Kitabı oku: «DSA: Die Löwin von Neetha Sammelband», sayfa 7
»Der Halbbruder meiner Gemahlin bestreitet, der Vater deines Kindes zu sein.« Durenald seufzte hörbar – Endlich war es heraus! Er betrachtete das Mädchen voller Anteilnahme und erwartete, daß sie nun widersprechen oder in Tränen ausbrechen werde, aber nichts von beidem geschah. Ganz still saß sie auf der Kante ihres Stuhles, hielt den Kopf tief gesenkt, und nur ihre Lippen bewegten sich ein wenig, so als murmele sie ein Gebet. »Hast du mich verstanden, Kind? Herr Fuxfell bestreitet die Vaterschaft, und er … und er erwidert deine Gefühle auch nicht.«
Siebenundneunzig, achtundneunzig, neunundneunzig, hundert – das Zimmer war noch dasselbe wie zuvor, der Stuhl war derselbe wie zuvor, sie selbst war auch dieselbe wie zuvor …
»Am besten, du schlägst ihn dir aus dem Kopf und denkst ernsthaft über Lechdans Antrag nach«, sagte der Herr gerade.
Damilla schüttelte den Kopf.
»Was willst du damit sagen, Mädchen?« Die Stimme der Herrin klang ein wenig gereizt. »Nun mach doch endlich einmal den Mund auf! Willst du den Lechdan nicht nehmen?«
Damilla nickte.
»Was heißt das? Ja oder nein? Du sollst reden, habe ich gesagt!«
»Nein«, antwortete die Magd leise.
»Du hoffst also immer noch, nach all den Monden, Herr Fuxfell werde zu dir zurückkehren?« Durenald blickte Damilla fragend an, und als sie zuerst nickte und dann »Ja« flüsterte, griff er nach dem Brief, den seine Gemahlin ihm reichte. »Dann solltest du vielleicht wissen, wie er über dich denkt. Ich sage dir, Kind, er liebt dich nicht und hat dich nie geliebt. Soll ich dir vorlesen, was er schreibt?« Durenald hoffte, das Mädchen werde es ihm ersparen, ihr Fuxfells Worte ungeschönt ins Gesicht zu sagen, aber nach einer kleinen Weile nickte sie wieder, bange Erwartung im Blick. Der Freiherr seufzte schwer. »Damilla«, begann er zögernd, »du bist noch jung und besitzt nicht viel Menschenkenntnis. Vermutlich hältst du Herrn Fuxfell für einen ehrenwerten Mann. Nun ja, es ist nicht an mir, etwas anderes zu behaupten. Der Brief jedoch … wie soll ich sagen …«
»Bitte«, unterbrach ihn die Magd, »ich möchte wissen, was Herr Fuxfell schreibt.«
Grimmig faltete Durenald den Bogen auseinander; er überflog den Anfang, bis er die Stelle gefunden hatte. »Hier steht«, sagte er: »›Nachdem ich den Verführungskünsten der jungen Dirne erlegen war, stellte ich fest, daß sie keine Jungfrau mehr war. Auf meine Frage gab sie zu, daß ich weder der erste noch der einzige sei, und verlangte zwei Silberstücke für ihre Dienste. Da ich, wie Ihr wißt, meines gesamten Vermögens beraubt war, schenkte ich ihr einen Seidenschal, der mich fast vier Silbertaler gekostet hatte. Ich ließ sie auch trotz ihres Drängens kein zweites Mal in meine Kammer, denn mit solchen, die es für Geld tun, gebe ich mich nicht ab. Wie Ihr die Sache seht, weiß ich nicht, für mich jedoch steht fest, daß halb Brelak der Vater des Kegels sein könnte. Ich selbst kann es nicht sein, da ich weiß, was sich gehört, und aufgepaßt habe …‹ Soll ich noch weiterlesen?« fragte Durenald, aber das Mädchen antwortete nicht. Stumm erhob es sich und verließ die Bibliothek, ohne um Erlaubnis zu fragen. »Denk über Lechdans Antrag nach«, ermahnte Durenald sie noch einmal, »Lechdan ist ein guter Mann.«
»Sie scheint es recht gefaßt aufgenommen zu haben«, wandte sich Kusmine an ihren Gemahl, »oder was meinst du?«
»Ach, liebes Herz, ich weiß es nicht – ich denke schon, es war ein schwerer Schlag für sie. Nur gut, daß sie nicht in Tränen ausgebrochen ist – ich kann es nicht ertragen, eine Frau weinen zu sehen. Dann kommen mir auch immer die Tränen, und ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Kusmine lachte. »Mein lieber Mann, wenn alle schwangeren Mägde einen so fürsorglichen Herrn hätten wie dich, dann …«
»Was dann?«
Kusmine erhob sich und betrachtete nachdenklich ihren Gatten. Dann ergriff sie seine Hände und zog ihn aus dem Sessel. »Nun«, sagte sie, während sie ihre starken Arme um seinen Leib schlang und ihn ein wenig hob, bis sich ihrer beider Augen auf gleicher Höhe befanden, »dann wäre die Welt noch schöner, als sie ist.«

Damilla erwartete jeden Augenblick, Titinas kräftige Hand auf der Schulter zu spüren. ›Wach auf, Kind! Was fällt dir ein, bei der Arbeit zu schlafen?‹ würde die Köchin sagen, und dann würde sie erwachen und sich in der warmen Küche wiederfinden. Sie wollte auch, daß es aufhörte – so ein abscheulicher Traum!
