Kitabı oku: «Sehnsucht nach Glück - im Gestern, im Morgen, im Jetzt!»
Ilona M. Fudali
SEHNSUCHT NACH GLÜCK
Im Gestern, im Morgen, im Jetzt!
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2021
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Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über https://dnb.de abrufbar.
Copyright (2021) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte bei der Autorin
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Prolog
Tagebuch Teil 1 Finge das Herz an zu denken, würde es aufhören zu schlagen
03. Februar 2015/ Dienstag
16. Februar 2015/ Rosenmontag
15. März 2015/ Montag
23. März 2015/ Montag
06. April 2015/ Montag
10. April 2015/ Freitag
11. April 2015/ Samstag
19. April 2015/ Sonntag
22. April 2015/ Mittwoch
24. April 2015/ Freitag
28. April 2015/ Dienstag
29. April 2015/ Mittwoch
05. Mai 2015/ Dienstag
08. Mai 2015/ Freitag
11. Mai 2015/ Montag
19. Mai 2015/ Dienstag
21. Mai 2015/ Donnerstag
29. Mai 2015/ Freitag
30. Mai 2015/ Samstag
12. Juni 2015/ Freitag
13. Juni 2015/ Samstag
20. Juni 2015/ Samstag
04. Juli 2015/ Samstag
Tagebuch Teil 2 Und ich liebe dich doch!
29. Juli 2017 / Samstag
30. Juli 2017 / Sonntag
01. August 2017 / Dienstag
06. August 2017 / Sonntag
07. August 2017 / Montag
13. August 2017 / Sonntag
15. August 2017 / Dienstag (Mariä Himmelfahrt)
16. August 2017 / Mittwoch
18. August 2017 / Freitag
20. August 2017/ Sonntag
28. August 2017/ Montag
01. September 2017 / Freitag
03. September 2017 / Sonntag
04. September 2017 / Montag
15. September 2017 / Freitag
16. September 2017 / Samstag
17. September 2017 / Sonntag
18. September 2017 / Montag
19. September 2017/ Dienstag
20. September 2017/ Mittwoch
22. September 2017/ Freitag
23. September 2017/ Samstag
26. September 2017/ Dienstag
30. September 2017/ Samstag
01. Oktober 2017/ Sonntag
02. Oktober 2017/ Montag
03. Oktober 2017/ Dienstag
04. Oktober 2017/ Mittwoch
05. Oktober 2017/ Donnerstag
06. Oktober 2017/ Freitag
07. Oktober 2017/ Samstag
09. Oktober 2017/ Montag (6 Uhr)
11. Oktober 2017/ Mittwoch
13. Oktober 2017/ Freitag
15. Oktober 2017/ Sonntag
18. Oktober 2017/ Mittwoch
20. Oktober 2017/ Freitag
21. Oktober 2017/ Samstag
22. Oktober 2017/ Sonntag
26. Oktober 2017/ Donnerstag
27. Oktober 2017/ Freitag
29. Oktober 2017/ Sonntag
30. Oktober 2017/ Montag
31. Oktober 2017/ Dienstag
01. November 2017/ Mittwoch
02. November 2017/ Donnerstag
Tagebuch Teil 3 Das Heil der Welt beginnt in uns
11. November 2017/ Samstag
13. November 2017/ Montag
17. November 2017/ Freitag
18. November 2017/ Samstag
19. November 2017/ Sonntag
20. November 2017/ Montag
21. November 2017/ Dienstag
24. November 2017/ Freitag
25. November 2017 / Samstag
26. November 2017/ Sonntag (Letzter Tag im Kirchenjahr)
27. November 2017/ Montag
29. November 2017 /Dienstag
30. November 2017/ Donnerstag
01. Dezember 2017/ Freitag
01. Dezember 2017/ Samstag/ am Abend
03. Dezember 2017/ Sonntag
04. Dezember 2017/ Montag, um Mitternacht
06. Dezember 2017/ Mittwoch
07. Dezember 2017/ Donnerstag
01. Februar 2019 / Freitag
Epilog
PROLOG
