Kitabı oku: «Wo Anders», sayfa 2
Ich spürte die Feuchtigkeit des unter dem Planenboden befindlichen Grases, das nun langsam zu verrotten begann und den typischen Zeltgeruch freisetzte. Zusammen mit Esther war ich zwischen den Betten unsichtbar geworden. Kinder, Bewohner dieser seltsamen, grauweißen Zeltwelt gingen ein und aus, fröhlich schwatzend, hochgradig beschäftigt oder ziellos schlendernd, aber wir, zwischen den Bettenburgen im Schutz der Deckenmauern blieben unentdeckt, unbeachtet. Esther breitete ihre Schätze vor mir aus, brachte sie mir dar. Das Wenige, das sie hatte, war sie bereit, mit mir zu teilen.
Da war ein kleines Taschenmesser, dessen Holzgriffe schon den Glanz und die blaue Lackierung verloren hatten. Es war das Taschenmesser ihres Bruders, der es ihr für die Dauer des Zeltlageraufenthaltes geliehen hatte.
Ich hatte keinen Bruder, nur einen quälenden Neffen, zwei Jahre jünger als ich und quasi Dauergast in unserem Haus. Auch jetzt war er wahrscheinlich bei uns und ließ sich von meiner Mutter bedienen. Stöberte durch mein Zimmer und suchte nach Dingen, die er „gut gebrauchen“ könne. Es war doch alles ersetzbar und wenn er etwas fand, bekam er es und ich etwas Neues.
Tristan war der Sohn meiner Halbschwester Carla, aus erster Ehe meines Vaters.
Sie und meine Mutter waren zusammen in die Hauswirtschaftsschule gegangen, waren beste Freundinnen gewesen, hatten alles miteinander geteilt. Auch meinen Vater, nur auf völlig andere Art. Carla hasste mich!
Das Zweite, was Esther auspackte, war eine halbe Tafel Schokolade, die hatte ihr ihre Schwester aus ihrem Süßigkeitendepot abgerungen. Gerne wäre auch sie mit in das Feriendomizil ihrer kleinen Esther gegangen, aber das konnte sich die Familie nicht leisten. Warum gerade sie hier oben auf dem Königstuhl Ferien machen durfte, vergaß ich zu fragen.
Ein Stück von Esthers Schokolade zerschmolz in meinem Mund, legte sich um meine Sinne, verdunkelte meine Wahrnehmung. Ich floss wie das cremige Süß auseinander. Löste mich auf in Traum und Phantasie. Dann war er weg, der herrliche Geschmack nach anders sein, wo anders sein.
Wieder gab mir Esther ein Stück ihrer zarten Versuchung und wieder zog es mich in eine andere Realität. Blieben Schwestern und Brüder zurück und auch Mütter und Väter verloren an Gewicht und Bedeutung. Noch bevor ein Stück Köstlichkeit richtig geschmolzen war, schob mir meine Verführerin schon das Nächste hin und ich nahm es willig. Nun reicht eine halbe Tafel Schokolade nicht für die Ewigkeit und ich wurde schneller als ich wollte wieder in die Zeltlagerwirklichkeit entlassen.
Ich hatte die gesamte Schwesternliebe in mich hinein gestopft, verschlungen und der wahren kleinen Schwester weggenommen. Diese Liebe war nicht für mich gedacht und doch lächelte mich Esther zufrieden und glücklich an. Wie konnte sie nur? Warum war sie nicht sauer auf mich?
Sie hatte keine Süßigkeit mehr und auch kein Geld, sich neue zu kaufen, und trotzdem war sie noch hier bei mir zwischen den Betten und sah so glücklich aus, als hätte sie selbst jede Menge allerfeinste Schokolade im Bauch. Dann griff sie nach dem kleinen buntbestickten Leinentaschentuch, das sie mir vor wenigen Minuten, oder waren es bereits Stunden(?), zugeschoben hatte, um meine Gefühle zu verstecken. Von ihrer Oma, sagte sie stolz, handbestickt und extra für sie. Meine Großmütter lebten nicht mehr, tot. Das war alles, was ich wusste und wissen musste, befand meine Mutter.
Und sowieso, bei uns gab es Papiertaschentücher, hygienisch zum wegwerfen und keine Omas, die sie verzierten. Nur mein Vater besaß Stofftaschentücher. Einstecktücher aus feinster Seide, passend zur Krawatte und nicht zum Trösten oder Besticken gedacht und schon gar nicht zum Gebrauch in Kinderhände.
