Kitabı oku: «DSA: Die Löwin von Neetha Sammelband», sayfa 8
Thalionmel malte sich aus, wie sich wohl ihr erster Besuch im Tempel des Sieges gestalten würde; sie hatte den schmucklosen, aus hellem Sandstein errichteten Kuppelbau schon ein paarmal von außen gesehen und mit Ehrfurcht betrachtet, betreten hatte sie ihn nie. Kindern, so wußte sie, war der Zutritt verwehrt, es sei denn, sie hatten in einer Prüfung des Charakters durch ein Gremium von drei Geweihten genug Standhaftigkeit und sittliche Reife bewiesen, um vor die Göttin zu treten. Ob ich es wohl schaffe, die Prüfung vor meinem elften Geburtstag abzulegen? dachte sie. Meine Mutter war elf und ein halbes Jahr alt, als sie zum erstenmal den Tempel besuchen durfte.
Kusmine hatte, als sie bemerkte, daß die Tochter, was Anlagen, Neigungen und Wuchs betraf, mehr nach ihr selbst geriet als nach dem Gatten, dem Kind oft von der Göttin, dem Tempel und den Grundlagen des Kultes erzählt und ein heißes Sehnen in seinem Herzen entfacht. Sie ist ernster und verständiger, als ich in ihrem Alter war, und auch strenger gegen sich selbst, dachte sie bisweilen. Vielleicht ist sie gar berufen, sich der Herrin zu weihen. Doch ob ich es mir wünschen soll …?
Thalionmel wußte nichts von den geheimen Gedanken ihrer Mutter. Sie lag reglos im Gras und überließ sich ihren Gedankenträumen. Das Mädchen war groß für sein Alter; am 22. Firun war sie zehn geworden, aber jeder, der sie sah und ihr Alter nicht kannte, schätzte sie auf zwölf Götterläufe. Nicht nur ihr Wuchs, auch die Züge ihres Gesichtes ließen sie älter erscheinen, als sie war; nur wenig Weiches und Kindliches war in ihnen zu entdecken: Wenn das Mädchen lachte, was nicht zu häufig geschah, oder die Lippen zu einem oftmals spöttischen Lächeln verzog, entstanden beiderseits des Mundes kleine Grübchen in den Wangen, was die strenge Schönheit mit rahjagefälligem Liebreiz überhauchte.
Die Augen waren das Wunderbarste in dem Gesicht.
Zwar standen sie vielleicht ein klein wenig zu dicht beieinander, um als wirklich schön zu gelten, und oftmals lagen bläuliche Schatten in den Winkeln, aber sie waren dunkel bewimpert, wodurch ihre ungewöhnliche Helligkeit auf eindrucksvolle Weise betont wurde. Die Farbe der Augen war von einem dunstigen Blau mit goldenen Lichtern darin.
Jetzt waren die Augen geschlossen, und der kaum sichtbare Doppelbogen der blonden Brauen war entspannt wie im Schlaf. Die wohlgeformten, nicht eben vollen Lippen ruhten weich aufeinander, waren aber nicht geöffnet, wie man es oft bei schlafenden oder träumenden Kindern sieht.
Thalionmel trug das blonde Lockenhaar offen, eine Gewohnheit, die sie von ihrer Mutter übernommen hatte – Kusmine hielt es für eine Vergeudung von Zeit und Lebenskraft, sich Tag für Tag von der Zofe die Haare zu einer kunstvollen Flechtfrisur aufstecken zu lassen, wie sie bei den vornehmen Damen des Reiches in Mode war. Und genau wie die Mutter bevorzugte das Mädchen Kleidung aus Linnen, Tuch oder Leder, die ihre Bewegungsfreiheit nicht einschränkte und – je nach Jahreszeit – Schutz vor der Hitze oder der Kälte bot.
