Kitabı oku: «Weltwärts», sayfa 6
Für Liebhaber
Ihr werdet an einem Tisch gesessen haben. Vor euch der Atlas, den dein Bruder der Bibliothek schenken will. Ein unscheinbarer Einband. Braune Pappe. Als Rudolf das Buch öffnet, springt euch eine Farborgie entgegen. Das handkolorierte Titelblatt entschädigt für deine anfängliche Enttäuschung. Ihr beugt euch über den leuchtenden Kupferstich und versucht, ihn zu deuten.53
Im Zentrum erkennt ihr den Kosmos – die Erdkugel, die Sternzeichen, den Mond und die Sonne. Darum herum Menschengestalten, teils mit Flügeln. Keine Engel, wie ihr wisst, sondern Allegorien, schliesslich trägt jede Figur ein besonderes Attribut.
Die nackte Frau unten in der Mitte muss Fama sein, da seid ihr euch einig, die Verkörperung des Ruhms. Mit ihren zwei Posaunen verkündet sie die Erschliessung der Welt, deutet ihr, möglicherweise den Siegeszug der niederländischen und der britischen Mächte.
Links zwei gekrönte Frauen, die eine hält ein Zepter, die andere ein Buch. Sie personifizieren die Monarchie respektive die Republik, befindet ihr.
Rechts ein Mann mit einem Stundenglas. Die Zeit, sagst du.
Und hier die Beständigkeit, sagt Rudolf und deutet auf eine sitzende Gestalt mit einem Pfeiler. Schau, die Figur mit dem Zaumzeug muss die Mässigung sein.
Und hier der Hermesstab, der steht für das Glück.
Zu den beiden Männern hinter den Herrscherinnen fällt euch nichts ein, ebenso wenig zur Gestalt mit der Palme.
Über die Botschaft des Titelblatts mögt ihr euch nicht lange den Kopf zerbrechen.
Zum Kartografen weiss Rudolf hingegen zu sagen, dass er Hendrick Doncker hiess, ein bekannter Kartenzeichner war und in Amsterdam lebte. Den Atlas hatte er um 1680 publiziert.54
Es ist ein Glück, dass dein Bruder in Surinam die niederländische Sprache gelernt hat, zumindest einige Brocken. So kann er die Texte im Kartenwerk zumindest der Spur nach übersetzen, ebenso den Titel. «Der neue grosse erweiterte Meeres-Atlas von der Wasserwelt mit allen Meeresküsten des Erdreichs», liest er und blättert weiter.55 Auf der nächsten Seite richte sich der Verleger «aen de Liefhebbers van de Zee-Vaert», an die Liebhaber der Seefahrt. Er wolle die Seefahrer beruhigen, fasst Rudolf das Vorwort zusammen, ihnen etwa Ängste vor der Hitze in «heissen Ländern» nehmen, denn man wisse aus Erfahrung, dass sie «nicht so unerträglich» sei. Und er wolle die Seefahrer begeistern, fährt Rudolf fort, denn man habe «sehr viele herrliche, fruchtbare und bevölkerungsreiche Königreiche gefunden». Er zählt die Länder auf: «Guinea, Äthiopien, Arabien, Ost-Indien, die bekannten Inseln Sumatra, Java und die Molukken, auch Brasilien, Peru und Neu-Spanien und andere vergleichbare Länder.»
Dann wendet Rudolf Blatt für Blatt, ohne den seitenlangen Text zu übersetzen. Als du ihn fragend anschaust, gibt er ein paar Stichworte. Doncker schreibe über Küsten und Territorien, über Pflanzen und die damit handelnden Kaufleute, über europäische Machthaber wie die Niederländer, die Engländer oder die Portugiesen und manchmal über afrikanische oder asiatische Könige und Kaiser.