Sie saß sehr oft und gerne vor ihrem Fenster und schaute nach draußen. Jeden Tag breitete sich die gleiche Gegend vor ihr aus; nicht nur die lange Straße, die sich weit hinzog und kein Ende zu haben schien, sondern auch sonst die vielen alten Häuser, die Bäume, die Fabrik am Horizont. Was sich lediglich veränderte waren die Jahreszeiten und das tägliche Wettergeschehen. Aber auch dieses berührte sie nicht sonderlich, obwohl ihr nie langweilig war, einfach nur so da zu sitzen und zu beobachten. Für denjenigen, der ganz genau hinschaute, offenbarte sich ein gläserner Blick, der verriet, dass sie in eine ganz andere Welt schaute – eine Welt, die hinter dieser vordergründigen Fassade oder noch wo anders steckte? Kein Wunder, dass sie die Katze von dem gegenüberstehenden Baum nie herunterspringen sah, dass sie den gebeugten alten Mann, der mit der Einkaufstasche jeden Tag an ihrem Haus vorbeiging, nicht bemerkt hatte. Auch dass die zwitschernden Vögel in den Ästen aufgeregt auf der Suche nach Grashalmen waren, um ihre Nester auszubessern, gingen an ihr vorbei. Stattdessen beschäftigten die vorüberziehenden Wolken ihren Geist, die immer wieder ihre Form veränderten und sich nach und nach im Nichts auflösten. Wieder einmal, dachte sie, würde es immer wärmer und heller werden. Wieder würden die Blumen aufblühen und etwas Leben in die grauen Straßen bringen. Aber genauso wie die Wolken würden die Blumen einmal wieder vergehen und sich dann im Nichts auflösen. Jedes Mal, wenn sie aus dem Fenster sah, wurde ihr ihre Vergänglichkeit bewusst, dass nichts ewig währt und im nächstbesten Augenblick sofort verschwindet. Sie seufzte, dass es fast schmerzte.
„Wozu also sich über etwas freuen, wenn man es doch gleich wieder verliert?“ Einmal mehr stellte sie sich diese Frage und dabei entgingen ihr die wärmenden Sonnenstrahlen, die sie angenehm auf ihrer Haut spürte. Wie sollte sie diese auch fühlen, wenn in ihr drin sich eine kalte Leere Platz verschaffte und ihr ihren Mut und ihre Energie nach und nach raubte. So nahm sie auch die Wärme der gelben, kariert gemusterten Decke ihrer geliebten, aber schon vor einem Jahr verstorbenen Oma auf ihren Knien nur zweitrangig wahr. Während draußen der Sommer aufwachte und alles sich zu regen und zu bewegen schien, kam es ihr selbst vor, als wenn sie als einzige auf der Stelle stehen geblieben wäre. Mit einem Seufzer sah sie wieder den Himmel an; sah seine Unendlichkeit und die ungeheure Weite und Tiefe und – Leere. Aber war das kleine Pünktchen, das sich jetzt dort ganz oben von links nach rechts bewegte nicht ein Flugzeug? Jetzt bemerkte sie ihn auch. „Bestimmt“, dachte sie sich, „sitzen da auch Menschen und schauen genau wie ich aus dem Fenster!“
Ihren fernen Gedanken und Grübeln machte plötzlich ein dumpfer Schlag an der Fensterscheibe einen scharfen Schnitt.
Sie stand von ihrem bequemen Stuhl verschreckt auf, öffnete das Fenster und entdeckte auf einmal auf der Fensterbank eine Papierschwalbe aus weißem Seidenpapier, was ihr ein Lächeln entlockte. Ja – sie lächelte! Sie konnte sich das nicht verkneifen, weil es ihr komisch erschien, dass ausgerechnet in dem Moment, wo sie mit den Gedanken bei einem Flugzeug war, ein Flieger aus Papier auf dem Fenstersims landete.
Sie hob die Schwalbe auf und bemerkte, dass darauf etwas Geschriebenes stand: „Wie geht es Dir? Du kennst mich nicht, nehme ich an, aber ich sehe dich oft am Fenster und frage mich, ob Du nicht einmal nach draußen kommen willst? Vielleicht könnten wir etwas unternehmen?“
Wer war das? Wer nahm sich das Recht, sie heimlich zu beobachten? Warum weiß sie nichts von diesem Fremden? Was will dieser Unbekannte eigentlich von ihr?