Heute trug Thalionmel kniekurze linnene Beinkleider und darüber einen in der Mitte gegürteten, locker geschnittenen Überwurf, ähnlich der Tracht der Wüstennomaden. Wie verschieden von meiner Schwester bin ich doch in diesen Dingen, ging es ihr durch den Kopf. Zulhamin findet Gefallen an schönen Gewändern, an Stickwerk, Zierat, Geschmeide und dergleichen. Für mich hingegen sind der schönste Schmuck ein blinkender Helm und ein blinkendes Schwert … mein Schwert! Ob wohl mein Schwert schon fertig ist? Es sollte heute gebracht werden … Einen Moment lang war das Mädchen versucht, zum Haus zu laufen und nach dem Schwert zu fragen, doch entschlossen kämpfte es diese Regung nieder, und ein heimlicher Beobachter hätte nur am Runzeln der Brauen und dem Ballen der Rechten zur Faust den kurzen Kampf in ihrem Innern ablesen können. Nein! rief sie sich zur Ordnung. Nun habe ich einmal entschieden und dies auch laut verkündet, daß ich auf das gemeinsame Mittagsmahl verzichten will, um allein zu sein und nachzudenken – jetzt bleibt es auch dabei! Ich werde meine Neugierde bis zum Abend bezwingen müssen, denn über unserem Ausritt wird es wohl Abend werden. Aber vielleicht weiß Zulhamin etwas darüber. Ja, gewiß, wenn mein Schwert eingetroffen ist, wird sie es wissen und mir erzählen … Sosehr Thalionmel sich auch bemühte, ihre Gedanken zu ordnen und auf die Freuden und Pflichten ihres zukünftigen Lebens als Garnisonszögling zu lenken, so konnte sie doch nicht verhindern, daß diese immer wieder zu dem Schwert zurückkehrten.
In der Garnison zu Neetha war es ebenso wie an den Akademien des Reiches üblich, daß jeder Zögling beim Eintritt in die Schule sein eigenes, aus Eisen geschmiedetes und der Körpergröße angepaßtes Schwert mitbrachte. Natürlich waren diese Übungsschwerter, bei deren Handhabung die Schüler ein Gefühl für Gewicht und Gefährlichkeit der Waffe erlernen sollten, nicht wirklich scharf geschliffen, aber man hätte sie schärfen können … Es waren wirkliche kleine Schwerter, die in einer Scheide am Gehänge getragen wurden. Kusmine bewahrte die drei Schwerter aus ihrer eigenen Schulzeit in der Rüstkammer auf. Sie hatte sie zwischen dem neunten und sechzehnten Lebensjahr benutzt, und sie waren, eines nach dem anderen, mit ihr gewachsen. Im Verlauf des letzten Jahres hatte sie der Tochter immer häufiger erlaubt, mit dem kleinsten Schwert zum Übungsgefecht gegen die Mutter anzutreten. Das Kind hat Talent, dachte sie nach jeder Fechtstunde. Welche Freude es doch macht, es zu unterweisen! Und fast bedauerte sie, Thalionmels Ausbildung in fremde Hände legen zu müssen.
Mit meinem eigenen Schwert wird es besser gelingen als mit dem Schwert der Mutter, dachte Thalionmel, weil es mein eigenes ist, weil es mir gehört und zu mir gehört und ich nicht um Erlaubnis fragen muß, ob ich es benutzen darf. Mein eigenes werde ich auch mit mehr Liebe und Sorgfalt pflegen. Woran das nur liegen mag? … Es wird nicht prächtiger sein als das der Mutter, eher schlichter, denn die Form von Klinge, Griff und Heft ist vorgeschrieben, und es wird auch keine Inschrift tragen – es wäre überheblich, dem Schwert einen Namen zu geben, und Worte wie ›Rondras Ehr – Schutz und Wehr‹ eingravieren zu lassen, wäre gar so vermessen, daß es fast einer Lästerung gleichkäme. Woran also liegt es, daß ich mich so danach sehne, endlich mein eigenes Schwert in der Hand zu halten? Vielleicht daran, daß es ganz neu sein wird und ich die erste bin, die es führt. Und bei jeder Scharte auf der Klinge werde ich wissen, woher sie stammt … Um so gut zu werden wie meine Mutter, muß ich noch lange Jahre üben, aber ich weiß, daß ich eine fähige Kämpferin werden kann. Ich habe Talent fürs Fechten, und ich bin mutig – ich sehe die Anerkennung in den Augen der Mutter, auch wenn sie sparsam ist mit ihrem Lob. Daß ich um meine Begabung weiß, ist vielleicht nicht gut, es könnte mich überheblich machen. Man sagt, daß ich stolz bin, aber das ist etwas anderes – Stolz ist eine Tugend, die der Göttin wohlgefällig ist, aber Überheblichkeit ist eine Untugend, und doch sind beide miteinander verwandt und oftmals nicht leicht voneinander zu unterscheiden. Ich sollte eine Liste meiner guten und schlechten Eigenschaften erstellen, damit ich die