Er blättert weiter, bis er zum Inhaltsverzeichnis kommt, streicht mit dem Finger über die Seite, sucht, der Finger stockt, dann schlägt er im hinteren Teil des Atlas eine doppelseitige Karte voller Striche und Koordinaten auf. Hier, er bohrt den Finger ins Papier. Neben dem Rücken einer gut gepolsterten Putte, welche die Karte ziert, entzifferst du drei Wörter: «Andalusia Noevao Gaiana». Und hier – sein Finger wandert zu einem winzigen Wort, das neben der Darstellung einer zerklüfteten Küste steht –, hier war ich, sagt Rudolf. «Sourenama» ist so klein geschrieben, dass du es kaum lesen kannst. Du studierst den Küstenverlauf, folgst den vielen Flüssen, die ins Landesinnere führen, suchst vergebens Symbole für Siedlungen. Wo leben die «Wilden»?56
Rudolf nimmt den Atlas wieder in Beschlag, sucht die Weltkarte und zeigt dir die Lage von Surinam an der oberen Beuge von Südamerika. Und hier, er weist auf einen grossen Binnensee exakt auf dem Äquator, hier südlich von Guyana vermute man das Eldorado, das Goldland.57 Bis jetzt habe es noch kein Europäer gefunden. Sein Herrscher müsse unendlich reich sein. Man erzähle sich, dass er seinen mit Goldstaub bepuderten Körper täglich im See wasche, weshalb der Ort El Dorado heisse, der Vergoldete.
Endlich überlässt er dir den Atlas, und du beginnst darin zu schmökern. Dein Blick bleibt an der Karte einer Insel hängen, die einem gedrungenen Walfisch gleicht, links das Maul, rechts die Flossen.
Was es mit dieser Insel auf sich hat, fragst du. Rudolf blättert nach vorn zu den Erklärungen. Die Insel Ceylon sei «ausserordentlich fruchtbar» und dürfe «wegen ihrer Schönheit und ihrer Üppigkeit wohl ein Paradies auf Erden genannt werden». In der Nähe von Candy, wo der Kaiser wohne, werde der «beste Canneel» gefunden, übersetzt er. Es gäbe «ganze Wälder davon». Rudolf kennt sich offenbar aus, denn er erklärt dir, dass die Niederländische Ostindien-Kompanie den Zimthandel beherrsche.

Rudolf wendet Seite um Seite. Er suche nach anderen Hinweisen zu den niederländischen Kolonien, erklärt er. Nach einer Weile übersetzt er: Auf den ostindischen Banda-Inseln «wachsen die Muskatnüsse in solchem Überfluss, dass man sich die Augen reibt». Und er fährt fort: «Die Holländer haben mit den Einheimischen einen Vertrag geschlossen, ausschliesslich ihnen Muskatnüsse zu verkaufen.» So füttert er dich mit informativen Häppchen zur holländischen Kolonialpolitik. Bei der Nelkenproduktion sei es ähnlich, zitiert er Doncker. So sei auf der ostindischen Insel Ceram die Gewürznelke in solchem Überfluss vorhanden, dass man dort «während einer gewissen Phase Tausende von Bäumen geschält, die Rinde getrocknet und die Bäume gefällt» habe, damit die Nelke «nicht zu üppig auf der Welt vorhanden» sei. Um diese künstliche Verknappung zu garantieren, unterhalte die Niederländische Ostindien-Kompanie auf Ceram ein starkes Fort. Ihr sucht die Inselgruppen auf der Karte von Ost-Indien. Die Banda-Inseln südlich der Molukken sind zwar angeschrieben, aber ihr Umfang ist so klein, kleiner als ein Mückenschiss, dass ihr sie mit blossem Auge kaum erkennt.
So könnte es gewesen sein: Anna Margaretha erobert sich mit ihrem Bruder mittels eines Atlas die Welt. Fakt ist: Am 16. August 1688 schenkte Rudolf den Seeatlas von Hendrick Doncker der Zürcher Stadtbibliothek.58 Deren Bestand gelangte später in den Besitz der Zentralbibliothek Zürich. – Und dort machte ich eines Tages eine sensationelle Entdeckung.