Während sie mechanisch die Füße voreinandersetzte, dachte sie: Kann man beim Träumen über das Träumen nachdenken? Wohl nicht, entschied sie. Sie selbst hatte es jedenfalls noch nie getan. Ihre Träume waren sonst auch irgendwie anders. Früher, kurz nachdem die Eltern sie fortgeschickt hatten, damit sie sich eine Stellung suchte, hatte sie manchmal von daheim geträumt. Und als Kind hatte sie oft vom Essen geträumt, aber diese Träume waren seltener geworden, seit sie auf Gut Brelak lebte. Von Lindwürmern, Feen, schönen Kleidern und Schädeleulen hatte sie auch schon geträumt; dann war sie immer schweißnaß und mit klopfendem Herzen erwacht. Genau wie bei dem Traum, der sie in den letzten Wochen ein paarmal heimgesucht hatte. Da hatte ihr nämlich geträumt, sie hätte ihr Kind geboren – sehr schön und herzig war es –, doch kaum hatte es ihren Leib verlassen, da war es auch schon davongelaufen, und das hatte sie so traurig gemacht, daß sie nach dem Erwachen immer noch ein wenig traurig war, wenn auch erleichtert. Traurig war sie auch immer dann, wenn sie vom Magister Fuxfell geträumt hatte …
Der Herr Fuxfell in meinem Traum hat sehr häßliche Dinge über mich geschrieben, dachte sie. Daß ich eine Hure bin und daß ich ihn verführt habe, und daß ich es mit jedem treibe … Es muß ein Traum sein, auch wenn das unmöglich ist, denn der wirkliche Herr Fuxfell hat mir gesagt, daß ich schön bin und daß er mich liebhat, und wie glücklich es ihn macht, daß auch ich ihn liebe … Am besten gehe ich in die Mägdekammer, lege mich ins Bett, und wenn ich dann erwache und die Sonne scheint, weiß ich ganz genau, daß alles nur ein böser Traum war.
Das Mädchen hatte die Hintertür erreicht. Ihr schwindelte ein wenig, und sie lehnte sich ein Weilchen an die Hauswand, bevor sie den Hof überquerte. Ich könnte auch zu Meister Hilgert gehen, dachte sie, das ist näher, und er kann mir gewiß auch sagen, ob ich wache oder träume.
Seit der alte Stallmeister Damilla bei ihrem Brief geholfen hatte, waren die beiden einander ein wenig nähergekommen. An so manchem Abend hatte die Magd den Alten in seiner Stube besucht, hatte ihm ein Stückchen Kuchen oder ein Schälchen Kompott mitgebracht, und der Stallmeister hatte Kräutertee gekocht, und dann hatten sie schweigend beisammen gesessen und ins Feuer geschaut. Und irgendwann hatte Damilla begonnen, ihn Meister Hilgert zu nennen.
Mit unsicheren Schritten wankte die Magd über den Hof. Sie war froh, als sie endlich den Pferdestall erreicht hatte, und auch froh, daß niemand ihr begegnet war, der sie nach der Unterredung mit der Herrschaft und dem Inhalt des Schreibens hätte fragen können. Als sie die Tür öffnete, schlug ihr warm und lebendig der Duft der Pferde entgegen. Ein paar der Tiere schnaubten bei ihrem Eintritt und wandten die Köpfe nach ihr um, aber Damilla verspürte diesmal kein Bedürfnis, den freundlichen dummen Tieren die weichen Nüstern zu streicheln. Ihr Blick fiel auf das frische Stroh in einer leeren Koje. Ich muß mich hinlegen, dachte sie, ganz schnell, bevor ich falle.