schlechten bekämpfen und die guten fördern kann. Also, zu meinen schlechten Eigenschaften zählen die Neugierde und der Jähzorn. Obwohl – auch bei der Neugierde und dem Jähzorn läßt sich bisweilen nicht mit Gewißheit sagen, ob sie wirklich nur schlecht sind. Ist nicht die Wißbegierde die Schwester der Neugierde und der gerechte und heilige Zorn der Bruder der Wut? Bevor ich also die Liste erstelle, muß ich die Begriffe genau bestimmen, damit ich weiß, wann es der gerechte Zorn ist, der mich ergriffen hat, und wann es die blinde und böse Wut ist … Aufrichtigkeit gehört wohl nicht zu meinen guten Eigenschaften, daß ich solcherlei Gedanken hege, denn ich weiß es doch stets, wenn ich in Jähzorn gerate. Ich weiß es, und dennoch gelingt es mir nur selten, die Wut zu unterdrücken, also ermangelt es mir an Selbstbeherrschung, und dabei übe ich mich darin … Ja, der Vater hat recht: Klaglos Schmerzen des Körpers und Entbehrungen zu ertragen, ist nur ein Teil der Selbstbeherrschung, wenn auch der wichtigste. An der Selbstbeherrschung also muß ich noch arbeiten, und wie steht es mit dem Mut? Bin ich wirklich mutig? …
Thalionmel dachte an die Bettler auf den Tempelstufen, Veteranen und Söldlinge die meisten, und wie jedesmal, wenn heraufbeschworen oder ungerufen das Bild der beklagenswerten Menschen vor ihrem inneren Auge erschien, wurde ihr seltsam beklommen zumute. Alle diese verstümmelten Männer und Frauen hatten ihre Gliedmaßen im Gefecht verloren, der Herrin zur Ehre, und nun konnten sie ihr nicht nur nimmer dienen, sondern waren kaum in der Lage, ihr Leben aus eigener Kraft zu fristen, und waren auf die Almosen frommer Kriegsleute und Geweihter angewiesen. Wenn nun Frau Rondra auch von mir, statt meines Lebens, das ich ihr gern schenken will, meine Arme, Beine oder Augen fordern würde …, dachte das Mädchen, und trotz der mittäglichen Hitze begann sie zu frösteln. Verstümmelt und entstellt zu werden, ist meine größte Furcht – Herrin Rondra vergib mir diese Furcht –, und lieber will ich sterben, bevor ich fünfundzwanzig bin, als so zu leben wie diese: mir selbst und den anderen eine Last und ein Ekel … Ja, mir graut vor diesen bejammernswerten Gestalten, obwohl es nicht recht ist und ich sie verehren sollte für ihre Tapferkeit, dachte Thalionmel. Ich ekle mich vor ihrer Häßlichkeit, vor ihren leeren Augenhöhlen, ihren Armstümpfen und den beinlosen Rümpfen, die dicht am staubigen Boden auf einem Brett mit Rollen hocken … Lieber will ich jung sterben, und eher werde ich mich selbst entleiben, als solch ein nutzloses, elendes und ekles Leben zu führen … Thalionmel öffnete die Augen und blinzelte zum Himmel. Dann erhob sie sich und ging grimmigen Blickes und gemessenen Schrittes zum elterlichen Gutshaus.
Vor dem Pferdestall war Zulhamin damit beschäftigt, ihr Pferdchen zu satteln. Elgor, der neue Stallmeister, stand neben ihr und beobachtete lächelnd, wie sie sich mit ernster Miene abmühte. Er war von der Herrschaft angewiesen worden, den Mädchen nicht die Arbeit mit ihren Reittieren abzunehmen, wohl aber den ordnungsgemäßen Sitz des Zaumzeuges und der Sattelgurte zu überprüfen.
Obwohl Elgor schon fast fünf Jahre auf Gut Brelak arbeitete, wurde er immer noch der neue Stallmeister genannt, denn Hilgert hatte diese Stellung fast vierzig Jahre lang innegehabt. Aber eines Morgens war der Alte verschwunden – ohne Abschied, ohne eine Nachricht zu hinterlassen und ohne den Lohn für die letzten zwei Wochen. Man fand seine Stube leer und reinlich ausgefegt; die Pferde im Stall waren alle wohlversorgt. Seit jenem Tag hatte niemand jemals wieder von Hilgert gehört.
»Du bist zu spät«, rief Zulhamin, als sie die Schwester entdeckte, »und deshalb verrate ich dir auch die Überraschung nicht, die ich weiß!«
Thalionmel lachte – ihr Schwert war also gekommen. »Ich bin nicht zu spät«, erwiderte sie, »und ich werde mein Pferd gesattelt haben, noch bevor die dritte Stunde angebrochen ist.« Obwohl sie am liebsten ins Haus gestürmt wäre, um ihr Schwert zu sehen und auszuprobieren, versagte sie sich, die Schwester auch nur danach zu fragen. Das wird eine gute Übung sein, meine Neugierde zu bezwingen, dachte sie. Und ich will auch wegen des Schwertes den versprochenen Ausritt nicht verkürzen.