«Musgat» und «Nägeli»
Die Feder kratzt über das Papier. Auf die erste Seite schreibst du deinen Namen. Zuerst deine beiden Vornamen, «Anna» und «Margaretha». Dann setzt du zum Familiennamen an, ein Buchstabe neben den anderen, ein K, ein I, ein T. «Kit». Du stockst. Kurzerhand streichst du die drei Buchstaben durch und schreibst stattdessen «Gessnerin». Doch ganz möchtest du auf deinen Mädchennamen nicht verzichten. Also schreibst du in die Zeile darunter: «ein gebohrne Kitin». Und darunter die Jahreszahl «1699». Tinte spritzt aus der Feder, feine Tropfen regnen auf das Blatt. Mit einem geschweiften Zeichen rundest du das Ganze ab.
Auf der nächsten Seite beginnst du dein grosses Vorhaben und schreibst: «Des Kochbuchs Erster Theil».59 Ich sehe dich im «Schreibstübli» des Konstanzerhauses sitzen mit Blick auf den Garten und ein Blatt nach dem anderen mit Rezepten füllen.
Das erste Rezept, ein «herlich essen», widmest du «krankne leuht und schwangere weiber denen das fleisch erleidett». Den Kranken und Schwangeren, denen das Fleisch verleidet ist, rätst du: «Hacke Kalb- oder Huhn- und Schaffleisch fein, so als ob es gemahlen worden wäre. Dann hacke Mayoran, Thymian, Pfifferlinge, Muskatblüten und Safran dazu. Wenn alles fein gehackt ist, tue es mit ein wenig Wein in ein Töpfchen aufs Feuer und lass es kochen.» Warum dieses Fleischmus sich für Leute eignet, die kein Fleisch essen mögen, verheimlichst du. Möglicherweise liegt es an den Gewürzen, die den manchmal üblen Geschmack des Fleisches übertünchen. So sind die Blüten des Muskatbaums, eigentlich handelt es sich um den eng an der Nuss liegenden Samenmantel, süsslich-bitter. Du verzichtest auf Mengenangaben. Das ist im Fall der Muskatblüte nicht ganz ungefährlich, denn bei hoher Dosis führt sie zu Halluzinationen. Mag sein, dass du den Schwangeren ein süsses Delirium wünschst. Safran wirkt ähnlich. Er ist ein Stimmungsaufheller, wie wir heute sagen würden. Er hilft gegen Melancholie, habt ihr wahrscheinlich gesagt. Die Schwarze Galle gemäss der humoralpathologischen Vorstellung. Ein kalt-trockener Leibessaft. Du orientierst dich wie alle zu deiner Zeit an der Vier-Säfte-Lehre und weisst, dass ausser Safran und Muskat alle Gewürze, ja alle Lebensmittel eine bestimmte Wirkung haben und heilen können. Deshalb kauften deine Vorfahren die Gewürze auch beim Apotheker.
Das gewürzte Fleischmus ist das erste von 71 Rezepten im Fleischteil. Darin lässt du die üblichen Schlachttiere aufmarschieren: das Rind, das Zicklein, das Schaf, das Lamm, das Kalb, das Spanferkel, den Hasen und das Schwein. Es ist eindrücklich, dass du für alle Körperteile ein Rezept hast und jedes erdenkliche Stück verwertest. Neben dem Braten, dem Hohrücken, dem Plätzli, dem Voressen und der Brust weisst du, wie man die Zunge, das Euter, die Kutteln, den Magen, den Darm, den Kopf, die Nieren, das Herz, das Hirn, die Milz und die Leber zu einem Gericht verarbeiten kann.
Nach dem Fleisch wendest du dich den Fischen zu und listest ganze 52 Rezepte auf. Was du alles auf den Tisch zauberst: Karpfen, Hecht, Forelle, Salm, zudem Fische, die wir heute nicht mehr kennen, aber auch Aal, Stockfisch, Krebse – und eigenartigerweise in der Rubrik Fisch auch Schnecken. Womöglich hast du sie hier notiert, weil sie wie die Fische etwas eklig anzufassen sind.
