Kitabı oku: «Die heimliche Geliebte», sayfa 7

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Leo erinnerte sich, dass er seinen ›Fall‹, wie er es nannte, unbedingt noch vor dem Jahreswechsel abschließen wollte.

»Warum haben Sie es eigentlich so eilig?«

»Ich fliege im Januar für ein paar Wochen nach New York.– Nein, nicht was Sie denken. Kein Urlaub, sondern eine Fortbildung im Rahmen eines Austauschprogramms.«

Leo notierte sich im Geist, ihr Ticket auf keinen Fall vor März zu kaufen.

»Warum beschleicht mich das Gefühl, den falschen Beruf gewählt zu haben?«

»Haben Sie?«

»Gartenarchitekten werden so selten zu Fortbildungen nach New York geschickt.«

Er lachte. »Die haben für gewöhnlich auch weniger mit Kunstkriminalität zu tun. Obwohl Sie da vielleicht die Ausnahme bilden. – Schon gut, nicht aufregen. Haben Sie meine Karte noch? Mit der Nummer meiner Dienststelle?«

Keine Ahnung, dachte Leo. Sie nickte einfach.

Er zog seine Brieftasche aus der Jacke, die über seinem Stuhl hing, und entnahm ihr ein weiteres Kärtchen. Leo sah zu, wie er etliche Zahlen daraufkritzelte.

»Hier. Unter dieser Handynummer können Sie mich auch privat erreichen. Jederzeit.«

Sie sah auf die Karte. Martin Sandved.

|99|»Was ist Sandved eigentlich für ein Name?«

»Skandinavisch«, erklärte er und zog seine Jacke an. »Mein Vater war Schwede, meine Mutter Deutschamerikanerin. »Geboren bin ich in Stockholm, aufgewachsen in New York und Hamburg. Noch Fragen?«

»Vorerst sind Sie entlassen.«

Sie begleitete ihn zur Tür. In ihrer gekrümmten Haltung kam sie sich neben ihm noch kleiner vor.

»Wenn das morgen nicht besser ist, sollten Sie wirklich einen Arzt aufsuchen. – Und das Schloss hier …« Er rüttelte an dem Türgriff. »Lassen Sie sich so schnell wie möglich ein neues einbauen. Ein Sicherheitsschloss. Schieben Sie bis dahin einen Stuhl unter die Klinke. Und lassen Sie heute Nacht die Jalousie vor der Terrassentür herunter.«

»Danke für die beruhigenden Worte.«

Eindringlich sah er sie an. »Sie haben allen Grund, beunruhigt zu sein. Wollen Sie das Angebot Ihrer Nachbarin nicht doch annehmen?«

Leo schüttelte den Kopf. Es war ein komisches Gefühl, als er die Wohnung verlassen hatte. Sie zerrte gehorsam einen Stuhl vor die Tür, ließ die quietschende Jalousie herunter und ging zurück in die Küche. Vom Fenster aus beobachtete sie, wie Sandved auf dem Fußweg zögerte, schließlich doch zu seinem Wagen ging und, bevor er einstieg, einen Moment die Linde begutachtete. Dann scherte er vorsichtig aus der Parklücke aus und verschwand in der Dunkelheit.

Leo schlang fröstelnd die Arme um sich.

»Ich finde, er übertreibt. Edwina, verrat mir doch, was hier in meiner Abwesenheit los war.«

Edwina verriet nichts.

Leo schlurfte ins Bad. Als sie fertig war, warf sie einen zaghaften Blick in ihr Schlafzimmer.

Oh verdammt.

Was für ein Chaos. Matratze, Bettzeug, Kissen, alles war auf dem |100|Boden verteilt. Die Schranktüren standen offen, Schubladen waren herausgezogen. Keine zehn Pferde hätten sie jetzt in dieses Bett gekriegt, nachdem wer auch immer darin herumgewühlt hatte. Sie zog Decken und Laken aus dem Schrank und richtete sich auf dem Sofa ein.

Ächzend und schon im Halbschlaf kroch sie unter die Decken. Na ja, das Bett wäre vielleicht doch die bessere Wahl gewesen. Zumindest bequemer.

Bett.Schlafen.

Rufus.

Schlagartig war sie wieder wach. Da war es, das Mosaiksteinchen, das ihr gefehlt hatte. Sie starrte an die dunkle Zimmerdecke.

Ich habe nur meinen Hund, der bezeugen kann, dass ich den ganzen Tag im Bett gelegen habe, hörte sie Paul Ostermann sagen.