Die dritte Stunde war eben angebrochen, als die Mädchen den Hof verließen. Beide ritten scheckige kleine Steppenpferde – Thalionmel einen Wallach und Zulhamin eine Stute.
»Willst du gar nicht wissen, welche Überraschung ich weiß?« fragte die Jüngere.
Thalionmel versuchte, Stimme und Gesicht einen gleichmütigen Ausdruck zu verleihen. »Mein Schwert wird wohl eingetroffen sein«, sagte sie.
Zulhamin schien ein wenig enttäuscht über die Reaktion der Freundin. »Freust du dich denn gar nicht?« fragte sie. »Willst du nicht wissen, wie es aussieht? Ich habe es schon gesehen – es ist so lang.« Sie riß die Arme auseinander, so weit sie konnte, wodurch ihr Pferdchen ein wenig aus dem Schritt geriet und zu tänzeln begann. »Oh, Verzeihung, Dari, das wollte ich nicht.« Zulhamin tätschelte den Hals des Tieres und ermutigte es durch eine knappe, geschickte Bewegung der Schenkel, den ursprünglichen Rhythmus wieder aufzunehmen. »Also«, wandte sie sich an die Ziehschwester, »es ist ganz lang – einen Schritt vielleicht – und blinkt, und das Heft ist aus Messing, und der Griff ist mit schwarzem Leder umwickelt …«
Thalionmels Kopf fuhr herum. »Du hast es schon in der Hand gehabt?«
»Nein, das durfte ich nicht«, erwiderte die Jüngere. »Die Muhme und der Oheim haben gemeint, daß du die erste sein sollst, die es in Händen hält, aber es ist eine gute Arbeit, sagt die Muhme, und vielleicht darfst du es heute abend gegen sie erproben, und der Sattler wird heute noch das Gehänge bringen … Der Hasenpfeffer war köstlich, da hast du wirklich was verpaßt – Titina hat mit Shadifnägelchen gespickte Zwiebeln in die Sauce getan … Warum sagst du denn nichts?«
Thalionmel war über der Schwester Rede leicht errötet; ihre Augen strahlten, und die Lippen teilten sich zu der Andeutung eines Lächelns. »Ich freue mich so auf mein Schwert«, sagte sie leise, »viel mehr, als ich bedaure, den Hasenpfeffer verpaßt zu haben … oh, Zulhamin, ich freue mich so …«
»Ja, der Hasenpfeffer …«, begann die Jüngere ernst. »Du erinnerst dich hoffentlich an unsere Abmachung.« Und obwohl die Freundin nickte, fuhr sie fort: »Daß du mir versprochen hast, mich mit nach Neetha zu nehmen, wenn ich meinen Hasenpfeffer esse!«
Thalionmel lachte laut: »Aus dir wird noch einmal eine echte Ränkeschmiedin werden, so geschickt du schon jetzt verstehst, die Wahrheit und die Worte zu verdrehen. Ich habe dir versprochen, mich für dich zu verwenden, wenn du dein Mittagsmahl verspeist, was, wie mir scheinen will, kein echtes Opfer war – natürlich werde ich meine Eltern bitten, dir zu erlauben …«
»Das mußt du auch!« unterbrach sie Zulhamin aufgeregt. »Ich glaube nämlich, sie wollen es nicht erlauben. Ich habe beim Essen Muhme und Oheim gefragt, aber sie haben sich nur angeschaut, die Köpfe gewiegt und gemeint, es bleibe ja noch ein wenig Zeit, darüber nachzudenken. Aber ich glaube, die Muhme will nicht, daß ich mitkomme, denn später hat sie zum Oheim gesagt – ich habe es genau verstanden, obwohl sie absichtlich leise gesprochen hat, damit ich es nicht höre –, daß sie mit dir nach Neetha reiten wolle, aber ich sei noch zu klein und zu zart für einen so weiten Ritt.«
»Du reitest gut«, sagte Thalionmel, »genausogut wie ich, obwohl du doch viel jünger und kleiner bist.«
»Ich bin nur etwas jünger und etwas kleiner«, widersprach Zulhamin, strahlend vor Freude über der Schwester Lob, »und ich bin auch nicht zart – ich habe ganz harte Knochen, die noch nie gebrochen sind. Findest du wirklich, daß ich gut reite?«
»Ausgezeichnet«, erwiderte die Ältere, konnte sich aber nicht verkneifen hinzuzufügen: »Für dein Alter und deine Größe.« Doch Zulhamin schien die Neckerei überhört zu haben. Stolz reckte sie das Näschen in die Luft, und ihre bräunlichen Wangen waren rot überhaucht.