Du vergisst nichts. Du berücksichtigst alles, was kreucht und fleucht. Für das Geflügel hast du 42 Rezepte auf Lager, für das Huhn ebenso wie für den Hahn, für die Taube und die Schnepfe, den Kapaun und die Gans, das Rebhuhn und die Lerche. Sogar Singvögel, «kleine Vögelin», kochst du ein. Du bist nicht die Einzige, die Singvögel in den Kochtopf wirft. Die kleinen Dinger scheinen so beliebt zu sein, dass es immer weniger davon gibt. Deshalb musste der Rat wiederholt Mandate zu ihrem Schutz erlassen.60
So schreibst du ein Rezept nach dem anderen ins Buch. Eine aufwendige Arbeit. Aber du hast Zeit. Dein Mann stirbt im selben Jahr, in dem du mit den Rezepten anfängst. Als Witwe fallen die Repräsentationspflichten weg, die du als Frau eines Beamten hattest. Allmählich entsteht ein regelrechtes Buch. Pasteten und Torten sind ein wichtiger Bestandteil, auch die «Küchlinen» gehören dazu, ebenso die Milch- und Eierspeisen. Selbstverständlich hast du auch etwas zum Gemüse zu sagen oder zu den Früchten. So weisst du, wie «Barillen», Aprikosen, am besten schmecken, aber auch Quitten – schliesslich hat dein Urgrossvater sie zur Wappenfrucht erkoren. Und du hast auch Ideen zu den Pomeranzen, Zitronen und Limonen. Dem «Herdapfel» widmest du ein einziges Rezept, noch ist die Kartoffel nicht das Grundnahrungsmittel der Massen. Du notierst auch Einmaliges, etwa «Käss mit Wein»: Es ist wohl das erste deutschsprachige Fonduerezept.
Insgesamt 470 Gerichte schreibst du auf. Sind es die üblichen, die damals in deinem Kreis kursierten?
Du füllst die Seiten mit deiner regelmässigen Schrift. Die Wörter stehen auf einer unsichtbaren Linie, sie ist so gerade, als ob sie mit dem Lineal gezogen worden wäre. Mit schwarzer und brauner Tinte setzt du ein Wort dicht neben das andere, fast lückenlos, sodass sie schier ineinanderfliessen. Ich verbiete mir, aufgrund deiner Schrift und der Gestaltung der Seiten auf deinen Charakter zu schliessen. In gedruckten Büchern hast du gesehen, dass auf dem Blatt jeweils in der rechten unteren Ecke das erste Wort der nächsten Seite steht, also machst auch du das so. Es dient der Orientierung und hilft bei der Drucklegung. Möglicherweise hast du geplant, das Buch drucken zu lassen. Doch es gibt nur dieses eine Exemplar.
Das Kochbuch ist fast frei von Stockflecken. Auch der Wurmfrass fehlt. Es gibt auch keine Flecken von der Butter, die du reichlich brauchst. Ebenso wenig Spritzer von der Sauce, in die du häufig Wein gibst. Ich suche auch vergeblich nach Eselsohren, nach einem bewussten Zeichen für ein besonders gelungenes Rezept. Offenbar hast du dieses Rezeptbuch nicht gebraucht, ebenso wenig eine deiner Angestellten. Eigentlich konnte nur eine geübte Köchin dieses Buch verwenden, denn du machst keine Mengenangaben, von Garzeiten und anderem Basiswissen ganz zu schweigen.