Nachdem sie mir ihre Schätze dargebracht hatte schaute sie mir direkt in die Augen. Die unbeschwerte Fröhlichkeit in ihren Augen war einem ernsten mustern gewichen. Erst zögernd, der Wichtigkeit diese Augenblickes Geltung verschaffend, dann bestimmt zog sie aus einem einfachen Leinenbeutel drei unscheinbare, graue Kieselsteine. Nein, an und für sich waren sie nichts Auffälliges, nichts was man nicht an jedem Bachlauf finden könnte, doch diese Steine hatten eine besondere Geschichte.
Drei Kieselsteine
„Als mein Vater auf Geschäftsreise war“, begann Esther ihre Geschichte, „es war ein heißer Junitag im Jahre 1966 und meine Mutter hochschwanger mit mir, hatte er eine Panne mit seinem Auto mitten auf einer Landstraße im Schwarzwald. Er hatte es gerade noch zu einer kleinen Haltebucht rechts der schmalen Straße geschafft, bevor der Motor ausgegangen war. Da stand er nun, keinen Kontakt nach Hause, nicht ahnend, dass seine kleine Tochter, nämlich ich“, sagte Esther stolz, „bald zur Welt kommen würde…
Die Sonne stand hoch und der Motor dampfte und zischte. Er war einfach zu heiß gelaufen und das Kühlerwasser übergekocht. Verzweifelt sah sich mein Vater nach allen Richtungen um, in der Hoffnung ein Haus, einen Brunnen oder irgendetwas dergleichen zu entdecken. Doch alles was er fand, war ein kleiner Pfad rechts der Straße, der direkt in den Wald führte. Noch zögerte er, ließ seinen Blick wiederholt die Straße hinauf und hinunter wandern, doch diese lag heiß flimmernd vor ihm, keine Bewegung, kein Leben, kein Auto, das kam, um ihn mitzunehmen. So entschied er, dem kleinen Weg in den Wald zu folgen, in der Hoffnung, eine Quelle oder einen Bachlauf zu finden. Als er eine kurze Strecke des Weges hinter sich gebracht hatte, wurde dieser immer ungemütlicher. Die dunklen, blaugrünen Tannen ließen kaum Licht durch und der Weg wurde immer mehr zum Trampelpfad. Dichter schlossen sich die Bäume um ihn. Es schien, als wolle der Wald ihn abwehren, wolle ihn nicht weiter lassen, verschloss sich vor ihm. Aber auch ein Zurück war nicht möglich. Der Weg hinter ihm löste sich im Dunkel auf war, sobald er den nächsten Schritt nach vorne wagte, hinter ihm einfach verschwunden. So ging er weiter. Bis er sich schließlich vor den Ästen, die ihm wütend ins Gesicht schlugen, mit Händen und Armen schützte. Bald kämpfte er sich einer Urwaldexpedition gleich durch das Unterholz. Immer wieder sah er seine Frau vor sich, das ungeborene Leben unter ihrem Herzen deutlich sichtbar, sein Kind. Das machte ihn stark. Ließ ihn unermüdlich weitergehen. Irgendwo würde er schon rauskommen.
Und tatsächlich, nach schier unendlichem Kampf, wurde der Urwald wieder zu einem Trampelpfad und der Trampelpfad wieder zu einem kleinen Weg. Die Tannen mischten sich mit uralten Laubbäumen. Sonnenstrahlen tanzten durch das lichte Grün der Bäume, malten ein wildromantisches Bild aus Schatten und Licht auf den Waldboden und in seine Seele. Der Gedanke an seine Familie hielt ihn in Bewegung, bis er unerwartet stoppte. Direkt vor ihm gabelte sich der Weg. Rechts von ihm führte er hinaus aus dem Tann. Versprach menschliche Siedlungen, einen Bauernhof oder ein verschwiegenes schwarzwälder Dörfchen mitten im Nichts. Aber auch unerträgliche Hitze. Ein staubiger Weg durch gnadenlose Sommersonne.