»Daß ich so gut reiten kann, liegt daran, daß ich eine Tulamidin bin«, erläuterte sie. »Uns Tulamiden liegt das Reiten eben im Blut.«
»Eine Tulamidin bist du nun nicht gerade«, widersprach Thalionmel, »denn dein Vater, welcher mein Oheim ist und der Halbbruder meiner Mutter, ist selbst nur ein halber Tulamide, also kann dein tulamidisches Erbteil …«
»Meinst du den Oheim Fuxfell?« fiel Zulhamin ihr ins Wort. »Der ist nicht mein Vater.« Das Mädchen hatte die Worte mit so viel Überzeugung gesprochen, daß die Freundin überrascht den Kopf nach ihr wandte.
»Wieso glaubst du, daß er nicht dein Vater ist?« fragte sie.
»Dein Oheim Fuxfell war sehr böse zu meiner Mutter, er hat ihr das Herz gebrochen, und daran ist sie gestorben – das hätte mein Vater gewiß nicht getan. Außerdem hat er mir noch nie etwas geschenkt und mich noch nie besucht.« Zulhamin machte eine kleine Pause. »Und er leugnet, daß ich seine Tochter bin«, fügte sie leise hinzu.
»Woher weißt du das alles?« fragte Thalionmel, nachdem sie eine Weile schweigend an der Freundin Seite geritten war. »Ich dachte immer, dein Vater, der Oheim Fuxfell, reise in dringenden Geschäften durch die Welt, die ihn daran hinderten, sich selbst um dich zu kümmern, und deshalb habe er dich als Ziehtochter in die Hände meiner Eltern gegeben … Und deine Mutter ist an gebrochenem Herzen gestorben, sagst du? Ich dachte immer, sie sei bei deiner Geburt verblutet …«
Zulhamin dachte eine Weile nach, bevor sie antwortete. »Es heißt, daß meine Mutter eine Magd war«, sagte sie unvermittelt. »Glaubst du das?«
»Die Verlobte meines Oheims eine Magd? Nie und nimmer! Wer sagt das? Zulhamin, du bist so seltsam, was ist mit dir? Und wer erzählt dir solche Märchen?«
»Der Oheim – ich habe ihn gestern gefragt, nachdem Titina mich gescholten hatte, weil ich eine Schüssel zerbrochen hatte. Da hat sie gesagt, ich hätte die ungeschickten Finger von meiner Mutter geerbt, die bei der Küchenarbeit auch immer viel zerbrochen und umgestoßen habe. Da bin ich also zum Oheim gegangen und habe ihn gefragt, warum meine Mutter in der Küche arbeiten mußte, ob sie denn eine Magd war, und er hat mir alles erzählt. Auch daß mein angeblicher Vater, der Oheim Fuxfell, kein sehr guter Mensch ist und schlecht an meiner Mutter gehandelt hat. Er wollte es mir wohl erst später erzählen, wenn ich älter bin …« Das Mädchen war bei dem Bericht sehr ernst geworden. Sie hielt die großen, fast schwarzen Augen starr auf die Ohren ihres Pferdes gerichtet, und obwohl sie den Blick der Freundin auf sich spürte, wandte sie den Kopf nicht. »Ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht«, sagte sie, »und ich wollte es dir erzählen, bevor du nach Neetha ziehst.«
Thalionmel ritt eine Weile schweigend neben der Freundin. An der Bewegung von Brauen und Mund erkannte man, daß sie angestrengt nachdachte und nach den rechten Worten suchte. »Macht es einen Unterschied, ob du die Tochter einer Gräfin oder einer Magd bist?« fragte sie halblaut, mehr zu sich selbst. »Du bist doch immer noch dieselbe wie zuvor – Zulhamin, meine liebe Freundin und Schwester … Nun schau doch nicht so ernst, und laß uns lieber ein kleines Wettrennen machen: Wer als erster bei der Ulme dort drüben ist, hat gewonnen.« Sie wies auf einen einsamen knorrigen Baum in etwa zweihundert Schritt Entfernung. »Wie ist es, machst du mit?«
Zulhamin nickte zögernd, dann warf sie entschlossen das Haar nach hinten. »Also gut«, sagte sie, »aber ich zähle – bei drei geht es los! Eins – zwei – drei.« Beim letzten Wort hieb sie ihrem Pferdchen die Schenkel gegen die Flanken und preßte den Körper so dicht wie möglich an den Hals den Tieres. »Los, Dari, lauf!« rief sie. »Schnell, schnell!«
Sei es, daß Zulhamin den besseren Start erwischt hatte, sei es, daß ihr Pferd das schnellere von beiden war, sei es, daß Thalionmel das ihre ein wenig zurückhielt – wie dem auch gewesen sein mochte, die jüngere erreichte den Baum so weit vor ihrer Schwester, daß sie, nachdem sie an den Stamm geschlagen hatte, noch Zeit fand, ihr Pferdchen zu wenden und triumphierend die Arme zu schwenken. »Gewonnen! Gewonnen!« rief sie außer Atem.
