Kitabı oku: «Die Erscheinungen von Kibeho», sayfa 2
Gott muss meine Not gespürt haben, denn er fand einen Weg, meine Zweifel zu zerstreuen, ehe sie zu tiefe Wurzeln schlugen.
Einige Wochen nachdem meine Glaubenskrise begonnen hatte, rief uns eine meiner Lieblingslehrerinnen nach vorn an ihren Tisch, um uns eine Geschichte vorzulesen: Sie handelte von den Erscheinungen von Fatima, und sie hat mein Leben für immer verändert. Ich hatte das Wort »Erscheinung« vorher noch nie gehört und hatte keine Ahnung, wie immens wichtig das, was ich jetzt hören würde, für mich werden sollte.
»Das ist eine Geschichte darüber, wie die Jungfrau Maria in Fatima erschienen ist und mit drei Kindern gesprochen hat, zwei Mädchen und einem kleinen Jungen, die in den Bergen die Schafe hüteten«, erklärte Miss Odette.
Trotz meines heftigen Anfalls von religiöser Skepsis hing ich noch immer an der Vorstellung, dass wir im Himmel eine Mutter haben, die über uns wacht, und bei der Erwähnung der seligen Jungfrau Maria horchte ich auf. Das, was meine Lehrerin nun vorzulesen begann, kam mir wie ein schönes Märchen vor:
Die Kinder waren die zehnjährige Lucia dos Santos, ihr kleiner Cousin, der neunjährige Francisco Marto, und seine Schwester Jacinta, die erst sieben Jahre alt war. Es war ein schöner Frühlingstag und die Kinder passten auf ihre Schafe auf. Sie beschlossen, den Rosenkranz zu beten, wie ihre Eltern es sie gelehrt hatten, doch als sie sich hinknieten, um zu beten, erschreckte sie ein plötzlicher Lichtblitz am Himmel. Weil sie Angst hatten, vom Blitz erschlagen zu werden, liefen sie los und suchten Schutz unter einem großen Baum. Als sie nach oben schauten, um zu sehen, ob ein Sturm aufzog, erblickten sie gleich vor sich eine schöne Dame, die in einem strahlenden Lichtkranz schwebte. Die Dame trug ein fließendes weißes Gewand und hielt einen Rosenkranz in ihren zum Gebet gefalteten Händen.
Lucia, Francisco und Jacinta fürchteten sich sehr, doch dann sprach die Dame, und ihre Stimme war sanft und klang wie Musik: »Habt keine Angst vor mir, liebe Kinder, ich will euch nichts Böses tun«, sagte sie.
»Woher kommen Sie?«, fragte Lucia, die spürte, dass sie es hier mit etwas Großem zu tun hatte. Sie hatte überhaupt keine Angst mehr, sondern wurde von einem Gefühl tiefer Liebe überwältigt.
»Ich bin vom Himmel und bin vom allmächtigen Gott hierher gesandt worden«, antwortete die Dame freundlich.
Gierig sog ich jedes Wort auf und dachte: Großartig, was für eine schöne Geschichte. Ich frage mich, wer sie wohl erfunden hat. Wie schön wäre es, wenn mir so etwas passieren würde; dann wüsste ich sicher, dass es Gott gibt, und ich würde mich beim Beten wieder wohlfühlen.
Miss Odette las weiter:
»Was wünschen Sie von uns?«, fragte Lucia, die nicht wusste, dass sie mit der Jungfrau Maria sprach. Die Dame sagte, sie wünsche, dass die Kinder sechs Monate lang jeden Monat am selben Tag an diesen Ort kommen sollten. Lucia versprach, dass sie das tun würden, und sie fragte die Dame, ob sie eines Tages bei ihr im Himmel sein werde.
»Oh ja«, antwortete die Dame.
»Und meine Cousine Jacinta – wird sie in den Himmel kommen?«, fragte Lucia.
»Oh ja«, antwortete die Dame.