Der Boden des Stalles schwankte, und das seltsame Schaukeln ließ auch nicht nach, als Damilla auf dem Stroh lag. Sie blickte um sich und sah im schwachen Licht der blakenden Laterne, daß auch die Decke und die Wände des Stalles nicht mehr fest und massiv zu sein schienen, sondern sich bogen und bebten wie unter dem Ansturm gewaltiger und unbekannter Kräfte. Ein abscheulicher Traum, dachte das Mädchen. Er wird immer grausiger. Ich sollte die Augen schließen, vielleicht hört dann alles auf. Doch es hörte nicht auf, als sie die Augen geschlossen hatte, und Damilla dachte, so müsse es wohl sein, wenn man sich auf hoher See in einem schwankenden Boot befinde. Einmal das Meer sehen, einmal auf einer stolzen Schivone die Welt umrunden, das war immer ihr größter Herzenswunsch gewesen. Sie hatte es Magister Fuxfell erzählt, und der hatte ihr versprochen, sie später mitzunehmen auf seine Reisen und ihr die ganze Welt zu zeigen: das stolze kalte Festum, die giftigen Sümpfe von Selem, das geheimnisvolle Khunchom, das grausam-schöne Al’Anfa … Plötzlich stand er neben ihr und blickte sie mit seinem einen Auge seltsam an.
»Warum hast du mich verraten, Zordan?« fragte sie. »Warum hast du unsere Liebe verraten, warum hast du unser Kind verraten?« Wieso sage ich du zu ihm und rede ihn beim Vornamen an? ging es Damilla durch den Kopf.
Aber Zordan antwortete nicht, sondern riß sich statt dessen die Binde vom Auge. Was darunter zum Vorschein kam, war nicht das Auge eines Menschen – gelb wie das einer Kröte war es, und die Pupille darin lag quer wie bei einer Ziege. Damilla wollte gar nicht hinschauen, so sehr graute ihr, aber es gelang ihr nicht, die Augen zu schließen. »Hilf mir, Zordan, daß ich mich aufrichten kann!« sagte sie. »Ich möchte so gern das Meer sehen. Aber ich sehe nur den Himmel, und der ist ganz rot.«
Statt einer Antwort lachte Zordan und trat sie gegen den Bauch – er trug Reitstiefel mit Sporen, wie das Mädchen bemerkte. Ein heißer Schmerz durchzuckte sie; so heftig war er, daß davon das Kind erwachte. Und kaum war es wach, da wollte es sie auch schon verlassen. »Bleib hier, kleine Zulhamin, es ist zu früh!« flehte Damilla, aber das Kind hörte sie nicht. Es strebte mit aller Kraft aus ihrem Körper, und da begann die Magd zu pressen, so wie Danja es ihr geraten hatte. »Bleib bei mir, kleine Zulhamin, verlaß mich nicht!« bat sie noch einmal, aber sie wußte, daß es vergeblich war. Wogen von Schmerz durchdrangen und umhüllten sie und verbanden sich mit den Wogen des Meeres. Und nun sah sie es endlich! Es war rot, genauso rot wie der Himmel. Ein schwarzer Schnee begann zu fallen, zart und fein zuerst, dann dichter und immer dichter …

Als Hilgert spät in der Nacht mit seinen schweren Stiefeln laut und anhaltend gegen die Hintertür trat, erwachte von dem Lärm das ganze Haus. Ein Diener öffnete ihm und erstarrte beim Anblick des Stallmeisters und seiner Last: Hilgerts Haar schien weißer denn je – in wirren Strähnen stand es vom Kopf ab, so daß es im Licht der Fackel und des Mondes wirkte, als umloderten helle Flammen das Antlitz des Alten. Der Blick der schwarzen Augen war wild wie der eines Wahnsinnigen, und grimmige Wut leuchtete darin. In den Armen trug Hilgert ein in schwere Decken gewickeltes Bündel, aus dessen einem Ende ein brauner Zopf baumelte. Auf der anderen Seite hingen ihm schlaff und bleich die stämmigen Unterschenkel eines Mädchens über den Arm. An den Beinen klebte Blut, und Blut tropfte auch aus dem Bündel, in dem es leise wimmerte.