Der Weg links von ihm versprach angenehme Temperaturen und vielleicht doch die Quelle oder den Bachlauf, den er zu finden hoffte. Doch auch hier könnte es zu einem Irrweg werden, wie er ihn bereits hinter sich hatte. Verzweifelt stand er da. Wusste nicht, welchen Weg er nun gehen sollte. Tausend Argumente für und wider. Immer wieder abwägen. Wahrscheinlichkeiten erwägen. Keine Gewissheit finden. Hin und her gerissen gab er schließlich auf. Er fand keine Entscheidung. Erschöpft kniete er nieder, schloss die Augen, faltete die Hände und betete. Regungslos hockte er so da. Wortlos flehte er zu Gott. Da erschien vor seinem inneren Auge seine Frau. Sie lag unter Tränen auf einem Bett. Steril und kalt war alles um sie herum. Immer wieder bäumte sie sich unter Schmerzen, die sie in regelmäßigem Intervall zu zerreißen drohten, auf. Ihr Gesicht jedoch strahlte einen tiefen Frieden aus. Sie war völlig einverstanden mit dem, was da gerade mit ihr geschah. Und dann sah sie ihn an. Erfüllt von Liebe und so zärtlich, wie er sie noch nie gesehen hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben war er bei der Geburt eines seiner Kinder direkt dabei, und sie wusste es. Sah ihn an, bis sie von der nächste Wehe überrollt wurde. Schreiend bäumte sie sich ein letztes Mal auf. Sie kämpfte, schrie. Dann war alles ruhig. Es wurde dunkel um ihn. Er verlor sie. Eine Träne verlor sich durch seine geschlossenen Augen, rann über sein heißes Gesicht. Zog eine Spur der Verzweiflung. Da brach es aus ihm heraus. Laut, mit all seiner Kraft schrie er, hier mitten im Wald, an einer alles entscheidenden Kreuzung, zu seinem Schöpfer. Als er innerlich wieder zur Ruhe kam, sein Schreien verebbte, sich im Wald verlor, wurde es wieder still. Das Schweigen war erdrückend. Selbst die Vögel hatten ihren Gesang unterbrochen, als würden sie gespannt auf seine Entscheidung warten. Doch noch immer wusste er nicht, welchen Weg er gehen musste. Er wusste es einfach nicht. Da traf ihn, durch die geschlossenen Lider ein seltsamer Glanz. Tanzte durch seine Gedanken, nahm ihn gefangen und ließ ihn neugierig die Augen öffnen. Geblendet hielt er sich zum Schutz die Hände vor. Langsam, ganz langsam gewöhnte er sich an das Licht. Immer noch trieb der tanzende Lichtreflex sein Spiel mit seinen Sinnen. Instinktiv wandte er sich in die Richtung, aus der das Licht kam.
Ein leichter Windhauch liebkoste sein erhitztes Gemüt. Der Himmel war nicht mehr so himmelblau und strahlend hell. Es zogen Schatten spendende, bauschige Wolkengebilde ihre Bahn über das Sommerhimmelblau. Plusterten sich auf, zerfielen, um dann wieder aus dem Nichts zu entstehen. Er suchte nach der Quelle des Lichts und fand schließlich drei Kieselsteine, die immer, wenn eine Wolke den Weg zum Himmel frei gab, in der Sonne funkelten und mit den Lichtstrahlen spielten wie der Wind mit den Wolken. Sie lagen am Rand des Weges, der aufs offene Land führte, sich durch goldgelbe Weizenfelder wand, um sich dann auf buntgetupften Wiesen zu verlieren.
War das die Antwort auf sein Gebet? Lag hier der Grundstein seines Vertrauens, seines Glaubens?
Ein wirklich gläubiger Mensch war er nicht! Ja schon, er hatte oft von Gott gehört und gelesen. War in einer streng katholischen Familie erzogen worden. Doch so wirklich, richtig konnte er nie glauben. Immer war Gott sein Richter gewesen. Er war nach dem Tod seines Vaters bei seinem Onkel aufgewachsen. Der, der schmerzhafte Prügelstrafen ausgeführt hatte, im Namen Gottes und all der Heiligen; Jeder Hieb ein Heiliger. Und die katholische Kirche hat viele davon. Wurde nicht sogar im Namen Gottes getötet? Seine Frau?! Ja, die glaubte.
