern. Schließlich ein Comic-Zeichenlehrbuch, noch mehr Bleistifte unterschiedlicher Stärke, die von einem Gummiband zusammengehalten wurden, eine weitere Blechschachtel mit Kohlestiften und vom Boden des Kartons einen Zeichenblock und einen Stapel Blätter mit Skizzen.

Erik huschte ein Lächeln über die Lippen, als er die einzelnen Zeichnungen betrachtete und Erinnerungen an seine Studienzeit in ihm aufstiegen. Er nahm den Zeichenblock und die Bleistifte, setzte sich damit an den Küchentisch und begann, Striche und Bögen zu ziehen. Beglückt stellte er fest, dass er das Zeichnen nicht verlernt hatte. Die Linien kamen zwar noch ungelenk und zuweilen zittrig, aber mit jedem Strich wurde er sicherer.

Er zeichnete stundenlang, trank dabei einen Kaffee nach dem anderen und vergaß darüber, den Tisch abzuräumen und Nadjas Aufträge in der Stadt zu erledigen. Eine seligmachende Aufgeregtheit hatte ihn ergriffen, als sei er tagelang durch die Wüste geirrt und sei kurz vor dem Verdursten auf die rettende Oase gestoßen.

Er zeichnete Merkel, Seehofer, Trump, Putin, Macron. Kidman, Schwarzenegger, Clooney. Aber auch Prominente vergangener Zeiten: Adenauer, de Gaulle, Mitterrand, Brandt, Jelzin - Charakterköpfe, die nach wenigen Strichen erkennbar waren. Aber so zeichneten alle, das war also nicht das Gelbe vom Ei. Erik brauchte einen eigenen Stil. Er versuchte es mit dem Hinzufügen von Details und bewusst gesetzten Schattierungen, um seinen Karikaturen mehr Tiefe zu verleihen, jedoch ohne in die Detailverliebtheit seiner Vorbilder Greser & Lenz zu verfallen. Er fand, dass sich das Ergebnis sehen lassen konnte: Die Gesichter wirkten immer noch grotesk, aber trotzdem real, und auf einmal sah Donald Trump nicht mehr aus wie jemand, der mitten in einer Ansprache mit geschürzten Lippen und beleidigtem Gesichtsausdruck eingefroren war, sondern als würden ihm im nächsten Moment weitere markige Sprüche von den Lippen sprudeln.

Das ist schon mal ein Anfang, dachte Erik zufrieden. Wo aber eine Idee gezündet hat, kommt oft noch eine weitere hinzu: Wie wäre es, ging es ihm spontan durch den Kopf, eine individuelle Figur für einen täglich erscheinenden Comic-Strip, bestehend aus vier bis sechs Bildern, zu konzipieren? Nach einigen Überlegungen und Skizzen hatte Erik seine Figur gefunden: eine kluge Ratte namens Ziska, die sich über die politischen Ansichten des Wohnungsinhabers, bei dem sie sich eingenistet hat, lustig macht, wie auch über die Tatsache, dass dieser sie mit seinen raffiniertesten Versuchen nicht in eine Falle zu locken vermag. Auf diese Weise konnten einer Leserschaft die aktuellen politischen Probleme auf humorvolle Weise dargeboten werden.

An den folgenden Tagen zeichnete Erik Muster-Comics, fertigte Scans davon an und schickte sie zusammen mit einem Bewerbungsschreiben und seiner Kurzbiografie per E‑Mail an mehrere Verlage namhafter Tageszeitungen. Als Nadja ihn fragte, weshalb er neuerdings den Haushalt vernachlässige und ihre Aufträge nicht mehr erledige, gab er als Begründung an, sich nicht wohlgefühlt zu haben, was sie mit einem skeptischen Blick auf den Stapel seiner Zeichnungen quittierte, sich aber jeglichen Kommentars enthielt.