»Was stehst du da und glotzt?« fuhr der Alte den Diener an, während er ohne zu schwanken den Weg zur Krankenstube einschlug. »Weck die Herrschaft! Hol Hilfe! Und sag, man soll nach Danja schicken – mit Damilla ist ein Unglück geschehen.«

Im Morgengrauen verließen Danja und Susa bekümmert die Krankenstube. Durenald eilte den Frauen entgegen. »Wie sieht es aus, Danja? Werden sie überleben?«
Die Hebamme schüttelte traurig den Kopf. »Ach Herr … das arme Ding …« Zwei Tränen rannen ihr über die runzligen Wangen. »… sie hat ja soviel Blut verloren. Ich verstehe es nicht, es war doch eine normale Geburt. Aber wir konnten die Blutung nicht stillen. Mir schien es fast, als sei etwas in ihrem Inneren zerrissen … Was das Kind betrifft, nun, es ist zart, aber gesund und wohlgestaltet …«
»Lebt sie noch«, fragte Kusmine mit seltsam fremder Stimme, »oder ruht sie schon in Borons Armen?«
»Ach, Euer Edelgeboren, sie atmet noch, aber es ist so wenig Leben in ihr, daß sie die Mittagsstunde …« Schluchzend wandte Danja sich ab.
»Ich gehe zu ihr«, entschied Kusmine. »Allein, lieber Mann«, fügte sie hinzu, als sie sah, daß Durenald ihr folgen wollte.
Lange stand Kusmine schweigend am Bett des sterbenden Mädchens. Die Magd schien zu schlafen; das Neugeborene, von dem nur das schwarzbeflaumte Köpfchen zu sehen war, ruhte in ihrem Arm. Kusmine ließ sich neben dem Bett nieder und ergriff Damillas Hand. »Dein kurzes Leben ist bald zu Ende, mein Kind«, sagte sie schließlich, »und mich dauert, daß es nicht schöner war. Wenn ich dir ein Unrecht getan habe, so bitte ich um Vergebung …« Sie schwieg eine Weile. »Ich werde für dich zu Boron und zu Peraine beten … Ich weiß nicht, ob du mich hören kannst, aber du sollst wissen, daß ich dich für ein braves und tapferes Mädchen halte – du bist immer ein gutes Mädchen gewesen … Was dein Kind betrifft, so mach dir keine Sorgen. Ich gebe dir mein Wort, daß für das Kleine gut gesorgt werden wird. Ich werde es annehmen als das meine, und es soll aufwachsen als Thalionmels Geschwisterchen …« Kusmine wußte nun nichts mehr zu sagen, und so saß sie einfach still auf ihrem Schemel, betrachtete das kindliche blasse Antlitz der Magd und das rote Köpfchen des Säuglings und beobachtete, wie der Himmel hinter dem unverhangenen Teil des Fensters allmählich heller wurde. Plötzlich gewahrte sie, daß die Hand, die sie hielt, deutlich kühler geworden war.
Vorsichtig löste Kusmine das Kind aus dem Arm der Toten. Sie nahm das winzige Bündel und wandte sich zum Gehen. »Schlaf gut, kleine Damilla, leb wohl – Boron sei dir gnädig«, sagte sie, bevor sie den Raum verließ. Durenald, Danja, Susa und Hilgert erwarteten die Herrin von Brelak vor der Krankenstube. Wortlos legte Kusmine den Säugling in Danjas Arme. »Es ist vorüber«, sagte sie nur, worauf die Frauen in Tränen ausbrachen. »Bringt das Kind zu einer guten Amme im Dorf. Dort soll es so lange bleiben, bis es der mütterlichen Brust entwöhnt ist. Danach« – sie blickte Durenald fest in die Augen – »soll es hier im Hause leben und aufwachsen als Thalionmels Bruder oder …«
»Es ist ein Mädchen«, schluchzte Danja.
»Als Thalionmels Schwester also. Bist du einverstanden, lieber Mann?«
Durenald drückte stumm die Hand seiner Gemahlin und schaute sie mit feuchten braunen Augen innig an. ›Ich danke dir, mein liebes Herz‹, schien sein Blick zu sagen. Laut sagte er: »Wie soll das Kind heißen?«
»Zulhamin!« Erstaunt wandten sich alle zu Hilgert um. Es war das erste Wort, das der Stallmeister sprach, seit er der Herrschaft berichtet hatte, wie er das bewußtlose, stark blutende Mädchen und ihr Kind im Pferdestall gefunden hatte. Nun blickten ihn vier Augenpaare fragend an. »Sie hat immer gesagt, wenn es ein Bub werde, solle er Zordan heißen, und wenn es ein Mädchen werde, solle sie Zulhamin heißen. Es ist ein Mädchen, also heißt es Zulhamin.«
Hilgert verneigte sich, dann verließ er mit großen Schritten das Haus.