Und Su Jings Stimme: Keine ruhige Minute heute. Er bellt frühmorgens, er bellt mittags, er bellt abends.

Rufus inszenierte jedes Mal ein Hundedrama, wenn sein Herrchen die Wohnung verließ. Kam Paul zurück, war seine Welt wieder in Ordnung. Aber er bellte wie blöd, wenn er Leo sah oder witterte. Er hatte gebellt, als sie heute Morgen an ihm vorbeigeschlichen war. Und ebenfalls, als sie abends zurückkam. Zweifellos auch, als Paul Ostermann zuvor auf den Tumult aufmerksam geworden war und sich zu den anderen gesellt hatte. Und für alle hörbar, als er vorhin wieder hinuntergegangen war. – Aber was war dazwischen? Wieso hatte Rufus Theater gemacht, als sie nicht da war und Paul angeblich schlief?

Leo pellte sich aus den Decken und humpelte in die Küche.

Vielleicht war das so dahergesagt von Su Jing. In gestressten Ohren konnte gelegentliches Bellen zu Dauergekläff anwachsen. Oder Paul war kurz in der Apotheke gewesen und hatte es für so nebensächlich gehalten, dass er es Sandved gegenüber nicht erwähnte, dachte Leo, während sie in der Schublade herumkramte.

|101|Es wäre ja auch denkbar, dass Rufus einmal mit seinen festen Regeln gebrochen und ausnahmsweise den Briefträger angebellt hatte. Oder einen Schatten an der Wand. Oder eine Ratte im Hof, die er nicht jagen durfte, weil er in der Wohnung bleiben musste und die Klappe zur Feuertreppe abgesperrt war.

War ja alles möglich.

Trotzdem suchte sie Onkel Ludwigs Tranchiermesser heraus, nahm es mit zum Sofa und schob es zwischen die Polster. Wohler fühlte sie sich dadurch keineswegs, eher ein bisschen neurotisch. Sie zog die Decke bis zur Nasenspitze hoch. Morgen konnte sie weiter nachdenken.

***

|102|Wiedensahl, den 19 ten Februar 1857

Es ist doch sehr angenehm, in diesen dunklen Tagen im Kämmerlein zu sitzen und es sich bei einer heißen Chocolade recht wohl ergehen zu lassen. Das Jahr hat gut begonnen, und ich bin ausgesöhnt mit den Umständen. Wilhelm war lange Zeit zugegen, und da ist es nicht so hart, ihn aufs Neue in Lüthorst zu wissen, wo er bei Pastor Kleine weilt. Sorge macht mir nur, daß ihn statt der Malerei jetzt die Heraldik umtreibt. Er streift umher und sammelt und zeichnet Wappen. Was das nun wieder werden soll! Ich würde es begrüßen, wenn er mehr an unserer Zukunft arbeitete als in der Vergangenheit fremder Geschlechter herumzustochern.

Wiedensahl, den ersten März 1857

Was muß ich hören! Der Pastor setzt meinem Wilhelm Flöhe ins Ohr, die man von einem frommen Gottesmann nicht erwarten sollte. Georg Kleine soll ein passionirter Bienenzüchter sein und seiner Leidenschaft mit gutem Erfolge nachgehen. Das ist schön, es sei ihm gegönnt, aber muß er auch Wilhelm damit infizieren? Es ist wohl recht und billig, als Knabe solchen Ideen nachzuhängen, aber nun spinnt er sich ein abentheuerliches Leben zurecht: nach Brasilien will er auswandern! Bienen züchten! – Ich bin außer mir.

Da kommt es mir nur wie ein kleines Kümmerniß vor, daß auch in Lüthorst der Frühling nicht auf sich warten läßt. Vierzehntägig findet man sich dort in einem sogenannten Klub zusammen, wo gespielt, musiziert und wer weiß was noch alles getrieben wird. Von Wilhelm heißt es, er habe dort das Fräulein von Reizenstein aus Hameln getroffen, die Tochter des Heraldikers Reizenstein. Sie sei noch ein Kind, ein dummer Backfisch, und tanze erbärmlich, will er seinem Freund Wanrecke geschrieben haben. Wüßte ich, daß es die Wahrheit ist und nicht der Bemäntelung dient, wäre ich ruhiger.

Kennt er sie gar von früher? Ist sie eine Liebelei aus der Vergangenheit, die er nun herunterspielt? Wie mag er erst von mir reden! Redet er überhaupt? Existiere ich außerhalb unserer kleinen Welt?

|103|-7-

Vorsichtig. Ganz vorsichtig. Langsam in die Hocke – Kissen aufheben – am Tisch festhalten – hochstemmen – Kissen auf Sofa werfen. Dann die Bücher. Den Lampenschirm. Die Schubladen. Das Telefonbuch.