Warum du ein Kochbuch schreibst, darüber kann ich nur rätseln. Vielleicht, weil du schlicht und einfach etwas hinterlassen möchtest: wenn schon kein Kind, dann wenigstens ein Buch. Womöglich gehe ich völlig fehl in der Annahme, dass du mit deinen Gerichten und dem Kochbuch als Vermächtnis deine Mutter und deine Schwestern übertrumpfen willst. Deine Schwestern hätten mehr Schmuck bekommen als du, hast du ein paar Jahre zuvor moniert.61 Üppige Gelage und ein ebenso üppiges Buch können dich für deine Schmach entschädigen. Du bist nicht angewiesen auf eine Gabe. Du hast im Gegenteil mehr zu bieten als deine Schwestern.62 «Conspicious consumption» nennen das die Soziologen und Historikerinnen, Geltungskonsum.
Mit deinen Rezepten richtest du dich an die Oberschicht. Zwar hat auch die Unterschicht zunehmend Zugang zu einer variantenreicheren Ernährung und muss immer weniger tagein, tagaus Brei, Brot und Milch zu sich nehmen. Insbesondere das traditionelle Mus aus Hafer und Kernen wird allmählich von neueren Speisen abgelöst.63 Doch viele Zutaten, die du in deinen Rezepten erwähnst, sind teuer. Gold wird das Kostspieligste gewesen sein. Auf Seite 241 notierst du einen Mandelpudding, der mit einer Goldlasur dekoriert ist. Auch Fleisch oder Butter können sich viele nicht leisten.
Beim Schmökern in deinem grossen Werk habe ich mich wiederholt gefragt, wie du es schaffst, mit Luxusprodukten wie Gold oder Muskatblüten zu kochen, während Menschen in deiner Umgebung verhungern. Noch regiert die Kleine Eiszeit, und während du am Kochbuch schreibst, erreicht sie gar ihren Höhepunkt. Die damit verbundenen Missernten fordern in der Eidgenossenschaft viele Tote. Mir ist bewusst, dass dir die Frage moralinsauer aufstossen muss. Ich bin schlicht neugierig, zu erfahren, wie sehr dir die Standesunterschiede bewusst sind und für wie selbstverständlich du deine Privilegien nimmst. Mit Gelagen und teuren Ingredienzen kannst du dich von den unteren Schichten abheben. Das gilt vor allem für die Gewürze, die du alles andere als protestantisch bescheiden verwendest. Zwar wurden sie im Lauf des Jahrhunderts auch für ärmere Leute erschwinglicher, und in gewissen Regionen ging der Konsum von Gewürzen aus Übersee gar zurück.64 Doch du scheinst nach wie vor eine grosse Vorliebe für sie zu haben, denn sie kommen in den meisten deiner Rezepte vor. In vier von fünf Rezepten taucht mindestens ein Gewürz auf, den Zucker mitgezählt. Der Ingwer schmeckt dir offensichtlich besonders gut, oder du sprichst ihm eine herausragende Wirkung zu. Nach dem Zucker steht er an zweiter Stelle. Auch für Pfeffer und Zimt scheinst du ein Faible zu haben, gefolgt von Nelken und Muskat. Alles in allem eine exquisite Sache.
Ich kann dir beim Schreiben über die Schulter gucken, in deinen Kopf schauen kann ich nicht. Was kommt dir in den Sinn, wenn du das Wort «Zimmet» schreibst? Denkst du an die Zimtbäume, die du auf der Karte von Ceylon entdeckt hast, siehst du das «Paradies auf Erden» vor dir, wie Doncker es nennt? Erinnerst du dich, dass dort «der beste Canneel» geerntet wird, wenn du rätst: «Nimm ein frische Rinder Zung, schwell und schell sie, spike sie mit Zimmet und Nägelin»? Zimt wächst zwar nicht nur auf Ceylon, er kommt auch auf den Molukken und in Südindien vor, doch wahrscheinlich bevorzugst du wie die meisten Menschen in Europa den ceylonesischen, vielleicht sollte ich eher schreiben: niederländischen Zimt.65 Mitte des 17. Jahrhunderts hat die Niederländische Ostindien-Kompanie die Kontrolle über die Produktion und den Verkauf des ceylonesischen Kaneels übernommen. Anfänglich gedieh der Zimt nur auf wild wachsenden Bäumen, weshalb die Kolonialherren die entsprechenden Gebiete überwachten. Als es ihnen gelang, die Bäume zu kultivieren, konnten sie die Produktion steigern. Streng kontrollierten sie ihr Monopol: Um die Märkte in Europa und in Indien zu regulieren, begrenzten sie die Produktion und hielten die Preise überall auf dem gleichen Niveau. Mit diesen Massnahmen machten sie ein extrem lukratives Geschäft.