5. Kapitel
Hab ich dich endlich gefunden!« rief Zulhamin, als sie sich außer Atem neben der Ziehschwester ins hohe Gras fallen ließ. »Ich hab schon überall nach dir gesucht, aber keiner wußte, wo du bist. Aber dein Pferdchen war im Stall, und da wußte ich, daß du nicht weit sein kannst. Warum bist du denn fortgegangen, ohne mir Bescheid zu sagen, und was machst du hier überhaupt?«
»Ich denke nach«, erwiderte die Angesprochene, ohne ihre Haltung zu verändern: Sie lag auf dem Rücken, die Linke unter dem Kopf, die Rechte untätig im Gras ruhend, den linken Fuß auf das Knie des angewinkelten rechten Beines gelegt, und kaute an einem langen Halm, den sie beim Sprechen geschickt zwischen den Zähnen balancierte. »Und Bescheid gesagt habe ich dir deshalb nicht, weil du dann hättest mitkommen wollen und so lange gedrängelt hättest, bis ich dich mitgenommen hätte. Ich wollte aber lieber allein sein.«
Zulhamin schob schmollend die Unterlippe vor. »Du hast mir aber versprochen, mit mir auszureiten, und dann bist du ohne mich davongelaufen. Das ist nicht nett. Und versprochen ist versprochen!« Unvermittelt beugte das schwarzhaarige Mädchen sich über die Schwester und trommelte mit ihren kleinen Fäusten auf deren Bauch.
»Laß das!« Thalionmels Hände schlossen sich fest, aber nicht schmerzhaft um Zulhamins zierliche Handgelenke. »Ich will nicht raufen! Dann fließen bei der kleinen Zimpermina wieder Tränen, und danach steht mir nicht der Sinn.«
»Ich bin keine Zimpermina, ich heiße Zulhamin!« Das Mädchen versuchte, sich zu befreien, aber Thalionmel entließ sie nicht aus ihrem Griff.
»Versprich mir, daß du mich nicht mehr boxen wirst, dann laß ich dich los.«
»Ist ja gut, ich boxe dich nicht mehr. Versprochen. Und nun laß mich los.«
Augenblicklich öffnete Thalionmel die Hände und nahm ihre vorherige Haltung wieder ein. Dann wandte sie den Kopf der Jüngeren zu. Sie schien zu lächeln, aber da die Praiosscheibe hoch am wolkenlosen Himmel stand, hatte sie die blauen Augen fast ganz zugekniffen und die Nase gekraust, so daß ihr Gesicht zu einer lustigen Grimasse verzogen war, und man nicht mit Gewißheit entscheiden konnte, in welcher Gemütslage sie sich befand.
»Schau zur Praiosscheibe«, befahl sie der Freundin, »und sag mir, welche Stunde wir haben.«
Das zierliche Mädchen – es mochte acht oder neun Götterläufe zählen – legte den Kopf in den Nacken und verzog das Gesicht in überraschender Übereinstimmung mit der Älteren. »Die elfte vielleicht?« mutmaßte sie nach einer Weile, dann nieste sie heftig.
»Ach Zulhamin, was soll nur aus dir werden, wenn ich nicht mehr hier bin?« Thalionmel schüttelte mißbilligend den Kopf und ließ eine strenge Doppelfalte zwischen den Brauen erscheinen. »Wie oft habe ich dir erklärt, daß du die Bahn der Praiosscheibe durch die Stunden des Tages teilen mußt und daß wir die zwölfte Stunde zählen, wenn sie ihren höchsten Stand erreicht hat. Nun, schau!« Sie wies mit der Rechten zur Sonne, und Zulhamins Blick folgte ihrem Arm. »Der höchste Stand ist überschritten, um ein knappes Zwölftel vielleicht, und das bedeutet, daß die erste Stunde nach Mittag noch nicht ganz vorüber ist. Ich habe aber versprochen, zwischen der zweiten und dritten Stunde mit dir auszureiten. Du siehst, ich habe mein Wort nicht gebrochen, und das werde ich auch nicht tun. Niemals.«
»So spät ist es schon!« rief Zulhamin erschrocken. »Dann müssen wir uns ja sputen, damit wir rechtzeitig zum Mittagsmahl kommen.« Sie erhob sich und wartete, daß die Freundin ein gleiches tue.
Aber Thalionmel blieb unbewegt liegen, dann spie sie den Grashalm aus. »Ich esse heute nicht, geh nur allein und richte den Eltern meine Entschuldigung aus.«
»Aber es gibt Hasenpfeffer mit Weißbrotklößen, hat Titina gesagt. Das ißt du doch sonst immer so gern … Und wenn du nichts ißt, esse ich auch nichts, so!« Sie ließ sich wieder neben der Freundin nieder, schlang die Arme um die Beine und drückte den Kopf gegen die Knie, so daß ihr langes schwarzes Haar wie ein Umhang über Arme und Schultern floß. »Ich bleibe hier und esse auch nichts«, wiederholte sie.