»Und mein Cousin Francisco – wird er auch in den Himmel kommen?«
»Ja, er wird, aber vorher wird er noch viele Rosenkränze beten müssen«, antwortete die Dame sanft. Dann sagte sie den Kindern, dass sie Jacinta und Francisco bald in den Himmel holen werde, dass Lucia aber noch eine Aufgabe auf der Erde habe und sich deshalb gedulden müsse, bis sie in den Himmel komme.
Die Dame kam wie versprochen Monat für Monat wieder. Bei ihren vielen Besuchen fragte sie, ob die drei Kinder bereit wären, sich Gott darzubieten zur Sühne für die vielen Sünden der Welt und Leiden zu ertragen, wie Jesus es getan habe.
»Wollt ihr zur Sühne und für die Bekehrung der Sünder Leid auf euch nehmen?«, erkundigte sie sich, und die Kinder versprachen ihr alle, dass sie dazu bereit wären.
Die Kunde von den Erscheinungen verbreitete sich rasch im ganzen Land und auch in fernen Ländern. Zuerst wurden die Kinder verspottet und sogar von ihren eigenen Familien Lügner genannt, doch bald schon kamen alle, die zunächst gezweifelt hatten, zum Glauben – siebzigtausend Menschen pilgerten sogar eigens nach Fatima, um beim letzten Besuch der schönen Dame dabei zu sein. Obwohl die Muttergottes nur Lucia, Francisco und Jacinta erschien, wurden Tausende von Menschen, die die jungen Seher beobachteten, Augenzeugen vieler Wunder, die während der Erscheinungen geschahen: Sie sahen die Sonne am Himmel tanzen, sie sahen Bilder von Heiligen in den Wolken und wunderbare Heilungen.
Maria sagte den Kindern immer wieder, dass sie sie sehr liebe, und bat sie, den Rosenkranz zu beten, weil dies der beste Schutz vor dem Bösen und der sicherste Weg sei, einen Platz im Himmel zu bekommen.
»Ist das nicht eine schöne Geschichte?«, fragte Miss Odette die Klasse.
Das ist die schönste Geschichte, die ich je gehört habe, dachte ich. »Was ist aus den drei Kindern geworden, denen Maria erschienen ist?«, fragte meine Mitschülerin Miriam.
»Nun«, antwortete unsere Lehrerin, »genau wie die Dame es versprochen hatte, hat sie Jacinta und Francisco noch als Kinder zu sich in den Himmel geholt. Aber Lucia lebt noch und hat jahrelang Großartiges für die selige Jungfrau Maria geleistet.«
»Was?!«, rief ich laut und sprang auf. »Was sagen Sie da? Lucia ist noch am Leben? Das war doch nur eine Geschichte, was Sie uns da erzählt haben, oder nicht, Miss Odette? Das war doch bloß erfunden, oder nicht?«
»Oh nein, Immaculée. Das alles ist wirklich genau so geschehen, wie ich es euch vorgelesen habe«, sagte Miss Odette und lachte über meinen verblüfften Gesichtsausdruck.
»Nein!«
»Doch«, beharrte sie.
»Wie ist das möglich, Miss Odette? Wie kann das sein, dass die selige Jungfrau Maria auf die Erde gekommen ist? Wie ist das möglich, dass jemand sie gesehen hat?«
»Nun, es war ein Wunder.«
»Aber ich dachte, Wunder wären nur in alten Zeiten geschehen, in biblischer Zeit und nur im Heiligen Land.«
»Aber nein, Immaculée, Wunder geschehen jeden Tag … Gott wirkt sie, wann und wo es nötig ist. Das Wunder von Fatima geschah 1917, vor 64 Jahren. Und Fatima liegt in einem Land, das Portugal heißt und das gar nicht so weit von Ruanda entfernt ist, wie man meinen könnte.«
»Miss Odette« – jetzt wollte ich es genau wissen –, »nehmen Sie uns auf den Arm oder hat die selige Jungfrau Maria diese Kinder wirklich besucht?«
»Ja, sie hat Lucia, Jacinta und Francisco wirklich besucht«, versicherte sie mir geduldig.