Anders, so frei und einfach wie ein Kind, das die Hand des Vaters sucht, wenn es droht, verloren zu gehen. Voller Vertrauen auf eine bessere Welt, erfüllt von Wärme und Güte. Immer wieder betete sie. Hatte eine Verbindung zu ihrem Vater, wie sie Gott auch zärtlich nannte, die ihn manchmal richtig eifersüchtig machte. Geh mir weg mit diesem Gott, hatte er ihr oft an den Kopf geworfen, wenn sie wieder mit ihren Bekehrungsversuchen kam. Sollte er ihr Unrecht getan haben?
Wie auch immer. Da lagen nun diese drei Kieselsteine, direkt nach seinem Notruf, und forderten ihn auf, den rechten Weg zu gehen. Wie im Traum folgte er seinem Lauf, der sich langsam zu einem breiten Feldweg öffnete, um am Ende zu einem großen Gehöft zu führen.
Der Hof lag einsam, umrahmt von saftigen, grünen Wiesen und alten Obstbäumen, unter denen Kühe zufrieden grasten. Die Eine oder Andere hatte sich satt am Fuße der knorrigen Obstbäume niedergelassen, um dem Ende des Tages entgegenzudösen.
Die Sonne stand inzwischen tief am Himmel und tauchte die Welt in ein tiefrotes, glühendes Licht. Die Hitze des Tages wich dem kühlen Lufthauch, der die kommende Nacht ankündigte. Die Natur atmete auf, sog die klare Luft tief auf, um sie in Vogelgezwitscher und Blätterrauschen aus dem nahen Wald wiederzugeben. Auch seine Gedanken wurden mit jedem Schritt, den er auf das tief gegen das Sonnenlicht der untergehenden Sonne gebeugte Haus zuging, immer klarer.
Die Hitze seiner innerlichen Kämpfe wich der Kühle seiner Handlung. Waren seine Schritte am Anfang noch zögerlich und unsicher auf dem schmalen Schotterweg, so wurden sie nun zunehmend zielgerichteter und auch seine Gedanken hatten nur noch ein Ziel: Nach Hause!
Als er schließlich den unregelmäßig gepflasterten Innenbereich des Hofes betrat, sah man ihm seinen Kampf durch dichtes Unterholz und ihm ins Gesicht schlagende Hoffnungslosigkeit nicht mehr an. Nicht einen Kratzer hatte er davon getragen, nicht einen blauen Fleck.
In der Mitte der u-förmig angereihten Gebäude stand eine riesige alte Kastanie, unter der ein Brunnen munter gurgelnd unermüdlich Wasser in eine längliche, aus Sandstein gehauene Tränke ergoss. Einladend funkelte das Wasser in der Abendsonne. Erst jetzt spürte er das trockene Brennen in seiner Kehle und das Schwindelgefühl in seinem Kopf.
Wasser, endlich. Keine Quelle, kein Bach, eine Viehtränke unter einem sich weit ausladenden, weiß blühenden Kastanienbaum. Tief tauchte er seine Hände in das klare kalte Wasser, führte es zum Mund und ließ es seine Kehle hinunterlaufen. Kühle Frische durchflutete ihn, nahm die Mühsal und die flirrenden Bilder aus seinem Kopf, die Trägheit aus seinen Gliedern. Noch einmal ergoss sich ein Strom der Befreiung durch seinen erhitzten Körper, bevor er sich dem Brunnen abwandte, um sich vorsichtig umzusehen.
Direkt vor dem herrschaftlichen Wohnhaus mit seinem mächtigen, strohgedeckten Dach saß ein altes Mütterlein und beobachtete ihn still. Ihre dunklen Augen glänzten im Abendrot, während ihre flinken, faltigen Hände ein sich windendes Schilfrohr geschickt um ein dagegenstehendes Gerüst flocht. Der Boden und die darauf entstehenden Wände eines Korbes waren schon jetzt gut erkennbar und gewannen unter der schnellen und sicheren Hand der alten Frau immer mehr an Gestalt. Doch bei all der Arbeit ließ sie ihn nicht aus den Augen, sah ihn freundlich an.
Er hatte sie beim Eintreten in den schattigen Innenhof nicht bemerkt. Hatte nur dem mächtigen Baum und dem darunter auffordernd plätschernden Wasser seine Aufmerksamkeit geschenkt und hätte schwören können, dass da niemand gewesen ist. Keine alte Frau, keine Körbe, die rings um sie wild durcheinander lagen und Zeugen eines langen Tages waren.