Leo arbeitete sich vor. Der Rücken schmerzte, als hätte ihn jemand mit einem Baseballschläger bearbeitet, aber so lange sie keine unbedachten Drehungen machte, konnte sie sich recht gut bewegen. Zwischendurch, um sich von dem Chaos ringsherum ein bisschen abzulenken, druckte sie die gestern gemachten Marktfotos aus und pinnte das Bild von der hübschen Kate an die Wand. Der Anblick munterte sie ausreichend auf, dass sie mit ihrer Aufräumaktion weitermachen konnte. Soweit sie feststellen konnte, fehlte nichts; doch bei jedem Gegenstand, den sie in die Hand nahm, zerbrach sie sich den Kopf, was der Einbrecher hier gesucht haben mochte. Und ob sie wirklich Paul Ostermann verdächtigen sollte. Sie kam zu keinem befriedigenden Schluss. Warum hätte er so etwas tun sollen? Im Licht des neuen Tages kamen ihr ihre nächtlichen Überlegungen ziemlich wirr vor. Und der hysterische Hund gab einen schlechten Zeugen ab. Bestimmt gab es eine ganz vernünftige Erklärung für sein Dauergebell.

Leo grübelte immer noch daran herum, als das Telefon klingelte. Es dauerte eine Weile, bis sie den Schreibtisch erreicht hatte.

»Heller.«

Am anderen Ende atmete jemand.

»Hallo?« Aufgelegt. Nachdenklich behielt sie den Apparat in der Hand. Sie fröstelte. Ihr Blick fiel auf die offene Terrassentür. Sie schloss sie und bückte sich, um Edwina wieder an ihren Platz zu rücken. Und dann passierte es.

Ein scharfer Schmerz jagte durch ihren Rücken, bohrte sich wie ein Schwert neben ihrer Wirbelsäule in ihren Leib und spaltete den |104|unteren Teil ihres Körpers vom schreienden Rest ab. Leo fiel auf Hände und Knie und schnappte nach Luft.

Oh verdammt, verdammt!

Im Schneckentempo robbte sie zum Telefon und zog an der Schnur – was für ein Segen, dass Onkel Ludwig nichts von den Neuerungen der Telekommunikation und mobilen Telefonen gehalten hatte – bis es vom Schreibtisch plumpste. Mit zusammengebissenen Zähnen wählte sie die Nummer des ärztlichen Notdienstes. Eine unbeteiligte Frauenstimme meldete sich. Leo keuchte ihr ihre Adresse ins Ohr.

»Was für Beschwerden haben Sie?«, fragte die Frau.

»Hexenschuss, Bandscheibenvorfall, was weiß ich, es tut jedenfalls höllisch weh! Können Sie einen Arzt schicken?«

Nein, sie konnte Leo erst einmal nur weiterverbinden. Es knackte in der Leitung, ein Mann meldete sich mit einem kurzen Ja?, und Leo war inzwischen völlig auf dem Fußboden zusammengesunken.

Noch einmal sagte sie ächzend ihr Sprüchlein auf.

»Leo, bist du’s?«, fragte die Männerstimme. »Ist das lange her, dass ich deine Stimme gehört habe!«

Oh nein. Nicht auch noch das. Sie umklammerte den Telefonhörer fester. Jay. – Jay-Luc Miller.

»Leo, bist du noch dran?«

»Ja«, murmelte sie. »Wieso bist du …«

»Ich arbeite hier. Ich habe Bereitschaftsdienst. Was für ein Zufall!«

Ja, großartig. Klasse. Die Krönung des Tages.

Er lachte fröhlich, und Leo wusste, dass er dabei den Kopf leicht in den Nacken warf. Sie sah seine weißen Zähne blitzen. Und sie spürte, dass er abrupt wieder ernst wurde.

»Ich wollte mich schon längst bei dir melden«, sagte er. »Ich muss mit dir sprechen. Wegen Katie.«

Unwillkürlich versteifte sich ihr Rücken noch mehr.

|105|Jay redete einfach weiter, als ob sie sich zu einem kleinen Plausch kurzgeschlossen hätten.

»Ich mache mir Sorgen. Ich …«

»Ich habe Schmerzen«, unterbrach sie ihn.