»Und weiß die Kirche davon?«
Wieder lachte meine Lehrerin. »Natürlich weiß die Kirche davon! Die Kirche hat alle möglichen Priester und Ärzte geschickt, um die Kinder zu untersuchen und um sicherzugehen, ob die Wunder wirklich vom Himmel stammten – sie haben viele, viele Jahre geforscht, weil sie ganz sicher sein wollten, dass das alles wahr ist.«
»Aber warum haben wir nichts davon gehört? Warum spricht in der heiligen Messe niemand darüber?«
»Nicht jeder kennt sich mit Erscheinungen aus, Immaculée, und nicht jeder glaubt daran. Aber Fatima ist nicht der einzige Ort, wo Maria Kindern erschienen ist. An einem anderen Ort, der Lourdes heißt, ist sie einem Mädchen namens Bernadette erschienen, und sie wird auch in Zukunft jungen Menschen erscheinen, die glauben. Wo Maria einmal war, dort wird sie nie vergessen. Noch heute reisen Tausende von Menschen nach Fatima, um den Ort zu sehen, wo sie zu den Kindern gesprochen hat. Dort nennen sie sie ›Unsere Liebe Frau vom Rosenkranz‹ oder ›Unsere Liebe Frau von Fatima‹ und sie wird sehr geliebt.«
Mit einem Mal war meine Welt wieder viel, viel heller, und mein Herz erholte sich von den Zweifeln, die mich so viele Wochen lang geplagt hatten.
Wenn die selige Jungfrau Maria real ist, dann ist Jesus auch real, überlegte ich. Und wenn Jesus real ist, dann ist auch Gott real … und jedes Wort, das in der Bibel steht! Meine Welt war wieder in Ordnung.
Als ich an diesem Nachmittag aus der Schule kam, schloss ich mich in mein Zimmer ein, umklammerte meinen Rosenkranz und betete inbrünstiger als je zuvor in meinem jungen Leben: Ich dankte Gott dafür, dass er mich hatte wissen lassen, dass er wirklich existiert und meine Gebete hört.
DIE GESCHICHTE VON FATIMA HATTE MICH DERART ELEKTRISIERT, dass ich die ganze Nacht wach lag, über die drei jungen Seher nachdachte und mir vorstellte, wie es wohl war, wenn man der heiligsten Mutter persönlich begegnete.
In meinem zweiten Buch Led by Faith habe ich beschrieben, wie ich, nachdem ich von den Erscheinungen in Fatima erfahren hatte, einen detaillierten Plan ausarbeitete, um die selige Jungfrau Maria zu bewegen, in unser Dorf Mataba zu kommen. Meine Freundin Jeanette und ich gingen zusammen mit ihrem kleinen Bruder Fabrice auf einen kleinen Berg, wo mein Vater seine Ziegen hielt. Wir drei waren fast exakt in demselben Alter wie die Kinder von Fatima, und mitten unter Vaters Ziegen war es nicht schwierig, so zu tun, als ob wir Hirtenkinder wären, wie Lucia, Jacinta und Francisco es gewesen sind. Inbrünstig beteten wir auf dem Berg und baten die selige Jungfrau Maria, dass sie uns erschiene. Und um Mataba noch einladender zu machen, pflückten wir Dutzende schöner Blumen und legten sie im Kreis rund um den Berghang herum. Dann knieten wir uns in der Mitte des Kreises nieder und beteten den Rosenkranz. Als die Muttergottes nicht sofort erschien, beschlossen wir, den Berghang mit einem ganzen Meer von exotischen Blumen zu bepflanzen, damit sie nicht mehr widerstehen konnte, hierherzukommen und dies alles zu bewundern.
Jeanette und ich waren zuversichtlich, dass die selige Jungfrau Maria kommen und uns viele wichtige Botschaften für die Menschheit anvertrauen würde. Unser Ruf würde sich über ganz Afrika verbreiten, und die Leute würden Hunderte von Kilometern unterwegs sein, um das Wunder von Mataba mitzuerleben. Tausende von Menschen würden sich um unseren Kreis aus Blumen drängen und zusehen, wie die drei jungen Seher Botschaften der Himmelskönigin empfingen. Leider mangelte es uns an Überzeugungskraft. Nach wenigen Wochen wurde es immer schwerer, Jeanettes Bruder dazu zu bringen, mit uns auf den Berg zu steigen. Wenn Fabrice überhaupt mitkam, dann wurde er ängstlich, sobald es dämmerte, und quengelte, wir sollten ihn nach Hause bringen. Meistens reichte die Zeit nur für einen einzigen Rosenkranz, ehe wir uns wieder an den Abstieg machen mussten, und es war gar nicht daran zu denken, auch noch Blumen für die selige Jungfrau Maria zu pflanzen. Als Fabrice dann nach einer Weile gar nicht mehr mitkommen wollte, gaben Jeanette und ich es auch auf, weil wir ja nun keinen dritten Seher mehr hatten wie in Fatima.