Eigentlich verfügte er über eine gute Beobachtungsgabe, entging ihm sonst keine Regung um ihn herum und schon gar keine Körbe flechtende Frau, die ihn noch dazu so gerade heraus beobachtete! Erklären konnte er sich das nicht, aber was war an diesem Tag schon normal und verstandesgemäß?
Die Dinge nicht zu ernst zu nehmen entschloss er sich, der freundlichen Aufforderung der Alten zu folgen und sich zu ihr zu gesellen. Nein, gesprochen hatte sie noch kein Wort, aber es schien, als hätte sie direkten Zugang zu seinen Gedanken. Ihre Blicke sprangen durch seine Gedanken, formten sich zu verständlichen Worten. Er wusste, nein hörte geradezu, wie sie zu ihm sprach. Plötzlich tauchte vor ihm wie aus einem grauen Nebel wieder seine Frau auf. Diesmal lag sie in einem strahlend weißen Bett. Sie war umgeben von gleißender Helligkeit, gerade so als schwebe sie, von Licht getragen. Die Lehne ihres Lagers war leicht aufgerichtet und wieder sah sie ihn direkt an. Ihre blonden Haare umrahmten dünn und strähnig ihr von Anstrengung gezeichnetes, blasses Gesicht.
Ein Strom aus Liebe und Wärme ergriff ihn und zog ihn noch näher an ihr Bett heran. Völlig unerwartet regte sich etwas unter ihrer Decke. Ein leichtes Wimmern war zu hören und vorsichtig schob er das dicke, weiße Daunenbett beiseite. Und da lag es. Klein und zerknautscht, eingehüllt in feines Linnen, lag da ein neugeborenes Kind in den Armen seiner geliebten Frau. Ein Gefühl der übervollen Freude brach in ihm auf. Er breitete seine Arme aus, um seine Frau zu umarmen, an sich zu drücken, ihr und dem Kind nahe zu sein, doch da verschwand das Bild und er sah in ein von Jahren gezeichnetes und zerfurchtes, freundliches Gesicht.
Immer noch sah ihn die Korbflechterin unverwandt an. Doch seine Gedanken waren nicht weiter in den ihren gefangen. Alles, was er nun sah und hörte, war Ursprung seiner ureigensten Empfindungen.
„Es ist ein Mädchen“ drang die Stimme der Bäuerin an sein Ohr „und Mutter und Kind sind wohl auf!“.
Erschrocken und doch nicht wirklich überrascht sah er sie an. Diese nickte nur sanft lächelnd, erhob sich von der in die Jahre gekommenen, aschfahlen Holzbank und verschwand im Haus, noch bevor er irgendetwas sagen konnte. Kurze Zeit darauf erschien ein stämmiger Mann in grober Leinenhose und zerschlissenem Flanellhemd, in der Eingangstür. Der Bauer, wie sich herausstellte. Was er wolle und wer er sei, fragte der Hofbesitzer den unerwarteten Gast.
Kurz und die vielen seltsamen Begegnungen und Ereignisse auslassend, schilderte der Gestrandete seine Not und bat um die Hilfe, derentwegen er vor einem ganzen Leben, so schien es, aufgebrochen war.
Schnell war ein Kanister mit Wasser gefüllt und ein tuckernder, grasgrüner Traktor schnaubend und polternd auf der Landstraße Richtung defektem Auto unterwegs. Die Schatten der Tannen hatten nun auch das letzte bisschen purpurrote Sonne auf den Wegen vertrieben, doch die hellen Scheinwerfer des landwirtschaftlichen Fahrzeuges beleuchteten sicher die Straße und fanden ohne Probleme den liegen gebliebenen PKW.
Wäre er doch einfach der Straße gefolgt! Wie einfach wäre das gewesen. Was um Himmels Willen hatte ihn dazu gebracht, diesen kleinen Weg, der nun gänzlich im Dunkel lag, zu nehmen? Doch nun galt es, den Wagen wieder flott zu machen. Mit einem Trichter, den der vorsorgliche Landwirt mitgenommen hatte, wurde das frische Wasser in den Kühler des Wagens gegossen und so wie ihn dieses herrliche Nass wieder belebt hatte, vermochte es auch dem Motor wieder neue Kraft und Bewegung zu verleihen.