»Ja, du hast gewonnen«, bestätigte Thalionmel gutgelaunt, »du reitest wie eine Wüstentochter, wie eine tulamidische Prinzessin, wie ein Dschinn …«
»Vielleicht bin ich eine tulamidische Prinzessin«, erwiderte Zulhamin. »Immerhin habe ich einen tulamidischen Namen. Vielleicht war meine Mutter ein Findelkind von edlem Blut, das von Bauern aufgezogen wurde. Ich habe letzte Nacht darüber nachgedacht, und möglich ist es immerhin …«
»Worüber du so nachdenkst, wenn du eigentlich schlafen solltest …«, Thalionmel schüttelte lächelnd den Kopf. »Aber du hast recht: Es ist möglich.«
»Und mein Vater – ich meine meinen richtigen Vater«, fuhr Zulhamin fort, »denn der Oheim Fuxfell kann nicht mein Vater sein, da er es bestreitet und mich auch nicht liebhat und ich ihn gar nicht kenne –, mein richtiger Vater also ist ein tulamidischer Prinz, den ein schwarzer Magier geraubt hat und in seinem Turm gefangenhält. Und das hat meiner Mutter das Herz gebrochen. Jedenfalls könnte ich eine tulamidische Prinzessin sein, und deshalb will ich Tänzerin werden.«
»Willst du wirklich Tänzerin werden?« Thalionmel schaute die Freundin forschend an. »Ist es dir ernst damit?«
Zulhamin nickte heftig. »Natürlich ist es mir ernst: Ich will so eine Tänzerin werden wie in dem Buch. Warum fragst du?«
»Weil …« Die Ältere machte eine nachdenkliche Pause. »Weil mir ein Gedanke gekommen ist, aber ich weiß nicht, ob ich mit dir darüber sprechen soll. Denn sieh: Wenn ich es dir erzähle, dann wecke ich womöglich Hoffnungen in dir, die sich vielleicht nicht erfüllen werden … und dann bist du enttäuscht und wirst noch trauriger.«
»Ich verstehe überhaupt nicht, wovon du redest«, sagte Zulhamin, und die Unterlippe bebte ihr dabei. »Aber ich fange schon an, traurig zu werden.«
»Nein, keine Tränen, jetzt nicht, bitte!« Thalionmel hieb mit der geballten Rechten in die offene Linke.
»Dann sag, was für ein Gedanke dir gekommen ist«, beharrte die Jüngere und ahmte mit kleinen energischen Hieben die Geste der Freundin nach. Zwar schimmerten in ihren Augen die Tränen, bereit zu fließen, aber die gewölbten roten Lippen waren erwartungsfroh geöffnet. »Nun sag schon!« wiederholte sie.
»Also gut«, begann Thalionmel, »aber bedenke: Ich kann dir nichts erlauben oder versprechen.« Zulhamin nickte ernst, und die Ältere fuhr fort: »In Neetha gibt es eine Tanzmeisterin, die die Geweihten und Novizen des neuen Rahjatempels in Tanz und Grazie unterweist …«
»Grazie?« Zulhamin hob fragend die Brauen.
»Grazie ist, wenn man sich anmutig bewegt«, erläuterte Thalionmel, »vielleicht … vielleicht kannst du ja bei der Meisterin in die Lehre gehen. Ich finde, daß du gewandt bist und dich schon jetzt, ohne es gelernt zu haben, recht anmutig bewegen kannst, und wenn die Tänzerin aus Neetha das auch so sieht, dann nimmt sie dich vielleicht als Schülerin … und dann könnten wir beide in Neetha leben und lernen und uns öfter sehen. Nicht so oft wie jetzt natürlich, aber vielleicht einmal alle sieben Praiosläufe.«
»Meinst du, sie nimmt mich?« fragte Zulhamin, und nun leuchteten ihre Augen vor Aufregung und Freude.