Und doch hat Maria unsere Gebete erhört und ist nach Ruanda gekommen. Nur waren wir gerade nicht auf dem Berg.
1»Aschenblüte«, Ullstein Verlag (Anm. d. Verl.).
2Dieser Titel ist nicht auf Deutsch erschienen (Anm. d. Verl.).
Kapitel 2
Maria kommt nach Ruanda
Drei Wochen, nachdem Jeanette und ich es aufgegeben hatten, auf den Berg zu steigen und dort dafür zu beten, dass uns die selige Jungfrau Maria erschiene, kam mein Vater von der Arbeit nach Hause und verkündete mit lauter Stimme, dass in Ruanda ein Wunder geschehen sei.
»Ein Wunder?! Was für eins, Papa?! Was ist passiert?!«, rief ich und rannte zu ihm hin. »Erzähl, erzähl!«
»Weißt du nicht, dass Geduld eine große Tugend ist?«, fragte mein Vater mich schmunzelnd. »Was man bekommen möchte, lohnt auch das Warten, Immaculée, das gilt sogar für Wunder. Also werden wir zuerst mit der Familie zu Abend essen und dann werde ich dir, deiner Mutter und deinen Brüdern die Neuigkeiten beim Igitaramo erzählen.«
Der Igitaramo, seit vielen Jahrhunderten eine altehrwürdige ruandische Tradition, ist ein ganz einfacher Brauch von auserlesener Schlichtheit. Nach dem Abendessen setzen sich die Familien gemeinsam um ein großes gemeinsames Feuer und singen Lieder zum Gedenken an die Ahnen. Tänzer in bunten Gewändern unterhalten die Dorfbewohner, und die besten Redner berichten Neues aus anderen Dörfern oder erzählen alte Geschichten und Stammeslegenden. Außerdem findet sich auch die Gelegenheit, sich Klatsch zu erzählen, Streitigkeiten beizulegen, Witze zu machen und Ehen zu arrangieren. Der Igitaramo hat die europäische Kolonialisierung überlebt und ist nach wie vor ein wichtiger Teil der ruandischen Kultur. (Aktuell überträgt Radio Ruanda jeden Abend nach neun Uhr eine Rundfunkversion des Igitaramo: eine Sendung voller Geschichten und Lieder.)
Unsere Familie hatte weder Fernsehen noch Telefon, und so verbrachten wir die freie Zeit meistens gemeinsam. Vater nutzte den Igitaramo mit Vorliebe für Diskussionen; wenn er also beim Igitaramo mit uns über das Wunder diskutieren wollte, dann handelte es sich wahrscheinlich um etwas, was wir näher betrachten sollten.
Als wir mit dem Essen fast fertig waren, erzählte er uns, dass er Pater Clement in der Nachbargemeinde besucht hatte. Pater Clement war der Priester, der in der Region von den Menschen am meisten verehrt wurde, und zudem war er ein zutiefst frommer, sehr gebildeter und kluger Mann. Und er war ein enger Freund der Familie; mit meinem Vater verstand er sich besonders gut, und meine Brüder und ich mochten ihn so sehr, dass wir ihn Opa nannten.