Zu Eriks Überraschung dauerte es nur zwei Tage, bis sich der Redakteur eines Kölner Zeitungsverlags telefonisch bei ihm meldete. „Ihre Arbeiten gefallen mir. Haben Sie noch mehr davon?“ Weitere drei Tage später saß Erik in Benno Salzmanns Büro. „Um es kurz zu machen, Herr Durante: Unser bisheriger Karikaturist fällt wegen einer Erkrankung für lange Zeit aus. Natürlich hatte er einen anderen Stil als Sie, aber unsere Leser werden sich an Ihre Zeichnungen gewöhnen.“

„Heißt das, ich bin engagiert?“

Salzmann nickte. „Sofern wir uns über die Konditionen einig werden können. Bekanntlich geht der Absatz bei den Tageszeitungen seit einiger Zeit dramatisch zurück. Deshalb verfügen die Verlage nur über schmale Budgets. Es kommt also darauf an, welche Vorstellungen Sie über Ihr Honorar haben und wie schnell Sie arbeiten können.“

Erik hatte sich in kluger Voraussicht im Internet über die Durchschnittshonorare für Comiczeichner informiert, hielt es aber für angebracht, nicht mit der Tür ins Haus zu fallen. „Wieviel kann der Verlag mir bezahlen, und was muss ich dafür liefern?“

„Zwei Bilderserien in Farbe für die Freitags- und Samstagsausgabe, also zwölf Zeichnungen pro Woche. Unser Verlag zahlt Ihnen ein Stundenhonorar von 40 Euro. Die Exklusivrechte an Ihren Bildern treten Sie an den Verlag ab.“

Erik überschlug im Kopf das Angebot. Er brauchte für eine Farbzeichnung, wie sie ihm vorschwebte, höchstens eine Stunde, eher weniger, für detaillierte Bilder zwanzig bis dreißig Minuten länger. Sein monatliches Einkommen läge demnach zwischen 2.000 und 2.800 Euro brutto – zu wenig, um als Single über die Runden zu kommen. „Ich hatte an 50 Euro gedacht.“

„43 und keinen Cent mehr.“

Erik hielt sich einen Moment in gespieltem Nachdenken zurück, ehe er einlenkte. „Ihr letztes Wort?“

„Die Höchstgrenze. Mehr ist nicht drin.“

„Dann nehme ich das Angebot an.“

„Gut. Ich lasse einen Vertrag vorbereiten, den wir auf ein Jahr befristen. Sie liefern erstmals nächste Woche. Das Thema und den Abgabetermin wird der zuständige Redakteur mit Ihnen abstimmen.“

Erik hätte jubeln können vor Glück: Alles war besser gelaufen, als er zu hoffen gewagt hatte. Nachdem Salzmann ihn durch den Verlag geführt und ihn mit dem Redakteur bekannt gemacht hatte, der künftig sein Ansprechpartner sein würde, hatte er vor der Heimfahrt noch genügend Zeit, einen kurzen Besuch im Kölner Dom zu machen. Dort setzte er sich auf eine Bank in der Nähe des Hochaltars, schloss die Augen und genoss die erhabene Atmosphäre des gewaltigen Bauwerks, bis ihn eine tiefe Ruhe durchströmte. Er hatte den Fuß auf die Schwelle zu einem eigenständigen Leben gesetzt, und nichts konnte ihn jetzt noch aufhalten, diesen Weg weiterzugehen. Wäre er ein religiöser Mensch gewesen, hätte er Gott oder der Jungfrau Maria ein Dankgebet gen Himmel geschickt. Stattdessen warf er eine Zwei-Euro-Münze in die Kollekte, bevor er dem Dom verließ und sich auf den Weg zum Bahnhof begab.

Noch in derselben Woche stellte ihm die Post den Honorarvertrag zu, auf den er sich mit Salzmann geeinigt hatte, und nachdem kurz darauf sein Erstauftrag und die Deadline mit seinem Redakteur geklärt waren, stürzte er sich in die Arbeit.

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