Während noch Tausend andere Fragen ihr Gehirn durchkreuzten, reckte sie noch einmal hastig den Hals zum Fenster vor, um vielleicht noch den heimlichen Beobachter zu entdecken. Sie guckte sich von rechts nach links, entgegen des Uhrzeigersinns um, und plötzlich durchdrang es sie wie ein Blitz: Ihre Augen trafen sich mit denen eines Jungen. Er stand an der Ecke des gegenüberstehenden Ziegelhauses mit einem Fuß an die Wand angelehnt, trug eine dunkelblaue Jeansjacke, darunter ein weißes T-Shirt und eine ausgewaschene Jeanshose. An den Füßen waren die Sneakers nicht zu übersehen. Sie hatten sogar die gleiche schwarz-weiße Farbe wie ihre! Er versteckte sein Kinn unter dem hochgestellten Kragen der Jacke, als wäre er James Dean, und schaute sie paradoxer Weise selbstbewusst aber gleichzeitig schüchtern aus den Augenwinkeln von unten an und dann lächelte er sie an. Wie konnte er nur? Frechheit. Wie konnte er sie nur so unverschämt anlächeln? Ohne lange zu überlegen machte sie das Fenster zu und zeigte ihm die kalte Schulter. Erst jetzt bemerkte sie, wie heiß es ihr auf einmal war. Der Blick in den Spiegel zeigte ihr, sie hatte glühende Wangen.
„Was war denn bloß los mit mir?“, fragte sie sich. Zuerst muss ich über eine blöde Schwalbe lächeln und dann dieser Typ! War das nicht unglaublich? Noch vor wenigen Tagen und Momenten war für mich fast alles relativ und mehr oder weniger nebensächlich, sogar meine Existenz. Nichts berührte sie sonderlich oder forderte sie heraus – und nun plötzlich dieses
Erdbeben, dieser Vulkanausbruch, dieser Windstoß! In heller Aufregung und Verärgerung zitterte sie am ganzen Leib. Was sollte sie machen? Sie setzte sich wieder auf den Stuhl, doch dieser schien ihr jetzt zu hart und irgendwie war er auf einmal nicht mehr so gemütlich wie vorhin. Sie spürte lauter Ameisen durch ihren Körper laufen, so dass das Stillsitzen nicht mehr so richtig klappte. Sie stand auf und tastete sich noch einmal vorsichtig ans Fenster.
Der Junge war nicht mehr da.
Ihr Puls wurde nun langsamer und endlich konnte sie wieder durchatmen. Sie kühlte ihre Wangen im Badezimmer mit kaltem Wasser ab und sah sich im Wandspiegel ihr eigenes Gesicht genauer an. Fast hätte sie sich nicht wieder erkannt. Waren das ihre glänzenden, blauen Augen, die sie jetzt so lebhaft anfunkelten? Hatte sie schon immer diese Grübchen in den Mundwinkeln? Und ihre Wangenknochen haben sich noch nie so bemerkbar gemacht, jedenfalls sind sie ihr bis jetzt nicht sonderlich aufgefallen. Sie nahm die Haarbürste in die Hand und kämmte langsam ihr schulterlanges Haar durch. Sie trug sehr selten ihre Haare offen, weil sie ihr immer ins Gesicht flogen. Doch nun sah sie, dass sie mit offenen Haaren sehr schön aussah – auf irgendeine Weise reifer. Außerdem schmückten diese ihr zierliches Gesicht, machten es noch sanfter und weiblicher.
Sie suchte sofort aber nach ihrer Spange und konnte nicht glauben, wie blöd sie doch war! Wieso hielt sie sich mit so unwichtigen Dingen wie den Haaren auf? Schnell und verärgert band sie sich diese zu einem Zopf zusammen und ging wieder in ihr Zimmer zurück. Von der Tür aus sah sie wie die Sonne in ihren letzten Zügen unterging. Doch irgendwie löste das bei ihr nicht wie gewöhnlich Melancholie oder Traurigkeit aus. Vielmehr verspürte sie zum ersten Mal die Kraft der Sonne; wie sie die Blätter des Baumes, der hinter dem Zaun gegenüberstand, mit ihren Strahlen zum Leuchten brachte und wie ihr Licht noch zu so einer späten Stunde einhüllende Wärme schenkte. Auch wenn die Sonne unterging, es machte ihr seltsamerweise nicht viel aus. Denn nun leuchtete etwas tief in ihr und das würde bestimmt nicht so schnell untergehen.