Er stockte. »Natürlich. Entschuldige. Hexenschuss, sagte meine Assistentin? Beweg dich nicht, ich bin gleich bei dir.«

Er legte auf. Leo blieb am Boden liegen und starrte die Maserung der Holzdielen an. Das Schicksal hatte wirklich eine Vorliebe für gemeine Überraschungen. Jay-Luc Miller tauchte wie ein Zeitreisender aus ihrem alten Leben auf und brachte sie im Handumdrehen aus der Fassung. Ganz wie früher. Und wie damals war Katie daran beteiligt.

Die Sache zwischen Jay und Leo wäre vielleicht auch unter anderen Umständen nur von kurzer Dauer gewesen. Aber so, wie die Dinge damals standen, war sie vorbei, bevor sie das herausfinden konnten.

Leo erinnerte sich an den kalten Dezemberabend, an dem sie Jay kennengelernt hatte. Es war auf einer dieser Semesterpartys gewesen, wo Studenten aller Fachrichtungen zusammentrafen, um literweise Leberzellen tötende Hardcore-Bowle zu trinken, Hasch zu rauchen und furchtbar kluge Gespräche zu führen. Er war ihr sofort aufgefallen – der einzige Sonnenmensch unter wintergrauen Gesichtern. Jay kam aus Borneo, studierte Medizin und absolvierte sein Klinikum im Hamburger Institut für Tropenmedizin. Irgendwer aus seiner Abteilung hatte ihn auf diese Party geschleppt. Wie Leo kannte er kaum einen Menschen. Unter den ganzen Erstsemestern waren sie die Dinosaurier.

Ihre Kennenlernphase begann mit einem klassischen Fauxpas: Jay schüttete ihr im Gedränge einen Plastikbecher voll Bowle über die neuen Wildlederstiefel, für die sie sich vier Wochen lang beim Laubfegen in öffentlichen Parks Blasen an den Händen geholt hatte. Statt ihn anzufauchen, ging sie noch am selben Abend mit ihm ins Bett.

Katie hatte ihr Medizinstudium damals bereits abgeschlossen. |106|Sie träumte von einer Dozentenstelle in Seattle und hielt sich zu einem Symposium und einem anschließenden Urlaub in Kanada auf. Als sie wiederkam, befand Leo sich bereits in einem fortgeschrittenen Stadium von Verzückung und begriff nicht gleich, was passierte.

Katie kam, Jay sah, Katie siegte. So ungefähr musste es gewesen sein.

Leo fiel nur auf, dass Katie ihre emotionalen Höhenflüge mit seltsamer Distanziertheit verfolgte. Sie schob es der Zeit der Trennung zu – sie hatten sich fast ein Vierteljahr nicht gesehen – und dem Dämpfer, den Katie in Seattle erhalten hatte. Ihr Mentor hatte sich als nicht ganz so zuverlässig erwiesen wie gedacht, der Traum von einer strahlenden Universitätskarriere war geplatzt. Katie war gekränkt und enttäuscht und fühlte sich von aller Welt hintergangen.

Allmählich kapierte Leo, dass es noch einen anderen Grund für Katies ablehnende Haltung gab: Sie war Katie in die Quere gekommen. Katie hatte diejenige zu sein, der die Männer zu Füßen lagen, nicht Leo, und Jay-Luc Miller war der frisch gekürten Doktor Singer kein Unbekannter; Weißkittel kannten einander. Katie war durchaus von ihm angetan. Er hatte wahrscheinlich schon längst auf ihrer Abschussliste gestanden.

Der Fairness halber musste Leo zugestehen, dass Katie nach ihrer Rückkehr keinerlei Fallstricke ausgelegt hatte, um ihr Jay auszuspannen. Das war auch nicht nötig. Jay erlag ihr in Rekordzeit. Lange blonde Haare und Endlosbeine waren für ihn vermutlich genauso exotisch und aufreizend wie sein Sonnenlächeln für Leo.

Wie sie in schäbigem Triumph geschwelgt hatte, als auch Katie nach einigen Monaten zu den Verflossenen gehörte! Aber dann hatte sie begonnen, sich Sorgen zu machen. Was war los mit Katie?

Ich weiß es bis heute nicht, dachte Leo und legte ihre Wange auf die kühlen Holzbohlen. Gedankenverloren kratzte sie mit einem Fingernagel in der Maserung herum.

Es war immer etwas Merkwürdiges um Katie gewesen; sie schien |107|zwei Gesichter zu besitzen. Katie konnte liebenswert, freundlich und umwerfend charmant sein. Nach ihrer zufälligen Begegnung bei Irschinger dauerte es nicht lange, bis sie sich wiedersahen und schließlich Freundschaft schlossen.