»Ein Priester in Kibeho hat Clement von einem sechzehnjährigen Mädchen namens Alphonsine Mumureke erzählt, die sagt, dass ihr die Jungfrau Maria in den letzten zwei Wochen wenigstens fünfmal erschienen sei«, berichtete Vater. »Das Mädchen behauptet, die Muttergottes bitte darum, als die ›Mutter des Wortes‹ in Ruanda bekannt zu werden, und der allmächtige Gott habe sie mit Botschaften für die ganze Welt vom Himmel gesandt.«
»Oh, ich wusste es, ich wusste es, ich wusste es!«, schrie ich, sprang auf und tanzte um den Tisch herum. »Es gibt sie, und sie ist gekommen, um uns zu besuchen!« Tränen strömten mir über die Wangen und ich war außer mir vor Freude und zugleich tieftraurig. Ich war der Muttergottes dankbar, dass sie nach Ruanda gekommen war, aber ich hätte mich ohrfeigen können, weil ich meine Ausflüge auf den Berg aufgegeben hatte: Hätten wir doch nur vor drei Wochen die Blumen gepflanzt! Warum habe ich nicht weitergebetet? Maria hätte Jeanette und mir erscheinen sollen … da ist ganz eindeutig etwas fürchterlich schiefgegangen!
Meine Enttäuschung war jedoch nicht von langer Dauer, weil mir bewusst wurde, dass meine Gebete tatsächlich erhört worden waren. Maria liebte mich so sehr, dass sie nach Ruanda kam! Was machte es da schon aus, dass sie Mataba ausgelassen hatte und in einem anderen Dorf erschienen war? Ruanda war ein kleines Land – ich könnte einfach nach Kibeho gehen, wo immer das war, und sie dort sehen!
»Papa, hat Alphonsine beschrieben, wie die Jungfrau Maria ausgesehen hat? Was hatte sie an und was hat sie noch gesagt? Wo ist Kibeho? Wir müssen sofort los … ich wette, sie ist noch da! Wir können im Auto weiteressen!«, schnatterte ich und hopste weiter um den Tisch herum.
»Setz dich, Immaculée«, sagte Vater lachend. »Ich weiß sonst nicht viel, nur noch, dass sie in eine katholische Mädchenschule geht und in eine Art Trance verfällt, wenn die Erscheinungen beginnen, und sie alles um sich herum vergisst. Wenn es dann vorbei ist, fällt sie in eine Art Koma.
Aber wir fahren nicht nach Kibeho, schlag dir das aus dem Kopf. Das ist weit weg von hier im Süden, in der Provinz Gikongoro an einem ganz entlegenen und extrem unzugänglichen Ort. Selbst wenn ich dorthin fahren wollte, was nicht der Fall ist, würde ich es auf keinen Fall riskieren, bei Nacht auf diesen Straßen durch die Berge zu fahren. Und außerdem ist das, soweit wir wissen, bloß eine wilde Geschichte, die sich ein Mädchen mit einer blühenden Fantasie ausgedacht hat.«
»Aber Pater Clement hätte gar nicht darüber gesprochen, wenn er nicht glauben würde, dass etwas Wahres daran sein könnte, oder, Papa?«, fragte ich.
»Da hat Immaculée recht, Leonard«, stimmte meine Mutter mir zu.
Mama respektierte, genau wie mein Vater, Pater Clement sehr und wusste, dass etwas, was er für erwähnenswert hielt, auf keinen Fall unwichtig sein konnte. »Clement tratscht nicht und setzt auch keine Gerüchte in Umlauf; er spricht nur über etwas, wenn er sich seiner Sache sicher ist«, fügte sie hinzu und schaute meinen Vater neugierig und erwartungsvoll an.
»Nun ja, das stimmt. Aber er hat es mir im Vertrauen gesagt, und ich ärgere mich über mich selbst, dass ich überhaupt davon angefangen habe. Ich wollte Immaculée nur eine Freude machen, weil ich weiß, wie sehr sie diese Geschichten liebt. Aber offenbar war die Freude zu groß«, fügte er dann trocken hinzu, weil ich immer noch durch den Raum sprang. Er wies auf meinen Stuhl und gab mir wortlos zu verstehen, dass ich mich hinsetzen sollte.