Eigentlich nehme ich nicht an, dass du bei jedem Gewürz an die jeweiligen Produktionsbedingungen denkst, dass dir bei den «Nägelin», mit welchen du die Zunge spickst, die Wirtschaftspolitik der Niederländischen Ostindien-Kompanie in den Sinn kommt: Die Kolonialgesellschaft liess, wie du von Doncker weisst, während einer gewissen Zeit die Nelkenbäume auf den Molukken schlagen, damit die Ware knapp war und der Preis hoch. Ich gehe auch nicht davon aus, dass du bei der Muskatnuss oder der Muskatblüte die winzig kleinen Banda-Inseln vor Augen hast, die du mit deinem Bruder auf der Karte gesucht hast: Dort rissen die Niederländer das Monopol an sich, indem sie die lokale Bevölkerung, die Besitzer der Muskathaine, vertrieben und töteten, das Land zerstückelten und auf den Parzellen Sklaven arbeiten liessen.66 Ich vermute auch nicht, dass du dich beim Ingwer fragst, ob er nun aus der Karibik oder aus Asien stammt. Ebenso wenig behaupte ich, dass du dir beim Pfeffer überlegst, ob die Niederländer oder die Engländer seinen Handel beherrschen. Aber eigentlich kannst du bei der Frage, wer zu deiner Zeit den Handel mit Gewürzen kontrolliert, fast nicht fehlgehen: Es sind die Niederländer, welche die Produktion und den Vertrieb von Muskat, Nelken, Zimt und teils des Pfeffers dominieren und diese Gewürze über Amsterdam nach Europa einführen.67
Statt darüber nachzudenken und dich abstrakt als lokale Konsumentin in einem globalen Wirtschaftsraum zu sehen, hast du bei der Niederschrift der Gewürznamen bestimmt deren Duft in der Nase: das Herbe der Nelken, das Warme der Muskatnuss, die Süsse des Zimts, die Frische des Ingwers oder die Schärfe des Pfeffers. Und als du dich den Rezepten mit den «Citronen» widmest, hast du womöglich den Ruf der «Lemonihändler» im Ohr: Jeden Frühling kommen die italienischen Verkäufer vom Gardasee über die Alpenpässe, schwärmen in die europäischen Städte aus und bieten in den Gassen lautstark ihre Agrumen an, werben für die Luxusfrüchte, die drei Mal teurer sind als einheimisches Obst und deshalb auch als Ehrengaben beliebt.68 Mit allen Sinnen bist du involviert, aber auch mit deinem Verstand. Als Vorsteherin eines Haushalts, die für das Wohl seiner Bewohnerinnen und Bewohner verantwortlich ist, kennst du sicher die Wirkung der einzelnen Gewürze gemäss der Vier-Säfte-Lehre. Du weisst, dass Ingwer bei Unlust hilft, Nelken bei Darmerkrankungen, Zimt bei Menstruationsbeschwerden und Muskatnuss bei Rheuma.
Indem ich mir dich lediglich als sinnliche und heilende Frau vorstelle, unterschätze ich dich möglicherweise. Doch all meine Versuche, das Kochbuch jenseits der Rezepte und der Ingredienzen zum Sprechen zu bringen, scheitern. Es schweigt sich über deine weiteren Kenntnisse aus. Gut möglich, dass du als Mitglied einer regional aktiven Händlerfamilie Bescheid weisst über die globalen Verwicklungen. Dass du als Frau, die lesen kann, eine Ahnung von der niederländischen Wirtschafts- und Kolonialpolitik hast.
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