Das war an einem Herbstnachmittag wenige Wochen nach Leos Unterhaltung mit Ludwig im Park gewesen. Das Wetter war längst nicht mehr so warm, aber dafür sonnig, als Leo ihre Mutter zu einer weiteren Sitzung bei Professor Irschinger brachte. Warmes Septemberlicht vergoldete den Nachmittag und die völlige Windstille schien wie eine freundliche Atempause vor der dunklen Etappe des Herbstes, die unweigerlich kommen würde. Für gewöhnlich dauerte die Sitzung zwei Stunden. Leo hatte keine Lust, sich ins Wartezimmer zu setzen und vertrieb sich die Zeit, indem sie sich Irschingers Rosenrabatte annahm. An jedem Strauch saßen mehr verblühte und braun verschrumpelte Blüten als Knospen. Leo war ganz in ihre Arbeit vertieft, als sie hinter sich jemanden sagen hörte: »Ich hasse Rosen.«

Überrascht blickte sie auf und sah sich der jungen Frau gegenüber, die ihr vor kurzem schon vor Irschingers Haustür begegnet war. Die langen Haare leuchteten in der Herbstsonne wie Gold. Sie war noch sommerlich gekleidet, zu leicht für einen so kühlen Tag, aber die dünne weiße Leinenbluse und der dazu passende kurze Rock betonten ihre schlanke Figur und ihre leichte Bräune. Was jedoch am meisten ins Auge fiel, war das strahlende Lächeln, das Leo sogar die abfällige Bemerkung hinnehmen ließ.

»Mir gefallen sie«, antwortete sie.

»Du bist Leonore, nicht wahr?«

»Leo.«

»Ich heiße Katie«, sagte die andere und streckte ihr die Hand hin. Leo ergriff sie wachsam.

»Woher …?«

Katie lachte erneut. »Der Professor hat deinen Namen mal erwähnt. Machst du das hier freiwillig?«

»Zum Zeitvertreib. Ich warte auf meine Mutter.«

|108|Katie sah auf ihre Uhr. »Sie müsste gleich fertig sein. Um fünf habe ich einen Termin. Ich studiere Medizin«, sagte sie. Leo vermutete, dass Irschinger sie im Rahmen eines Projektes betreute. Er hatte oft Studenten bei sich zu Gast.

»Warum magst du keine Rosen?«, fragte Leo, weil sie nicht wusste, wie das Gespräch weitergehen sollte. Katie warf die Haare zurück.

»Weil alle anderen sie mögen. Es sind Allerweltsblumen.« Sie musterte Leo prüfend, um zu sehen, ob sie sie damit gekränkt hatte.

»Außerdem machen sie nur Arbeit. Von den gemeinen kleinen Dornen ganz zu schweigen.« Dann lachte sie unvermittelt laut auf – ein Lachen wie eine kleine Explosion, dachte Leo – und hob die Hände.

»Hör nicht auf mich, das ist nur Unsinn. Es sind sehr schöne Blumen, wirklich! Ich habe nichts dagegen, wenn ein Mann mir Dutzende davon zu Füßen legt.« Sie sah Leo, die ihre Arbeit wieder aufgenommen hatte, eine Weile schweigend zu.

»Du bist sehr geschickt damit. Du solltest Gärtnerin werden.«

Leo konnte nicht feststellen, ob das eine weitere Stichelei war.

»Ich werde Gartenbau studieren«, sagte sie.

In diesem Moment öffnete sich die große Eingangstür und Leos Mutter verließ das Haus. Leo warf die abgeknickten Blüten auf einen kleinen Haufen und wischte sich die Hände an ihrer Jeans ab.

»Ich muss los. War nett, dich kennenzulernen.«

Katie zeigte ihre weißen Zähne. »Kennst du das Café Callin im Univiertel? Morgen um diese Zeit, auf einen Kaffee, ja? Ich freue mich!« Damit ließ sie die überrumpelte Leo stehen und eilte mit einem Gruß an Hanna Heller vorbei ins Haus.

Leo war versucht, die Begegnung zu vergessen und nicht hinzugehen. Aber Tatsache war: Sie hatte wenig Freunde, und da das Semester noch nicht begonnen hatte, hatte sie auch noch keine Studienkollegen |109|kennengelernt. Katies Freundlichkeit fiel auf fruchtbaren Boden.