Sie ging bedächtig zur Fensterbank hinüber und nahm noch einmal aufgeregt die Papierschwalbe in die Hand. „Was ist bloß mit mir los?“. Und mit dieser Frage überkam sie ganz plötzlich Lust ganz laut „Somewhereovertherainbow“ zu singen.
Hastig packte sie ihr selbstgemachtes, in Pergamentpapier eingepacktes Butterbrot in ihre Stofftasche ein. Sie mochte gar nicht darüber nachdenken, was sonst noch alles da drin lag. Ganz kurz lief ihr nur das teure Deutschbuch durch den Kopf und die grauenhafte Vorstellung, dass vielleicht in der Sommerhitze die Butter aus dem Butterbrot auslaufen und alles verschmieren könnte. Sie hatte einfach keine Zeit mehr, jetzt noch nach einem Plastikbeutel zu suchen. Mit einem Schluck trank sie ihren Pfefferminztee aus, griff noch in der Türschwelle nach dem Hausschlüssel, knallte die Tür hinter sich zu – was ihre Mutter bestimmt aufweckte – und lief so schnell sie konnte Richtung Bushaltestelle. Hoffentlich kommt sie jetzt nicht zu spät! Auf dem halben Weg fiel ihr auf einmal ein, dass sie tatsächlich etwas Wichtiges vergessen hatte: Natürlich die Monatskarte für den Bus. Sie schaute auf die Uhr, doch es war schon zu spät, um umzukehren. Sie durfte die Frühstunde nicht verpassen, denn heute war sie mit dem Referat in Geschichte dran. Der Lehrer war ziemlich pingelig und achtete sehr auf Pünktlichkeit. Sie mochte ihn trotzdem irgendwie gut leiden, weil bei ihm der Unterricht einfach sensationell war. Die sonst so langweiligen Ereignisse von damals wurden jedes Mal zum wahren Erlebnis. Herr Lackmann, der Geschichtslehrer, konnte so unglaublich bildhaft erzählen, dass man glaubte, sich mittendrin in den Geschehnissen zu befinden und die Situationen der Menschen in den letzten Jahrhunderten sowie ihre Schicksale richtig nachempfinden zu können. Sie besprachen momentan das 18. Jahrhundert und sie war heute mit dem Thema „Französische Aristokratie zur Zeit der Revolution“ dran. Auch heute hat sie den Wecker nicht gehört und alles ging so schnell, dass sie fast ihren Kopf zu Hause vergessen hätte. Aber wenigstens kam sie jetzt rechtzeitig zum Bus. Im hinteren Bereich war noch ein Platz frei. Sie setzte sich erleichtert, aber außer Puste hin und atmete erst einmal tief und schwer durch. Sie hörte ihr Herz im Takt des Techno-Liedes schlagen, das aus den Kopfhörern des Mädchens vor ihr erklang. Sie atmete tief durch, schloss kurz die Augen und versuchte sich zu fassen. Seit dem letzten Vorfall am Fenster, der Papierschwalbe, dem unbekannten Jungen war sie zerstreut wie noch nie. Die dumpfen Geräusche des Busmotors und das wippende Gefühl auf dem Sitz ließen sie etwas zur Ruhe kommen.
Doch war die Ruhe nicht von langer Dauer, denn wie aus dem Nichts stupste sie auf einmal ein spitzer Finger drei Mal nacheinander an. Sie öffnete ihre Augen und sofort schoss ihr das Blut wieder in die Adern: „Fahrkartenkontrolle. Bitte zeigen sie ihren Fahrausweis vor“, lauteten die klaren, tief klingenden Worte des etwas stämmigen Schaffners. „Wieso passieren immer nur mir lauter so dummer Sachen und womit hab ich das hier verdient?!“ Sie schrie innerlich vor Verzweiflung. Die Leute um sie herum drehten sich auch genau in dem Augenblick zu ihr um, als wenn sie den Verzweiflungsschrei gehört hätten und schauten sie erwartungsvoll an. Der Schaffner wiederholte abermals seine Worte, während sie sich heimlich unter ihrer Tasche in den Arm zwickte, um sich zu vergewissern, dass sie nicht träumte. Und wenn sie träumte, so wollte sie endlich aus diesem Alptraum erwachen. „Hat es ihnen die Sprache verschlagen, junges Fräulein, oder fahren sie heute schwarz?“, betonte nochmals die etwas angehobene Stimme. Sollte sie jetzt anfangen, sich zu entschuldigen? Sollte sie ihm jetzt erklären, wieso, weshalb und warum? Ihre Kehle schnürte sich zu. Die Verzweiflung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Weglaufen war jetzt unmöglich! Sie stotterte nur ein klägliches „Ich, … ich …“ hervor und sah lauter hässlicher Glubschaugen der Mitreisenden auf sich kleben. Nur noch ein Wunder könnte sie jetzt von ihren Qualen erlösen.