»Ich weiß es nicht, kleine Schwester, ich weiß gar nichts«, erwiderte Thalionmel. »Ich weiß nicht, ob die Tänzerin dich zur Schülerin erwählt, ich weiß nicht, ob die Eltern es erlauben werden, daß du Tänzerin wirst, ich weiß nicht einmal, ob du mit nach Neetha reiten darfst, aber ich weiß, daß ich mich über die Maßen freuen würde, wenn wir gemeinsam in Neetha leben und lernen könnten und ich immer wüßte, daß du in meiner Nähe bist.« Sie hielt ein wenig verlegen inne und senkte die Lider, dann schüttelte sie die Locken und funkelte die Freundin schelmisch an. »Und dann müßte ich dir keine Briefe schreiben – du weißt, wie ungern und unschön ich schreibe –, aber wenn du allein hier zurückbliebest, würdest du gewiß zweimal im Mond einen Brief von mir erwarten, und dieser meiner größten Sorge wäre ich dann ledig.«
Thalionmel wendete ihr Pferd und sprengte, ohne weiter auf die Schwester zu achten, zu dem Feldweg zurück, den sie für das Wettrennen verlassen hatte. Sie spürte, daß ihr während des Gespräches mit Zulhamin das Blut in die Wangen gestiegen war, und nun fühlte sie mit Erleichterung den frischen Wind auf dem Gesicht.
»Warte doch!« hörte sie hinter sich die Freundin rufen, aber sie mochte der Bitte nicht folgen. Früher oder später würde Zulhamin sie ohnehin einholen, das wußte sie, und dann wären ihre Wangen vom scharfen Galopp gerötet und nicht vom Bekenntnis geheimer Gedanken und Gefühle.
Fast zur gleichen Zeit erreichten die Mädchen den Feldweg, der zur Straße nach Shilish führte. Im Lauf des Tages war es immer heißer geworden, und die Luft flirrte über dem hellen Staub von Weg und Straße. Eine dichte Hecke aus wilden Rosen und Brombeergesträuch versperrte den Kindern die Sicht nach Süden, aber als sie in die Straße einbogen, sahen sie in etwa hundert Schritt Entfernung eine winzige Gestalt in südliche Richtung wandern, nahe beim Wäldchen, hinter dem der Weg nach Morlak abzweigte – einem Dörfchen knapp außerhalb des freiherrlichen Besitzes.
»Wollen wir schauen, wer die besseren Augen hat und als erster erkennt, wer dort wandert?« schlug Zulhamin vor.
Thalionmel nickte. »Es ist ein Junge«, sagte sie nach einer Weile.
»Woran erkennst du das?« wollte die Jüngere wissen, aber Thalionmel hob nur fragend Schultern und Hände nach Art ihrer Mutter. »Es stimmt, es ist ein Junge«, bestätigte Zulhamin, als sie sich dem Wanderer weiter genähert hatten, »nicht älter als zehn.«
»Und nicht aus Brelak«, fügte die Ältere hinzu.
Nun waren die Mädchen auf knapp siebzig Schritt heran. Plötzlich hüpfte Zulhamin aufgeregt im Sattel auf und ab. »Ich weiß, wer es ist!« rief sie. »Es ist Pagol – ich habe schon wieder gewonnen!«
»Pagol? Der Sattlerssohn aus Morlak?« fragte die Freundin. »Dann hat er gewiß mein Gehänge gebracht – komm, laß uns zu ihm reiten, Falkenauge, er soll mir erzählen, wie es aussieht.«
Die Mädchen trieben ihre Pferde an, doch bevor sie den Abstand zu Pagols schmächtiger Gestalt um weitere zwanzig Schritt verringert hatten, stürmten aus dem Wäldchen links des Weges zwei Burschen hervor und warfen sich sogleich auf den nichtsahnenden Buben. Die Angreifer mochten zwölf oder vierzehn Götterläufe zählen, abgerissene Gesellen alle beide, und stammten nicht aus der Gegend von Brelak – weder Thalionmel noch Zulhamin hatte sie je gesehen.
»Bei Rondra, zwei gegen einen!« entfuhr es Thalionmel, und schon hieb sie ihrem Pferdchen die Fersen in die Flanken.