Das war im Grunde kein Wunder. Katie wickelte alle Leute im Handumdrehen um den kleinen Finger, auch Ludwig. Leo hatte die beiden miteinander bekannt gemacht, als Katie plötzlich ihr brennendes Interesse für Wilhelm Busch entdeckte (denn natürlich war Leo im Café Callin erschienen und hatte sich von da an häufig mit Katie getroffen). Katie studierte damals neben Medizin auch ein paar Semester Kunsttherapie und hatte den Einfall, die Bildergeschichten von Busch kunsttherapeutisch zu analysieren, was Leo insgeheim für ein bizarres Unterfangen hielt. Ludwig ging es anfangs wohl ebenso, er war aber zu höflich, um sich etwas anmerken zu lassen, und mit der Zeit nahm ihn Katies Persönlichkeit ohnehin völlig gefangen. Stundenlang saßen die beiden in seinem kleinen Apartment beisammen, dann und wann lachte Katie ihr explosives Lachen und Ludwig strahlte. Vor allem aber fand sie es faszinierend, mit einem berühmten Wissenschaftler bekannt zu sein. Es dauerte lange, bis Leo das begriffen hatte; für sie war Onkel Ludwig nicht berühmt, sondern einfach Onkel Ludwig.

Die Beliebte, die Umschwärmte, die Kluge, die Hinreißende – das war die eine Katie. Für Leo hatte sie etwas von einer Margerite, heiter und sommersonnig. Aber Margeriten müssen alle paar Jahre ein Stückchen weiter wandern, weil sie mit ihren Wurzeln den Boden vergiften, von dem sie leben. Und so war es auch mit Katie. Unmerklich vergiftete sie ihre Umwelt. Wirklich zufrieden war sie nur, wenn sie im Mittelpunkt stehen konnte. Sie ertrug es nicht, sich zurückgesetzt zu fühlen. Und diese Empfindlichkeit schien mit den Jahren immer mehr zu wachsen. Sie war eifersüchtig, sie versuchte zu manipulieren. Das war die andere Seite an Katie.

Leo begriff immer noch nicht, wie es passieren konnte, dass Katie am Ende sie, Leo, für das Ende ihrer Beziehung zu Jay verantwortlich machte. Es war einfach zu verrückt. Mit der Zeit fand sie es geradezu beängstigend. Und weil es ihnen nicht gelang, sich einander |110|auf ungefährlichem Gebiet wieder zu nähern, war das das vorläufige Ende ihrer Freundschaft gewesen. Von gemeinsamen Bekannten erfuhr Leo angelegentlich, dass Katie umgezogen war, einen neuen Job hatte und sich ab und an noch mit Jay traf.

Und der würde nun in wenigen Minuten hier bei ihr erscheinen, um mit ihr über Katie zu sprechen und sie nebenbei ein wenig zu verarzten.

Großer Gott.

Sie musste sich nicht nur den Rücken, sondern auch den Kopf verletzt haben. Immerhin funktionierte ihre Selbstachtung noch so weit, dass sie sich nicht in dieser hilflosen Lage präsentieren wollte.

Los, Knie, bewegt euch.

Leo versuchte noch, zum Sofa zu kriechen, als es klingelte. Jay war schon an der Tür.

»Ich komme!«, rief sie. »Dauert ein bisschen.«

Dummerweise war der Stuhl noch unter die Klinke geklemmt. Jetzt wurde es schwierig.

Jay klopfte. »Alles in Ordnung, Leo?«

Konnte man nicht sagen, nein. Nichts war in Ordnung.

»Kannst du nicht öffnen?«

»Doch, doch, Moment … Dieser dämliche Stuhl –«

Sie zog und zerrte, bis er polternd umfiel, und kippte schließlich wimmernd zur Seite.

Jay drückte die Tür auf und beugte sich über sie.

»Eigentlich hatte ich mir unser Wiedersehen etwas anders vorgestellt«, ächzte Leo.

»So? Wie denn?« Jay lächelte sein Sonnenlächeln, und es wärmte noch genau so wie früher. Sie war entschlossen, ihm keine Chance zu geben.

»Konventioneller, würde ich sagen. Aber mein Rücken … Ich hab plötzlich einen Schlag in den Rücken …«

»Lass mal sehen.« Jetzt war er ganz der geschäftsmäßige Arzt.

»Tut es hier weh? – Und hier? Spürst du das? – Kannst du das |111|Bein bewegen? – Und das andere?«

Ja. Nein. Nein. Ja. Auauauauaua. »Ich wollte doch nur die Rose ein Stückchen zur Seite ziehen …«

»Edwina? Du hast sie immer noch?« Jay sah sich um. »Es sind nur etwa drei Meter zum Sofa. Glaubst du, du schaffst das, wenn ich dir helfe?«

»Ich schaff’s alleine.«

Wie ein betrunkener Regenwurm robbte sie auf die Teppichzone in der Zimmermitte zu.