„Hhmm“, räusperte sich jemand hinter dem Schaffner, „entschuldigen sie Herr Schaffner. Hier ist das Busticket der jungen Lady. Sie hat es vorhin in der Eile fallen lassen. Ich hätte es ihnen sofort geben müssen, aber ich Tollpatsch war gerade abgelenkt. Bitte, nehmen sie es.“ Der Schaffner nahm das Ticket nach kurzem Zögern in die Hand, sah es sich prüfend an und nickte dann schließlich zustimmend. Schweigend ging er weiter, ohne großartig irgendwelche Fragen zu stellen. Die Glubschaugen wurden verdächtig zusammengekniffen, bevor sie von ihr abließen.
Es konnte nicht wahr sein! Sie hatte doch kein Ticket gehabt und dieser Mensch kam ihr wirklich wie vom Himmel herab. Erleichtert drehte sie sich nach der Person, die ihr das Leben gerettet hat um, um sich zu bedanken, und wünschte sich im gleichen Augenblick, am liebsten sofort im Erdboden zu versinken.
Denn da war er wieder.
Der geheimnisvolle Junge, dessen Gesicht sie in letzter Zeit nicht aus dem Gedächtnis ausradieren konnte. Er lächelte sie wieder verschmitzt an. Eigentlich wünschte sie sich insgeheim, ihn einmal wieder zu sehen, aber nun war sie nur peinlich berührt und etwas wütend über den Vorfall. Sie zog die Stirn zusammen, senkte den Blick und drehte sich energisch wieder um. Sie fühlte nur wie sie langsam in sich zusammensackte und sich so lächerlich vorkam. Ihre Gefühle waren auf einmal so aufgewühlt und sie bekam sie nicht mehr in den Griff. Ihre Augen füllten sich mit Tränen; sie wünschte der Tag sei zu Ende. Wie in Trance stieg sie an der Schule schnell aus. Sie sah zu allem Unheil aus den Augenwinkeln ihre Tasche voll beschmiert mit Butter und weil ihr das alles zu viel war, rannte sie ohne zu überlegen einfach drauf los. Sie rannte und sprintete davon, als wenn jemand ein Startschuss zum Wettlauf abgegeben hätte. Kein Hindernis konnte sie jetzt aufhalten. Sie merkte wieder den großen, dicken Knoten in ihrem Hals, der jetzt riesig zu schmerzen begann und ihr Herz schien gleich zu zerspringen. Die Dinge gerieten in letzter Zeit zu sehr außer Kontrolle und das war jetzt irgendwie zu viel für sie. Der Geschichtsunterricht rückte in die weite Ferne und die Konsequenzen waren ihr egal. Sie wollte weg, am liebsten bis an das andere Ende der Welt, wo sie keiner kannte und sah und alles Schlimme vorbei war.
Da saß sie nun, in dem Vorraum der Toilettenräume der Schule neben dem Waschbecken in der Ecke verweint und außer sich. Der ganze Greul und Schmerz brach nun aus ihr heraus, sie heulte wie ein Schlosshund, denn keiner konnte sie hier hören. Sie wusste nicht den genauen Grund, es brach aus ihr einfach aus. Wieso gab es denn so viele Hindernisse auf dem Weg zum glücklich sein, fragte sie sich immer und immer wieder. Sie verstand nicht, warum allen Leuten um sie herum alles gelang, warum sie lachen konnten, ständig Lorbeeren sammelten und keine Probleme hatten. Sie wüsste zu gerne, warum es bei ihr nicht so war und warum zum Kuckuck noch mal ihr das Leben so schwerfiel. Diese kalte und unberechenbare Welt, die sie um sich herum wahrnahm, machte es ihr zu schaffen. Das Weinen schien jetzt der einzige Trost zu sein, der ihr noch blieb. Schwer, eigentlich überhaupt nicht, konnte sie sich nur annähernd einen Menschen vorstellen, der sie etwas verstehen würde. Sie wünschte sich so unbeschwert und leicht wie eine Feder zu sein – alles wäre dann vielleicht leichter.