»Wenn du dein Gesicht vergräbst und in deinen Schoß murmelst, kann dich keiner verstehen. Außerdem mußt du essen, sonst wächst du nicht, und du willst ja wohl nicht immer so winzig bleiben, wie du bist.«
»Erstens bin ich nicht winzig, und zweitens mußt du auch noch wachsen, denn so groß wie die Muhme bist du noch lange nicht.« Zulhamin hatte ihre Haltung nicht verändert, aber doch ein wenig lauter gesprochen, damit die Freundin ihre Worte auch verstand.
»Ich bin groß für mein Alter«, erwiderte Thalionmel, »und ich will und werde auch noch wachsen, und ich werde auch essen, nur heute eben nicht … Schau einmal, dort oben kreist ein Adler!«
»Wo?« Zulhamin vergaß, daß sie ein schmollendes Bündel spielen wollte, und richtete sich auf. Sie beschattete die Augen mit der Hand, als sie den Himmel nach dem seltenen Vogel absuchte. »Woher willst du wissen, daß es ein Adler ist?« fragte sie, als sie ihn schließlich entdeckt hatte. »Es kann ebensogut ein Geier sein.«
»Ein Geier, pah!« Thalionmel schüttelte angewidert die blonden Locken. »Sieh dir doch die Form der Flügel an, daran kannst du genau erkennen, daß es ein Adler ist«, sagte sie bestimmt, obwohl sie keineswegs sicher war, denn die Konturen des Vogels verschwammen vor ihren Augen, sosehr sie sich auch mühte, ihn klar zu erfassen. »Und an seinem Flug, der wahrhaft majestätisch ist«, fuhr sie fort. Sie schwieg eine Weile, während sie den kreisenden Vogel beobachtete. »Der Adler ist der König der Lüfte und mit dem Greifen verwandt«, dozierte sie, »so wie der Löwe der König der Steppe ist, und auch mit dem Greifen verwandt. Die Löwin hingegen ist ein Sinnbild unserer Herrin Rondra und die Königin aller Tiere … Heute morgen ist ein Brief aus Neetha gekommen«, sagte sie unvermittelt, »von der Schule. Am nächsten Markttag werde ich dort anfangen.«
»Am nächsten Markttag?« Zulhamin zählte, mit den Fingern. »Aber das ist ja schon in drei Tagen! Ich wußte nicht, daß es schon so bald ist …« Sie blickte bekümmert in die Ferne. »Ich möchte so gern mitkommen, warum darf ich nicht?«
»Aber Zulhamin!« Thalionmel richtete sich auf, schlang ebenso wie ihre Ziehschwester die Arme um die Unterschenkel und legte das Kinn auf die Knie. »Wir haben doch schon so oft darüber geredet! Die Muhme hat es dir erklärt, der Oheim hat es dir erklärt, und ich habe es dir erklärt: Die Schule in Neetha ist eine Garnisonsschule; dort werden angehende Krieger ausgebildet. Aber du willst doch gar keine Soldatin werden, dazu bist du nicht berufen und …«
»Der Oheim ist auch kein Soldat«, fiel Zulhamin ihr ins Wort, »und er war auch auf der Schule! Aber später ist er gar kein Krieger geworden, sondern lieber Freiherr …«
»Freiherr oder Freifrau wird man nicht, so wie man sich entscheidet, Bäcker oder Schmiedin zu werden – den Adelstitel und ein Lehen bekommt man vom Lehnsherrn oder der Lehnsherrin verliehen und vererbt beides an seine Nachkommen …«
»Ist doch gleichgültig«, unterbrach sie Zulhamin, »jedenfalls ist der Oheim nicht Krieger geworden, obwohl er auf der Kriegerschule war. Und deshalb kann ich auch hingehen und später doch Schreiberin werden … nein, nicht Schreiberin, lieber Tänzerin …«
»Gleichgültig ist es eigentlich nicht«, erwiderte Thalionmel streng, »aber lassen wir das.« Sie schwieg ein Weilchen. »Tänzerin?« fragte sie unvermittelt. »Seit wann willst du Tänzerin werden? Letzte Woche wolltest du Köchin werden und vor einem Mond Heilerin.« Sie wandte den Kopf und sah die Schwester nachdenklich, fast prüfend an. »Soso, Tänzerin … aber du hast doch noch nie eine Tanzstunde genossen, wenn man von den Schritten der Kuslikana absieht, die meine Mutter uns beigebracht hat. Und du hast doch noch nie eine Tänzerin gesehen. Wie bist du nur auf den Gedanken verfallen?«
»Ich habe wohl schon eine Tänzerin gesehen«, erwiderte Zulhamin triumphierend, »und zwar in einem Buch. Gestern. Sie hatte schwarze Haare, so wie ich, und war sehr schön, und so eine Tänzerin möchte ich auch werden.«
»Aber zukünftige Tänzerinnen gehen nicht auf die Garnisonsschule, siehst du das ein?« fragte Thalionmel. »Sie gehen bei einer Tänzerin in die Lehre, glaube ich, und deshalb kannst du auch nicht mitkommen. Ach, schau doch nicht so traurig, kleine Schwester.«
Das Mädchen nahm einen Grashalm und kitzelte die Jüngere damit am Ohr, aber Zulhamin schlug nur unwirsch nach dem Halm.