Ohne Probleme sprang der Wagen an. Vielleicht auch, weil er so lange gestanden hatte und abgekühlt war oder auch weil es nun einfach Zeit war, weiter zu fahren, wer wusste das schon so genau! Mit einem freundlichen Gruß verabschiedete sich der Bauer, schwang sich auf sein grünes Gefährt und tuckerte davon. Noch lange hörte man den rumpelnden Motor und sah ab und zu den Lichtkegel seiner Scheinwerfer zwischen dem dichten Tann aufblitzen, bis er dann endgültig in der Dunkelheit verschwand.
Nachdenklich blieb er zurück. Stand neben seinem, wie ein Kätzchen schnurrenden Wagen und starrte abwechselnd in die Richtung, in die der Traktor verschwunden war und die, in der der kleine Weg, den er heute Mittag erst genommen hatte, nur noch zu erahnen war.
Hatte er all das nur geträumt?
Gedankenverloren ließ er seine Hand in seine Hosentasche gleiten und hielt abrupt in der Bewegung inne. Hatte er sie mitgenommen? Vorsichtig, als könnten sie jederzeit zu Staub zerfallen, denn was war schon an diesem Tag unmöglich, zog er einen nach dem anderen aus seiner Hosentasche. Vor ihm lagen die drei Kieselsteine. Die drei Kieselsteine, die ihn geblendet hatten und ihm schließlich Wegweiser gewesen waren in seiner größten Not.
Spät in dieser Nacht kam er endlich nach Hause und zum ersten Mal in seinem Leben schlug er die Bibel als Suchender auf. Das Buch Esther stand da in großen Lettern.
Und so kam ich zu meinem Namen“, schloss Esther ihre Geschichte. „Jahre nach meiner Geburt“, fügte sie noch geheimnisvoll hinzu, „fuhr mein Vater erneut beruflich in den Schwarzwald und kam an die Stelle, an der er damals seine Panne hatte. Er hielt an derselben kleinen Haltebucht und fand auch nach einigem Suchen den inzwischen völlig überwucherten Pfad in den Wald. Dann folgte er der Straße weiter und war sich sicher, genau den Weg zu fahren, den damals der Traktor genommen hatte. Er kam auch bald aus dem Wald heraus und vor ihm öffnete sich eine sanft hügelige, in Wiesen und Felder eingebettete Landschaft.
Doch einen Hof fand er nicht. Da aber ein Gehöft von so beachtlicher Größe wie dieser damals nicht einfach verschwinden konnte, gab mein Vater nicht auf und wurde letztendlich fündig.
Schon von weitem sah man den uralten Kastanienbaum. Schnell lenkte er sein Fahrzeug von der geteerten Straße auf eine Schotterpiste, die genau auf den Hof zuhielt. Doch je näher er den Gebäuden kam, je unwegsamer wurde der Weg und schließlich war er nicht mehr zu befahren. Mein Vater stieg aus und ging das letzte Stück zu Fuß, was er dann aber sah, wagte er nicht zu glauben. Außer dem alten Baum war das ehemals stattliche Gehöft nur noch zu erahnen. Die Gebäude waren teilweise bis auf die Grundmauern abgetragen oder zerfallen. Das Dach des Haupthauses streckte sich in nacktem Gerippe gen Himmel und die Stallungen bzw. was davon übrig war, war von Brombeeren überwuchert.
Als er später zurück auf der Landstraße an einem kleinen Souvenirgeschäft anhielt und den Mann hinter der Ladentheke nach eben diesem Hof fragte, wurde dieser sehr nachdenklich, zog sein ohnehin schon faltiges Gesicht in Runzeln und sah meinen Vater gedankenverloren an. Der Hof sei im Krieg völlig abgebrannt und die gesamte Familie, bei dem Versuch noch etwas zu retten, in den Flammen umgekommen. „Seitdem spukt es dort“, sagte der Ladenbetreiber ehrfürchtig.
So manch ein verirrter Wanderer habe dort Menschen angetroffen und seltsame Dinge erlebt aber nie ist ihnen irgendetwas zugestoßen, immer wurden sie dort freundlich aufgenommen und wieder auf den Weg gebracht.