Als der tief innere Schmerz nach einiger Zeit langsam nachließ, öffnete sie die Augen, schluchzte und schniefte noch ab und zu, putzte sich die Nase und beäugte dann ihre Umgebung, in die es sie heute Morgen verschlug. Sie schaute sich die weißen Kacheln an den Wänden an, spürte auf einmal die starke Kälte, die vom Boden her zog ganz deutlich. Ihr Blick kreiste langsam umher, bis er an der gläsernen Eingangstür zu den Toilettenräumen hängen blieb. Eine Fliege versuchte verzweifelt gegen das Glas anzufliegen und verwendete die ganze Energie darauf, einen Weg in das Freie zu finden, einen Weg in die Natur zu schlagen. Die Fliege tat ihr leid, denn sie wusste, dass diese ohne ihre Hilfe ein unlösbares Problem hat. Sie stand kurz entschlossen auf und drückte die große Tür weit auf. Die Fliege wusste noch nicht so recht wohin, aber als sie den Luftzug erst einmal vernahm, war sie mit einem Flügelschlag auf und davon.
Sie schaute ihr sehnsüchtig hinterher bevor sie wieder zu ihrer Tasche zurückging, um sie aufzuheben. Etwas gedankenverloren strich sie sich eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht zur Seite und schlenderte schleichend heraus aus dem „Raum der Tränen“. Kaum vor der Tür bekam sie aber einen riesigen Schreck, denn an der Tür stand jemand aus der Hocke vom Boden auf, so schnell, als würde er sich bei einer schlechten Tat ertappt fühlen.
Da war er wieder.
Der unbekannte Junge, der sie seit Tagen entweder auf der Straße oder heute im Bus oder seit dem Vorfall am Fenster in ihren Gedanken verfolgte. Ihr Schritt erstarrte für zwei Sekunden.
Der Junge schwieg und sah etwas verlegen aus. Die Blicke trafen sich. Schweigen umhüllte die gespannte Atmosphäre.
Sie biss die Zähne zusammen und schluckte, schaute ganz schnell weg und nahm ihren Schrittgang ohne ein Wort zu wechseln entschlossen auf. Immer schneller und schneller ging sie davon – sie wollte schnell flüchten, denn er sollte ihre verweinten und dadurch geschwollenen Augen nicht ansehen.
Sie fühlte sich beschämt, denn nun wurde ihr klar, er hat an der Tür alles mitgekriegt. Er dachte jetzt bestimmt von ihr, sie sei völlig übergeschnappt so wie sie da vor sich hin heulte. Sie hatte Angst, er würde sie auslachen, sie verspotten und nicht verstehen. Jetzt nur noch nach Hause gehen, dachte sie sich und wurde nur noch schneller im Gang bis sie rannte.
„Jule!!!“, rief er ihr nach, „Jule, warum rennst Du weg? Warte doch, ich möchte Dir etwas sagen!“ Sie sah sich hastig um, er lief ihr tatsächlich nach. „Warum machte er das?“, fragte sie sich, warum stellte er ihr das Leben auf dem Kopf und machte alles nur noch komplizierter als es schon selber war? Warum verschwand er nicht einfach und ließ sie nicht in Ruhe? Sie hatte doch keine Kraft mehr und nun, wie verteufelt, kriegte sie auch noch die riesige Ausgangstür der Schule nach draußen nicht auf. Schnell, dachte sie sich, bevor er mich einholt. Sie drückte und stemmte die Tür, sie schob und stieß diese. Doch die Tür rührte sich nicht von der Stelle. Die Kraft verließ sie, so dass sie schließlich der Kraftlosigkeit nachgab. Resigniert sanken ihre Hände nach unten. Gleich würde er sie einholen. Wie in eine Ecke gedrängt, wie gefangen fühlte sie sich. Gleich wird sie die riesige Welle überrollen und sie wird vor Scham und Angst untergehen. Sie fühlte sich hilflos und wie ein Opfer ihrem Täter ausgeliefert. Sie kniff die Augen fest zusammen.