»Auf dem Boden bleiben«, befahl Jay, als sie sich am Sofa hochziehen wollte. »Leg die Beine hoch.«

In Ordnung. Wenn nur der Schmerz nachließ.

»Ich empfehle dir eine Untersuchung durch einen Orthopäden. Lass dich durchchecken. Könnte ein Bandscheibenvorfall sein.«

Herrgott, sie hatte genug mit anderen Vorfällen zu tun. Mussten sich da auch noch die eigenen Knochen gegen sie verschwören? Verdrossen sah sie zu, wie er eine Ampulle und eine Spritze hervorholte.

»Seit wann hast du eigentlich eine Katze?«, fragte er, während er die Ampulle aufbrach und eine klare Flüssigkeit auf die Spritze zog.

»Ich habe keine. Ich hasse Katzen. Wie kommst du darauf?«

»Irgendein Tier hat dir eine tote Ratte vor die Tür gelegt. Ich dachte, Katzen tun so was. Sieht nicht sehr appetitlich aus.«

Leo schloss die Augen und hörte ihn gegen die Spritze klopfen.

»Dreh dich ein bisschen auf die Seite. Gut, das reicht schon.« Er hielt inne. »Ich muss dich warnen: Jede Lernschwester hat ein besseres Händchen dafür als ich.«

Das war nicht übertrieben. »Ein Hoch auf die Lernschwestern«, ächzte Leo, als er fertig war. »Sei so gut, gib mir das Telefon und den Zettel, der daneben liegt.« Sie wählte.

»Paul? – Hier Leo. Auf meiner Türschwelle wartet etwas auf Sie. Ich möchte, dass Sie sich darum kümmern. Schnappen Sie sich Zeitungspapier und eine Kehrschaufel und erledigen Sie das, ja?«

|112|Sie legte auf, bevor er eine Entschuldigung hervorbringen konnte.

Jay sah sie neugierig an. »Gibt’s ein Problem?«

»Nur der Hund meines Nachbarn. In seinen Hundeträumen stellt er sich vor, dass ich ihn innig liebe, wenn er mir fette Beute anschleppt. Er gibt sich Mühe, das muss man ihm lassen.«

Jay verzog angeekelt das Gesicht und setzte sich neben ihre hoch gelegten Beine auf das Sofa. Dann ließ er seine Blicke durch das Zimmer schweifen.

»Dein Onkel hat hier gewohnt, nicht wahr?«

Es war eher eine Feststellung als eine Frage; Leo bemerkte es mit Verwunderung.

»Ich habe es in den Unterlagen gesehen. Du hast zwar nicht oft von ihm gesprochen, aber es fiel mir wieder ein, als ich den Namen vor mir hatte. Es tut mir leid, was passiert ist.«

»Woher weißt du … Was für Unterlagen?«

»Er wurde zu uns in die Notaufnahme gebracht. Ich hatte Nachtdienst, als sie ihn eingeliefert haben.« Er sah sie mitfühlend an. Sie mied seinen Blick.

»Wir konnten nichts tun. Er ist nicht mehr aufgewacht.«

»War er allein, als er starb?«

»Nein. Eine ältere Frau war die ganze Zeit bei ihm. Hellwig oder so ähnlich. Sie sagte, sie sei eine Freundin.«

Ruth Herwig. Leo war froh darüber.

»Spürst du schon was von der Spritze?«, fragte Jay.

»Nein. Aber das wird schon. – Und wie geht’s dir so?«

Überflüssige Frage. Jay sah blendend aus. Wahrscheinlich hatte er bereits sämtliche Krankenschwestern in seiner Abteilung flachgelegt. Heute trug er eine hellgraue Tuchhose und ein schwarzes Kaschmirpullöverchen, aus dem ein weißer Hemdkragen herausblitzte – sein Geschmack in Kleiderfragen war jedenfalls nicht schlechter geworden. Nur der Bronzeton seiner Haut war eine Spur blasser, als Leo ihn in Erinnerung hatte; offenbar hatte er seiner Sonneninsel schon längere Zeit keinen Besuch mehr abgestattet.

|113|Jay ließ einen Seufzer hören.