Mein Vater schwieg. Zurück im Auto umfasste er die drei Kieselsteine, die er seit jenem Tag immer bei sich trug, nur um sicherzugehen, dass sie wirklich existierten, und wendete den Wagen. Noch einmal sah er den riesigen, alten Baum, der sich gegen den in Abendrot getauchten Himmel dunkel abhob, und erkannte nun deutlich das verkohlte Gebälk des ehemals herrschaftlichen Hauses mit seinem mächtigen strohgedeckten Dach. Und da war es ihm, als sehe er einen Lichtkegel zwischen den alten Obstbäumen auf und ab tanzen, so als wenn ein Traktor sich seinen Weg über holprige Feldwege bahnen würde. Er hielt den Wagen an, suchte nach dem Gefährt, das auf den Hof zugehalten hatte, doch da war nichts mehr. Alles lag still und verlassen vor ihm in der untergehenden Sonne. Nur die drei Kieselsteine in seiner Hand waren Zeugen seiner merkwürdigen Begegnung und Beweis dafür, dass er nicht geträumt hatte.“
Mit offenem Mund und gespitzten Ohren hatte ich Esthers Erzählung gelauscht. Jedes Wort hatte ich tief in mir aufgenommen und alles beinahe selbst erlebt. Und nun hielt sie mir die Steine hin. So unbedeutend sie auch aussehen mochten, waren sie doch etwas ganz Besonderes. Sie waren greifbar gewordene Vaterliebe, denn Esthers Vater hatte sie ihr für die Dauer des Zeltlagers anvertraut, zum Schutz – aus Liebe. „ Damit ich auf dem richtigen Weg bleibe!“ hallten ihre Worte in mir nach. So also sah Liebe aus. Vaterliebe.
Vertrauensvoll und mit wichtiger Miene ließ meine kleine Freundin die drei grauglitzernden Steine aus ihrer Hand in die Meine gleiten. Kühl fühlten sie sich an und doch brannten sie auf meiner Hand. Kaum traute ich mich, mich zu bewegen oder gar meine Finger um das kostbare Gut zu schließen, und noch ehe ich es mich versah, griff Esther wieder nach ihrem Schatz und verstaute ihn sicher in dem unscheinbaren Beutel.
Plötzlich kam Bewegung ins Zelt. Wellen des Aufbruchs schlugen bis zu uns in unsere Bettenburg und in der Ferne war ein eindringliches Läuten, eine Art Scheppern, so etwas wie eine verrostete, kleine Glocke zu hören.
Aus andächtiger Starre gelöst sammelte Esther hastig all ihre Kostbarkeiten zusammen und verstaute sie wieder in ihrem Rucksack. Auch ihre Steine wurde sorgfältig wieder zurückgeschoben.
Wie willenlose Schafe folgten wir dem Strom der Kinder aus den Zelten und allen Winkeln und Ecken des großzügig angelegten Feriengeländes zu dem einstöckigen, lang gestreckten Haupthaus, vor dem wir uns am morgen schon einmal alle versammelt hatten. Kühle und gedämpftes Licht umgaben mich, als ich aus dem warmen, gleißenden Sonnenlicht direkt in den mit kaltem Stein gefliesten Hauptraum trat. Überall klapperten Teller, plauderten Kinder und hallten unzählige Schritte wider. Der Geruch von Nudeln, Brühe und Pfefferminztee erfasste mich, hüllte mich ein, zog mich in den dunklen Raum. Sehen konnte ich für einen Moment nichts. Stand einfach nur da und ließ mich in diese Welt aus hallendem Getose und deftigem Geruch ziehen. Langsam, ganz langsam gewöhnten sich meine Augen an das dämmrige Licht des fensterlosen Raumes, dessen einzige Lichtquelle aus den weit geöffneten Flügeltüren bestand, die direkt wieder auf den gepflasterten Vorhof und die Wiese mit den Zelten führten. Am Pfosten einer jeden Tür stand ein großer silberfarbener Milchkübel, an dessen Außenseite eine verbeulte Kelle hing. Der Kübel selbst war bis zum Rand mit Tee, mal war es Pfefferminztee mal Früchtetee, gefüllt. Kinder standen in Reih und Glied vor den Kübeln und schöpften unermüdlich kühle Flüssigkeit in ihre Becher. Andere standen an der am Ende des Raumes befindlichen Kantine an, in der eine rundliche Frau, mit von Hitze errötetem und glänzendem Gesicht eifrig die ihr hingehaltenen Teller füllte.
Für mich gab es nichts. Keinen Becher - keinen Tee, keinen Teller - keine Nudelsuppe, keinen Rucksack - keine weiße Plüschdecke, keine Kieselsteine - keine Vaterliebe. Selbst Esther war nicht mehr da.