„Warte, ich helfe Dir“, klang es nun sanft hinter ihrem Rücken. Er hat sie eingeholt und nun legte er seine Hand auf ihre Schulter und drehte sie zu sich um. Er hob ihr Kinn hoch und lächelte ihr aufmunternd zu. Vorsichtig machte sie die Augen auf und sah in seine leuchtenden Augen. Sie waren so strahlend und tief blickend. Er streichelte zart ihr Gesicht und drückte sodann die vorhin so schwere und klemmende Tür mit einem Ruck nach vorne weg. Mit prüfendem und fragendem Blick schaute sie ihn an und fragte verwundert, nachdem sie ihre Stimme wieder gefunden hat: „Woher kennst Du eigentlich meinen Namen?“ Sie standen noch immer im Eingang. Der Junge schwieg. Seine Augen umarmten ihr Antlitz. Er nahm vorsichtig ihre Hand und sagte nur: „Komm, lass uns gehen.“ Sie zögerte, gab ihm aber ihre Hand. Sie gingen langsam ein paar Schritte vor die Tür. Doch ein Gefühl des Unbehagens breitete sich in ihr aus, so dass sie seine Hand losließ und sich gezwungen sah zu sagen: „Ich kann nicht mit dir weitergehen.“ Sie blieben stehen. Die Stille und die Ratlosigkeit, Worte zu finden machten beide verlegen. Sie klammerte sich mit beiden Händen an ihre mit Butter beschmierte Tasche, während er schnell seine Hände in den Hosentaschen verschwinden ließ. Ihre Blicke wanderten zwischen Boden und Ihren Gesichtern. Nach einer Weile fingen sie plötzlich ohne Vorahnung den gleichen Satz an: „Ich … ähh … schon gut.“ und fingen erleichtert an zu lachen. Nach einer Weile sagte sie schließlich: „Ich muss gehen.“ „Ja“, antwortete er. Sie schwankte noch vom rechten Fuß auf den linken, drehte sich um und ging dann los. Bevor sie um die Ecke einbog, drehte sie sich noch einmal um und rief zu ihm hinüber: „Wie ist denn eigentlich dein Name?!“
„Ferdinand!“, rief er zurück.
Er stand immer noch wie angewurzelt da, mit den Händen in den Hosentaschen. Er sah noch, wie sie ihn anlächelte, bevor sie ganz um die Ecke verschwand.
Wird er sie nach den Ferien wieder sehen?
Es war ziemlich ruhig um Jule herum. Ab und zu fuhren nur irgendwelche Autos oder Busse vorbei. Sie war auf dem Weg nach Hause. Dieses Mal zu Fuß, da sie doch ihre Monatskarte für den Bus nicht bei sich hatte. Aber im Nachhinein kam ihr das wie gelegen. All die Dinge, die sie momentan tief berührten, konnte sie jetzt in Ruhe für sich verarbeiten. Hier gab es keine Glubschaugen mehr, wie heute Morgen und keine Überraschungen, wie den Ferdinand, jedenfalls hoffte sie das zumindest. Jeden Tag fuhr sie diesen Weg entlang, doch musste sie feststellen, vieles war ihr vorher nicht aufgefallen. Sie nahm nicht wahr, welche Gebäude, Menschen, Geschäfte und welche Gewohnheiten diese Straßen, die zu ihrem Haus führten, zu erzählen hatten. Die Sonne strahlte sie an; machte das Gehen etwas schwerfälliger. Kaum vorstellbar, dass es erst Frühling war. Aber Jule fühlte nicht die Wärme, sondern vielmehr die immer noch so große Leere in sich, und irgendwo ganz tief Trauer. Sie setzte sich auf eine Bank und holte erst einmal ganz tief Atem, der immer zu knapp zu sein schien. Sie dachte über Ferdinand nach. So war doch sein Name, nicht wahr? Er war ganz nett, aber sie wusste nicht so recht welchen Platz er in ihrem Leben einnehmen sollte. Sie hatte etwas Angst, ihn näher kennenzulernen. Es tat nämlich weh, wenn man Menschen an sein Herz ließ. Es schmerzte zu sehr, wenn sie dann wieder plötzlich aus dem eigenen Leben verschwanden und nicht mehr auftauchten. So wie ihre Oma. Sie musste ganz oft an sie