»Du sollst mich nicht ärgern«, sagte sie böse, »und du sollst auch nicht fortgehen und mich alleinlassen.« Plötzlich schien sie den Tränen nahe.
»Aber ich laß dich doch nicht allein, Zulhamin. Nicht weinen, du weißt, daß ich das nicht leiden kann! Du bleibst hier bei meiner Mutter und meinem Vater, und das Gesinde und die Kinder aus dem Dorf sind bei dir. Wie kannst du da sagen, daß du allein sein wirst? Außerdem werde ich zwei- oder dreimal im Jahr zu Besuch kommen, und schreiben werde ich dir auch. Doch nun lauf, damit du nicht zu spät zum Mittagsmahl kommst … beeil dich!« Aber Zulhamin machte keine Anstalten, sich zu erheben; sie kauerte sich wieder zu einer kleinen Kugel zusammen und saß eine Weile ganz still in dieser Haltung. Plötzlich bemerkte Thalionmel, daß die schmalen Schultern der Schwester unter dem Vorhang aus Haar bebten. Sie streckte die Hand aus, um der Jüngeren den Kopf zu streicheln, doch im letzten Augenblick zog sie sie wieder zurück. Dann stand sie auf, wandte sich ab und stemmte die Hände in die Seiten. »Nun weinst du, obwohl ich es dir verboten habe. Dabei wollte ich dir eigentlich meine Ritterpüppchen und mein Holzschwert zum Abschied schenken. Aber ich denke, ich sollte sie lieber behalten – für eine Flenndela wie dich sind sie wohl nicht das Rechte.«
»Du« – Zulhamin schniefte und versuchte, das Schluchzen zu unterdrücken –, »du hast mich gar nicht lieb. Du freust dich nur, daß du endlich auf die Schule kommst, aber ich …« Das Mädchen konnte nicht weitersprechen – ungehemmt brach der Kummer sich Bahn.
Thalionmel schüttelte unwillig den Kopf. Sie hatte die Lippen fest zusammengepreßt und blickte unter leicht zusammengezogenen Brauen zu einem fernen Punkt am Horizont. Wie sie so dastand, glich sie in Haltung und Miene so sehr ihrer Mutter, daß sie, bis auf die vom Vater ererbten Locken, als ein verkleinertes und verjüngtes Abbild Kusmines gelten konnte. »Natürlich freue ich mich auf die Schule«, sagte sie schließlich, »wie sollte ich mich auch nicht freuen? Aber ich bin auch traurig, dich zu verlassen, nur weine ich eben nicht soviel wie du. Ich weine überhaupt nicht – das geziemt sich nicht für eine angehende Kriegerin.«
»Ich kann doch nichts dafür, daß ich immer weinen muß, wenn ich traurig bin«, erwiderte Zulhamin, unterbrochen von Schluchzern, die allmählich verebbten. »Es liegt daran, daß ich zu früh gekommen bin, sagt Susa, und daran, daß meine Mutter immer so traurig war, als ich noch in ihrem Bauch war. Jedenfalls ist es nicht meine Schuld. Und daß du mich allein zurückläßt und nicht mit nach Neetha mitnehmen willst, macht mich eben traurig.« Wie zur Bestätigung ihrer Worte schniefte sie ein paarmal heftig.