»Ich will jetzt, dass ihr euch alle beruhigt und hört, was ich zu sagen habe«, fuhr Vater fort. »Wunder können geschehen, aber dazu braucht es Glauben, Gebet und harte Arbeit. Aimable und Damascene sind die Besten in ihrer Klasse, weil sie hart gearbeitet und weil wir jeden Abend gebetet haben, dass sie eine gute Schule besuchen können. So geschehen Wunder. Wir sollten nicht erwarten, dass die Jungfrau Maria plötzlich aus dem Nichts erscheint und uns das Schulgeld gibt, oder dass Jesus kommt und den Jungs ihre Klausuren schreibt.
Pater Clement hat mit mir darüber gesprochen, weil es eine so wichtige Angelegenheit ist, die viel Gutes, aber auch eine Menge Schaden anrichten kann. Ich fahre ja beruflich von einer Schule zur nächsten, und deshalb hat er mich gebeten, die Ohren offen zu halten und zu hören, was die Leute über diese angebliche Marienerscheinung sagen. Anscheinend hat dieses Mädchen, diese Alphonsine, an ihrer Schule schon einen ziemlichen Wirbel verursacht und viele der Nonnen und Lehrerinnen sind verärgert. Wer weiß, womit wir es zu tun haben? Das Mädchen könnte verrückt oder, was Gott verhüten möge, von Dämonen besessen sein … das sähe dem Teufel gar nicht so unähnlich.«
Mein Vater war nicht zuletzt deshalb als Teenager zum Katholizismus konvertiert, weil er die Jungfrau Maria, die für die Protestanten in der Regel keine so große Bedeutung hat wie für die Katholiken, so sehr liebte und verehrte. Deshalb hatte ich eigentlich erwartet, dass er sich über die Nachricht von einer Marienerscheinung in Ruanda freuen würde – doch genau wie die Kirche selbst begegnete er allem Übernatürlichen mit tiefem Misstrauen. Dennoch hatte die bloße Möglichkeit, dass die selige Jungfrau Maria an einem Ort erschiene, der gar nicht so sehr weit von unserem Zuhause entfernt lag, seinen Glauben und seine intellektuelle Neugier angefacht. Er war nun selbst in der Stimmung, darüber zu debattieren.
»Also, was haltet ihr von alledem?«, fragte er und schob als Signal dafür, dass das Abendessen beendet war, seinen Teller in die Tischmitte.
Alle fingen gleichzeitig an zu reden, und schon war die Diskussion in vollem Gange. Meine älteren Brüder glaubten kein einziges und ich glaubte jedes Wort. (Mein jüngerer Bruder war noch zu klein, um zu verstehen, worüber wir diskutierten.) Ich rief: »Ich habe wochenlang gebetet, dass die Muttergottes in Ruanda erscheint, und jetzt ist sie da! Es muss wahr sein – ich spüre es in meinem Herzen!«
»Lasst uns ins Wohnzimmer gehen«, sagte Vater und nahm Kurs auf seinen Lieblingssessel. »Es ist Zeit für den Igitaramo.«
Wir diskutierten bereits eifrig, als meine Brüder und ich den Raum betraten.
»Immaculée, sei nicht so naiv«, spottete Aimable. »Vater hat es doch schon gesagt: Wahrscheinlich handelt es sich nur um eine große Lüge von irgendeinem verrückten Kind, das keine Freunde hat.
Wenn die Jungfrau Maria nach Ruanda käme, meinst du nicht, dass sie dann in Kigali erscheinen würde? Da gibt es wenigstens eine Kathedrale! Ich habe noch nie von Kibeho gehört – niemand kennt dieses Dorf!«, fügte Damascene hinzu. »Nie im Leben würde die Jungfrau in einem Dorf erscheinen, das niemand kennt!«
»Und was ist mit Fatima und Lourdes?!«, konterte ich. Damascene war einen Moment lang sprachlos.