denken. Ihre geliebte Oma. Seit ihrem Tod fehlte etwas Entscheidendes in Jules Leben, was nie mehr zu ersetzen war. Alles ging ganz schnell, damals, vor einem Jahr. Die plötzliche Nachricht vom Krebs, die Diagnose Endstadium, die kurze Therapie, bei der jeder wusste, es gibt keine Hoffnung mehr. Es war eine schwere Zeit für alle. Jule konnte es trotz ihrer 15 Jahre immer noch nicht begreifen. Ihre Oma ist verstorben. Sie war ein ganz besonderer Mensch, eine verwandte Seele, immer ein leuchtender Stern am Horizont, der mit einem Mal verloschen war und nie mehr zurückkommen würde. Tränen quirlten in ihren Augen auf. Sie wusste keinen Trost für sich. Sie fühlte sich so einsam. Ihre unerfüllte Sehnsucht nach dem, was sie mit ihrer Oma teilte, machte sie schwach und antriebslos. Sie würde nie wieder die gleiche Freude erlangen wie zuvor. Ihre Schultern hingen herab und sie hatte keine Lust jetzt in die leere Wohnung zu gehen. Ihre Mutter würde erst abends von der Arbeit kommen und die Schularbeiten mussten auch nicht dringend erledigt werden, da am folgenden Tag das Wochenende kam. Während Menschen von links und rechts an ihr vorbeigingen, saß sie auf der Bank, wie hinter einem Nebelschleier abwesend. Sie beachtete wieder nicht den alten gebeugten Mann mit der Einkaufstasche, der sich jetzt neben sie setzte, eine Zeitung aufschlug und begann in ihr zu lesen.
Erst nach einer Weile räusperte sich der Mann und fragte Jule: „Entschuldigen sie junge Frau, könnten sie mir sagen, wie spät es ist?“
Jule schaute überrascht auf, sah auf ihre Uhr und antwortete dann nur unbekümmert: „Es ist gerade zwanzig Minuten nach eins.“
„Danke“, gab der alte Mann zurück und vertiefte sich wieder in seiner Zeitung. Unbeteiligt fiel Jules Blick auf das aufgeschlagene Zeitungsblatt und wanderte über die großen Schlagzeilen. „Die Arbeitslosigkeit steigt!“, „Hilfe für Opfer im Erdbebengebiet“, „Mutter zweier Kinder wurde entführt“ … Jule schüttete nur den Kopf, schaute den Mann von der Seite an und konnte sich auf einmal eine Frage nicht verkneifen: „Entschuldigen sie, aber entsetzen sie diese vielen negativen Schlagzeilen nicht?“
„Wie bitte?“
„Ich möchte sie fragen, wie sie so ruhig die Zeitung lesen können, wenn die eine Nachricht schlimmer klingt als die andere. Wie schaffen sie es gelassen zu sitzen und nicht zu verzweifeln? Packt sie nicht die Hoffnungslosigkeit?“
Der Mann lachte kurz auf.
„Haha. Aber nein. Nicht doch. Dafür lebe ich schon zu lange, um zu wissen, dass das nicht alles im Leben ist. Auch wenn mich die düsteren Nachrichten oft treffen, verzweifle ich nicht. Ich weiß, dass alles einen Sinn hat. Ich glaube an das Leben. Ich glaube daran, dass alles sich zum Guten wendet.“
Jule war nicht zufrieden mit der Antwort.
„Aber schauen sie, diese vielen Leute verlieren Arbeitsplätze, geliebte Menschen oder auch Sachen, an die sie gebunden waren. Bei diesen Leuten entsteht Unsicherheit und Angst um die eigene Existenz. Sie haben keine Kraft, um weiter zu leben. Wenn sie selbst das erleben würden, würden sie dann immer noch so optimistisch daher reden und ihres Lebens froh sein?“
Der Mann machte ein nachdenkliches Gesicht, kniff die Augen zusammen und schaute Jule durchdringend an.
„Ich will ihnen nicht zu nahe treten, junge Lady, aber ich sehe, sie nehmen das Weltgeschehen sehr persönlich. Sie sind sehr aufgebracht und sehen traurig aus. Vielleicht haben sie einfach gerade nur Wut und sind über ihre eigene Lebenssituation verzweifelt?“