»Nun ist es gut, kleine Schwester, jetzt hast du geweint, und nun ist es gut«, sagte Thalionmel ein wenig schroffer, als sie beabsichtigt hatte, »ich will dich nicht mit nach Neetha nehmen, ich kann es nicht! Wo solltest du wohnen, und wer sollte für dich sorgen? Siehst du, darauf weißt du keine Antwort. Aber vielleicht kannst du meine Mutter und mich ja begleiten, wenn wir in drei Tagen nach Neetha fahren, und dann kannst du dir die Schule und den Saal ansehen, in dem ich mit den anderen Zöglingen schlafen werde, und den Saal, in dem wir essen, und den Raum, in dem wir in Kriegskunst und Geschichtswissen und Rondrakult und Fecht- und Waffenkunde und …« Sie dachte ein Weilchen angestrengt nach und legte dabei – wiederum die Mimik ihrer Mutter unwillentlich nachahmend – den Kopf ein wenig zur Seite und richtete den Blick der hellblauen Augen schräg nach oben in weite Fernen. »… und Anatomie und Wundheilkunde unterwiesen werden.«
»Den Turnierplatz will ich auch sehen!« Zulhamins Tränen waren versiegt; die Aussicht, mit Tante und Schwester nach Neetha reisen zu dürfen, machte sie ganz aufgeregt, und so hüpfte sie mit ihren flinken Beinen durchs Gras.
»Aber Zulhamin, das ist doch eine Garnison und kein Schloß, wo ich zur Kriegerin erzogen werde! Einen Turnierplatz gibt es dort nicht – du meinst sicher den Exerzierplatz, und den werde ich dir gewißlich zeigen, und die Fechthalle auch … falls du mitkommen darfst, denn das habe schließlich nicht ich zu entscheiden.«
Thalionmel wandte sich zu der Ziehschwester und Freundin um. »Versprichst du mir, daß du nun ganz schnell nach Hause läufst, wenn ich mich heut abend bei meinen Eltern deiner Sache annehmen werde?« Die Kleine nickte heftig, dann streckte sie die Hand aus, um zur Bestätigung der Abmachung mit der Schwester den Schlag zu tauschen. »Nein, so geht das nicht – aufstehen mußt du schon! Außerdem habe ich laufen gesagt und nicht auf dem Hintern hoppeln.«
Schließlich war das Ritual ordnungsgemäß vollzogen, und Zulhamin rannte davon, flinker und behender, als man es ihrer zarten Gestalt zugetraut hätte. »Richte meinen Eltern meine Entschuldigung aus, und sag ihnen, daß ich nachdenken muß – das kann ich nun einmal am besten, wenn ich allein bin und wenn mir die Sonne auf den Kopf scheint!« rief Thalionmel der Schwester nach.
Ja, nachdenken, dachte sie, während sie beobachtete, wie Zulhamin zum fernen Gutshaus eilte; zum erstenmal im Leben fiel ihr auf, wie gewandt und hübsch die kleine Ziehschwester war. Sie ist sehr niedlich, ging es ihr durch den Kopf. Viel schöner als ich – vielleicht hat sie wirklich das Zeug zur Tänzerin.
Nachdem Zulhamin aus ihrem Blickfeld verschwunden war, ließ Thalionmel sich wieder im Grase nieder und nahm ihre ursprüngliche Haltung ein. Sie schloß die Augen und genoß die Hitze und das Summen und Brummen und Krabbeln und Schaben der unzähligen winzigen sechsfüßigen Tierchen ringsumher. Für Mitte Ingerimm war es nicht ungewöhnlich heiß, aber der Tag konnte durchaus als Sommertag gelten. Die erste Heumahd war vorüber, und das Mädchen freute sich, daß ihr geheimes Plätzchen – nahe am Weiher, aber doch so weit vom Röhricht entfernt, daß man dort trocken lagern konnte – auch in diesem Jahr von der Sense verschont geblieben war. Sie hatte sich vorgenommen, über sich selbst, ihr bisheriges und zukünftiges Leben nachzudenken, aber noch bevor die Schwester gekommen war und sie gestört hatte, war ihr klargeworden, daß diese Art des Nachdenkens sich für eine Kriegerin eigentlich nicht geziemte. Richtig nachdenken sollte man an einem Pulte stehend, so dachte sie, Feder und Pergament griffbereit, so daß man sogleich wichtige Gedanken notieren kann. Aber … ich schreibe ja so ungern und krakelig. Zulhamin hat eine viel zierlichere Hand als ich, wenn sie auch oft die Wörter nicht richtig schreibt – und hier in der Sonne und im Grase ist es viel schöner als am Pult in meinem Zimmer. Ja, das ist undiszipliniert und weichlich, daß ich mich nicht aufraffe und in mein Zimmer gehe und mir statt dessen lieber die Praiosscheibe auf den Kopf scheinen lasse, obwohl ich doch weiß, daß ich davon eher ins Träumen gerate als zum Denken komme, und wenn ich jetzt in meiner Stube wäre, müßte ich aufschreiben: weniger nachgiebig mir selbst gegenüber sein, das Weichliche ablegen und Disziplin üben! So, wie ich jetzt bin, kann ich der Herrin Rondra nicht unter die Augen treten.