»Im Grunde gut, danke. Das heißt, mir geht es gut. Aber ich mache mir Sorgen um Katie.«

Er sagte Kaytee, mit weichen, gedehnten Vokalen, wie es Katie immer gefallen hatte, weil es nach etwas Besonderem klang. Doch plötzlich zögerte er, als sollte er ein wirres Knäuel aufwickeln und wüsste nicht, wo er anfangen sollte.

»Es ist vielleicht ein bisschen verrückt. Nur so ein Gefühl; ich weiß es nicht so genau. Sie hat sich verändert.«

»Das tun wir alle, nehme ich an. Wäre schlimm, wenn nicht.«

Leo hoffte jedenfalls, dass auch sie sich verändert hatte. Andernfalls würde sie das Bewusstsein verlieren, wenn er weiterhin so dicht neben ihr saß und noch einmal so lächelte.

»Das meine ich nicht«, sagte er. »Sie ist nicht sie selbst. Etwas stimmt da nicht. Wann hast du sie das letzte Mal gesehen?«

»Das weißt du doch.« Es war auch die letzte Begegnung zwischen Leo und Jay gewesen. Leo fand nicht, dass sie sich daran unbedingt erinnern wollte.

»Wie wirkte sie auf dich?«

»So wie immer.«

»Aber wenn du sie jemandem beschreiben solltest: Wie war sie?«, insistierte Jay.

Leo drückte unbehaglich ihre Schultern auf den Teppich. »Jay, was soll das?«

»Bitte, es ist wirklich wichtig! Wie war sie?«

»Temperamentvoll. Selbstbewusst. Umwerfend charmant. Sie wusste genau, wie sie auf Männer wirkte.«

»Und ihr Äußeres?«

»Willst du eine Vermisstenanzeige aufgeben, oder was? ›Suche die Katie Singer von früher‹?«

Er sah sie traurig an, und Leo lenkte ein. »Also gut. Lass mich nachdenken. – Attraktiv, gepflegt. Groß, schlank, ziemlich teure Kleidung, sehr modisch, die Haare lang, blond, meistens offen.«

»Bitte, da hast du es.«

|114|Langsam ging er ihr auf die Nerven. Katie, Katie, Katie. Wieder drehte sich alles nur um sie.

»Wir haben nach unserer Trennung zwar immer noch Kontakt gehalten, aber ich war ziemlich eingespannt«, sagte er. »Die Promotion, der Umzug, der neue Job, du weißt ja, wie das ist. Vielleicht ist es mir deswegen nicht sofort aufgefallen, dass sie immer zurückhaltender wurde.«

Leo sah ihn entgeistert an. Das fand er merkwürdig? Nach allem, was geschehen war? – Männer!

»Wir haben uns zwei-, dreimal getroffen, aber sie behauptete immer, sie sei sehr beschäftigt. Sie war kurz angebunden und sehr sachlich. Wir redeten nur noch über neue Entwicklungen bei Untersuchungsmethoden und schwierige Patienten. Auch äußerlich hatte sie sich verändert. Als ich sie das letzte Mal sah, habe ich sie erst gar nicht erkannt. Sie wirkte viel älter. Kein Lipgloss, Ringe unter den Augen, graue Haut. Sie strahlte nicht mehr. Ja, und die langen blonden Haare, du erinnerst dich, wie alle sie immer fasziniert anstarrten, wenn sie den Kopf schüttelte und ihre wundervollen Locken ihr über die Schultern fielen, also die hat sie zu einem strengen Knoten gedreht. Sie sieht so farblos aus.«

Leo hörte ein Geräusch vor der Tür. Papier raschelte, Paul Ostermann hustete leise.

Jay war noch bei Katie. »Und dann hatte sie einen langen Rock an, irgendwie unförmig, dazu einen kratzigen Pullover, alles dunkel, schwarz oder braun. Sag selbst, ist das noch unsere Katie?«

Unsere?

»Nur weil eine Frau ihren Stil wechselt, bedeutet das noch nicht den Weltuntergang«, sagte Leo gereizt. »Vielleicht hat sie viel Arbeit und keine Zeit für Kleidung.«

»Ich weiß ja, dass sich das alles äußerst vage anhört, aber ich werde einfach das Gefühl nicht los, dass es ihr nicht gut geht!« Jay blickte besorgt ins Leere. »Es ist zu einsam dort, wo sie jetzt ist. Ein Pflegeheim im Wald, ich bitte dich! Das ist kein Platz für eine Frau |115|wie sie. Sie braucht Abwechslung, Kultur, Menschen. Sie braucht Freunde!«

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22 aralık 2023
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9783866740853
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