Die jungen Räuber hatten es offenbar auf Pagols geringe Habseligkeiten abgesehen, denn während der größere von beiden dem am Boden liegenden Jungen den Arm auf den Rücken drehte und seinen Kopf in den Straßenstaub zwang, hockte sich der andere auf Pagols strampelnde Beine und löste mit kundigen Fingern den Gürtel – ein Dolch klemmte ihm zwischen den Zähnen. Verzweifelt versuchte der Sattlerssohn sich den harten Griffen seiner Widersacher zu entwinden, aber je mehr er sich wehrte, um so heftiger wurde er am Schopf gerissen, und um so härter wurde ihm der Arm verdreht. Pagol stöhnte und weinte, aber außer seinen Peinigern und den Mädchen gab es niemanden, der ihn hätte hören können.
Beim Klang des Hufschlages wandten die Strauchdiebe die Köpfe und sahen die Mädchen heransprengen. Der größere von beiden ließ den Kopf des Buben fahren und griff neben sich in den Straßenstaub, der andere hatte plötzlich den Dolch in der Hand; langsam erhob er sich, Pagols Gürtel in der Linken.
»Heda, Gesindel, packt euch!« rief Thalionmel. »Und laß den Gürtel fallen, Bube!« Doch bevor das letzte Wort verklungen war, traf ein Stein ihre Schläfe. Sofort platzte die zarte weiße Haut, und ein rotes Rinnsal floß über Jochbein, Wange, Kinn und Hals, wo es im Ausschnitt des Hemdes verschwand. Bei dem plötzlichen Schmerz war das Mädchen zusammengezuckt und hatte scharf die Luft eingesogen, ihren Ritt jedoch unterbrach sie nicht. Nun war sie auf wenige Schritt heran, brachte ihr Pferd zum Stehen und schwang sich aus dem Sattel. Zulhamin war dicht hinter ihr und sprang behende vom Pferd, bevor die Schwester sie zurückhalten konnte.
»Paß auf, Zulhamin!« rief Thalionmel, als sie sah, daß der größere Bursche wieder nach einem Stein tastete.
Pagol hob beim Klang der bekannten Stimme und des vertrauten Namens ein wenig den Kopf. »Zu Hilfe, Baroneß, helft mir!« wimmerte er. Ein Tritt vors Schienbein ließ ihn aufheulen.
»Soso, ein Adelspüppchen«, knurrte der Bursche mit dem Dolch und näherte sich, Pagols Gürtel fest umklammert, in geduckter Haltung Thalionmel. »Mal schauen, was es bei der zu holen gibt.« Er hielt die Rechte mit der Waffe halb ausgestreckt, bereit, jeden Augenblick zuzustoßen.
Auch sein Kumpan hatte sich erhoben, nun stand er da und wog den Stein unschlüssig in der Hand. »Laß uns abhauen, Rupert, das wird mir zu heiß«, zischte er. Dann warf er, schon halb im Fortlaufen begriffen, den schweren Kiesel nach Zulhamin, die mitten auf der Straße stand und in ihrer Not nicht wußte, was sie tun sollte. Der Stein verfehlte das Mädchen knapp, dennoch schrie sie auf, als das Geschoß ihr dicht am Ohr vorbeizischte.
»Hund, elender!« rief Thalionmel und wollte dem Burschen nacheilen, aber der Bewaffnete verstellte ihr den Weg. Er fuchtelte mit dem Dolch und grinste häßlich; dabei sah man, daß ihm im Oberkiefer zwei Schneidezähne fehlten. Thalionmel rührte sich nicht – breitbeinig, den Oberkörper leicht vorgebeugt und mit geballten Fäusten erwartete sie die Attacke ihres Widersachers; alle Farbe war ihr aus dem Gesicht gewichen. Wie sie so dastand, die Locken zerzaust, die Lippen fest aufeinandergepreßt, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt und die Muskeln bebend unter der Anspannung, glich sie einer Wildkatze, die sich zum Sprung bereitmacht.
»Nein, Thalionmel, tu es nicht! Er hat ein Messer!« bat Zulhamin, aber die Schwester schien sie nicht zu hören. Langsam, ganz langsam näherte sie sich dem jungen Burschen, und nun fingen die beiden an, sich mit vorsichtig zögernden Schritten zu umrunden. Keiner ließ den anderen für den Bruchteil eines Wimpernschlages aus den Augen, um nicht die geringste seiner Bewegungen zu verpassen. Der Rupert Genannte hatte immer noch die Lippen geöffnet, aber sein Grinsen war zu einer Maske der Anspannung erstarrt; ein feiner Speichelfaden rann ihm vom Winkel des Mundes. Thalionmels Lippen hingegen sahen aus wie eine dünne, leicht abwärtsgebogene Linie; die zarten Nüstern ihrer gerade geschnittenen Nase blähten sich unter den heftigen Atemzügen.
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