»Steigere dich da bitte nicht so hinein, Immaculée«, sagte Aimable. »Ich weiß, wie sehr du die Muttergottes liebst, aber versuch doch mal realistisch zu sein. Das ist wahrscheinlich bloß wieder so eine katholikenfeindliche Aktion, mit der die Jungfrau Maria in Verruf gebracht werden soll. Weißt du nicht mehr, wie sie letztes Jahr beinahe jede Statue der seligen Jungfrau Maria im ganzen Land zerstört haben? Sogar deine Lieblingsstatue – weg, alle zerstört! Ich wette, das ist wieder so eine Gemeinheit, um die Leute gegen die Katholiken und gegen die Jungfrau Maria aufzubringen.« Aimable war sichtbar erbost, als er sich zu meinem Vater umdrehte und hitzig hinzufügte: »Papa, jemand sollte dem ein Ende setzen, ehe es außer Kontrolle gerät. Ich meine, jemand sollte dem jetzt sofort ein Ende setzen!«
Mein ältester Bruder hatte etwas zur Sprache gebracht, das für die Katholiken in Ruanda – vor allem solche wie mich, die Maria so sehr liebten – äußerst schmerzlich gewesen war. Gerade erst war ein hässlicher, jahrelanger Feldzug gegen die selige Jungfrau Maria zu Ende gegangen, bei dem im ganzen Land Hunderte von Marienstatuen in Stücke geschlagen worden waren – darunter auch die wunderschöne Skulptur in unserer Pfarrkirche, vor der ich so viele ruhige und friedvolle Stunden im Gebet verbracht hatte. Niemand wusste mit Bestimmtheit, wer das getan hatte oder warum. Manche vermuteten als Auslöser ein gezielt gestreutes Gerücht, wonach die Priester in diesen Statuen Gold versteckt hätten; andere hielten es für das Werk einer extremistischen protestantischen Gruppierung, die die Statuen als eine Art Götzenkult, der das Bild der Gottesmutter entweihte, betrachtete. Doch ich glaube, die meisten dachten, hier seien Teufelsanbeter am Werk, die zum Schlag gegen die Muttergottes ausholten.
»Aber vielleicht ist Maria nach Ruanda gekommen, weil das geschehen ist«, sagte ich zu Aimable. »Sie ist gekommen, um uns zu zeigen, dass sie existiert! Vielleicht wusste der Teufel, dass sie kommen würde, und hat deshalb vorher all ihre Bilder zerstört!«
»Jetzt redest du wie ein kleines Mädchen, Immaculée«, sagte mein Bruder verächtlich. »Das ist ein schlechter und dummer Scherz; mach daraus keinen Krieg zwischen Himmel und Hölle.«
»Ihr Kinder habt gut debattiert«, schaltete sich mein Vater ein. »Aber sei nicht überheblich, Aimable, nur weil deine Schwester erst elf Jahre alt ist. Sie ist ein kluges Mädchen und sie hat ein gutes Argument vorgebracht. In der Bibel steht, dass es in der Tat einen Krieg zwischen Gut und Böse gegeben hat, ehe der Satan aus dem Himmel verstoßen wurde.« Dann drehte er sich zu mir und sagte: »Sprich weiter, Immaculée. Ich will hören, was du denkst.«
Es war das erste Mal, dass Vater mich in einem Gespräch nach meiner Meinung fragte, und ich argumentierte umso leidenschaftlicher: »Ich denke, dass die Jungfrau Maria nach Ruanda gekommen ist, um uns daran zu erinnern, dass ihre Liebe uns näher zu Jesus bringt. Vielleicht ist sie gekommen, weil der Teufel schon vorher hier war.«
Aimable stieß einen gedehnten Seufzer aus und schüttelte den Kopf. »Also gut, ich denke, dass es entweder ein dummer Kinderstreich oder eine Aktion ist, die gegen die Katholiken gerichtet ist. Jedenfalls ist es kein Wunder«, entgegnete er.
»Warum sollte die Jungfrau Maria wollen, dass man sie ›Mutter des Wortes‹ nennt? Das klingt zu dick aufgetragen«, bemerkte Damascene. »Ich habe diesen Namen noch nie gehört und er klingt wirklich ein bisschen dick aufgetragen«, stimmte Vater zu.
»Weißt du irgendetwas über diese Alphonsine, Papa? Wie alt ist sie? Ist sie in Kibeho aufgewachsen?«, fragte Aimable.
»Nein, sie stammt aus einem Dorf in Kibungo.«
»Kibungo!«, riefen Damascene und Aimable gleichzeitig.
»Das erklärt alles. Was immer da in Kibeho geschieht, es ist ganz bestimmt ein Teufelswerk«, sagte Damascene.
Kibungo war eine dicht bewaldete Provinz im östlichen Ruanda und galt als ein Zentrum der heidnischen Kulte. Es hieß, dass dort Voodoo und schwarze Magie praktiziert wurden und dass tief im Dschungel Satanisten lebten.
»Zwei Kinder an meiner Schule waren von dort«, fuhr Damascene fort. »Eines Nachts haben sie plötzlich geschrien wie am Spieß und den ganzen Schlafraum aufgeweckt. Einer der Priester versuchte sie zu beruhigen, doch sie gerieten nur noch mehr außer sich. Schließlich hängte er ihnen Rosenkränze um den Hals, besprengte sie mit Weihwasser und sprach einen Segen.
Darauf wurden die beiden Jungen noch wilder und riefen, dass das Weihwasser sie verbrenne. Dann rannten sie nach draußen und wir alle hinterher. Wir sahen sie im Kreis herumrennen und dann haben sie sich die Rosenkränze vom Hals gerissen. Im selben Augenblick gingen ihre Füße in Flammen auf. Wir warfen Decken auf sie, um das Feuer zu ersticken. Nur zwei Dinge kommen aus Kibungo: Teufel und Dämonen. Und dieser Alphonsine muss ein ganzes Rudel davon bis nach Kibeho gefolgt sein.«
Die Geschichte war einfach so lächerlich unglaubwürdig, dass ich meinem Bruder auf den Kopf zusagte, sie erfunden zu haben.
»Ich schwöre, dass jedes Wort wahr ist«, antwortete er feierlich.
Damascene war ein hervorragender Geschichtenerzähler und versierter Witzbold, aber er log nicht. »Ich würde nie über jemanden Witze reißen, der von Dämonen besessen ist«, beteuerte er. »Ich habe bisher nie darüber gesprochen, weil es mir Angst gemacht hat. Wenn ein Mädchen aus Kibungo etwas sieht, dann ist es nicht die selige Jungfrau Maria, sondern ein Dämon, der sie zum Narren hält.«
Im Prinzip hatte Damascene die Debatte damit beendet. Was konnte ich nach einer solchen Geschichte noch sagen?
Mama hatte die Küche aufgeräumt und war gerade in dem Moment in das Wohnzimmer gekommen, als Damascene seine Geschichte beendet hatte. Sie sah den ängstlichen Blick in den Augen meines kleinen Bruders Vianney und schloss ihn in ihre Arme.
»Leonard, warum lässt du die Kinder solche Gruselgeschichten erzählen?«, schalt sie meinen Vater. Dann wandte sie sich zu Damascene: »Und du hörst sofort mit diesem Gerede über Dämonen auf. Siehst du nicht, dass du Vianney Angst machst? Es wäre ein Wunder, wenn wir heute Nacht nicht alle Albträume bekämen. Genug Igitaramo für heute. Am besten sprecht ihr jetzt eure Nachtgebete und geht ins Bett.«
»Eure Mutter hat recht«, sagte Vater. »Wir sollten uns nicht allzu sehr in diese Sache hineinsteigern. Wenn Alphonsine weiterhin behauptet, Erscheinungen zu haben, wird die Kirche ohnehin ein Wort mitreden wollen, da bin ich mir sicher. Das ist eine ernste Angelegenheit, also lasst uns beten und Gott um seine Führung bitten.«
Wir knieten uns wie immer vor dem Schlafengehen gemeinsam im Wohnzimmer nieder und beteten. Ich war sicher, dass Maria Alphonsine erschienen war, und deswegen fügte ich im Stillen eine Sonderbitte hinzu: Danke, Muttergottes, dass Du meine Gebete erhört hast und nach Ruanda gekommen bist. Wenn ich Papa nicht dazu überreden kann, mich nach Kibeho zu bringen, um Dich zu sehen, wirst Du dann einen Weg finden, um nach Mataba zu kommen? Bitte mach, dass alle genauso davon überzeugt sind wie ich, dass Du wirklich hier bist. Ich liebe Dich und hoffe, dass wir uns bald sehen! Amen.