Im einfallenden Sonnenlicht der geöffneten Türen tanzten tausende von kleinen Staubkörnchen. Und jedes von ihnen entsprang einem Gedanken, einem Impuls und einer sich daraus entwickelnden Bewegung. Sie kamen nie zur Ruhe. Wirbelten um mich herum, in mich hinein, durch mich hindurch. Lösten mich auf und trugen mich mit sich hinaus in das helle Sonnenlicht.
Wieder hörte ich dieses höhnische Lachen, das durch mein Ich tobte. Aufbrausend, erniedrigend, demütigend. Mich wollte hier keiner. Ich gehörte einfach nicht dazu. Die Welt war in Ordnung. Alle zufrieden mit sich und dem, was geschah, warum sollte mich da irgendjemand beachten. Ich wurde nicht gebraucht. Vielleicht war es auch besser so. Wieder brach ein tosender Kampf zwischen türkisgrüner Wut und der dunklen, bewegungslosen Resignation in mir aus. Ich schrie, ich tobte, ich brach zusammen und heulte bitterlich – unsichtbar.
Noch immer stand ich in einem der Rundbögen neben einem der Tee-Kübel und anscheinend den durstigen Mit-Zeltlager-Bewohnern im Weg. Unsanft wurde ich in Richtung Essenstische, in Richtung Tellergeklapper und Löffelgeschöpfe, in Richtung wildes Geschnatter und fröhliches Miteinander geschubst. Und ehe ich es mich versah, stand ich neben Esther, die mir einen Platz an ihrer Seite frei gehalten hatte. Erwartungsfroh sah sie mich an und ich… kämpfte nicht mehr, setzte mich.
Da schob sie mir ihren Becher, vollgefüllt mit kaltem Pfefferminztee, hin und bot mir auch ihren Teller mit köstlich duftender Nudelsuppe an. Mein Magen krampfte sich zusammen und meine Kehle fühlte sich rau und trocken an. Wie gerne hätte ich den Tee angenommen, egal ob mein Becher oder ihrer, und den salzig, würzigen Geschmack der Suppe hatte ich bereits auf der Zunge, als ich mich dabei beobachtete, wie ich den Becher zurückschob und den mir hingehaltenen Löffel abwies. Wut stieg in mir auf. Was sollte das alles hier?
Ich wollte nicht hier sein, wollte keine Freundin haben, wozu auch?
Sollte Esther sich doch eigene Freunde suchen unter ihresgleichen und mich in Ruhe lassen mit ihrer ewigen Freundlichkeit und ihren drei Kieselsteinen. Ich jedenfalls wollte nicht ihre Freundin sein. Ich hatte meinen eigenen Teller, meinen eigenen Becher und sogar eine noch viel schönere Kuscheldecke als die schöne Katharina. Nur eben nicht hier.
Und das war es überhaupt. Esther war auf meine Sachen scharf. Meine Mutter hasste es, wenn ich so sprach, aber sie war ja nicht da!
„So eine Scheiße“ fauchte ich Esther an „behalt doch dein Essen für dich, ich bin nicht scharf darauf, diesen Fraß in mich `rein zu quälen“ - stand auf und ließ eine völlig verdutzte Esther zurück.
Ich spürte, wie sich mir während meines Temperamentausbruches sämtliche Blicke zugewandt hatten. Augenblicklich waren die Gespräche an den Tischen verstummt. Sogar Katharina vergaß einen Moment lang, wie wichtig sie war und schenkte mir ihre Aufmerksamkeit und ein bisschen Bewunderung lag in ihrem Blick!
Ich triumphierte und marschierte hoch erhobenen Hauptes hinaus in das helle Sonnenlicht!
Meine Würde war wieder hergestellt. Mein Status hervorgehoben. Ich war nicht käuflich.
So schnell, wie ich das Interesse aller auf mich gelenkt hatte, so schnell ging mein Stern auch wieder unter. Jedes der vielen Augenpaare, die mich gerade noch voller Neugier beobachtet hatten, wendete sich nun wieder ihrer vorherigen Aktivität zu. Aber mein Abgang war spektakulär gewesen, das musste man mir schon lassen.
Als die Geräuschkulisse im Speisesaal wieder anschwoll und ich mir gewiss war, dass mir keinerlei Beachtung mehr geschenkt wurde, drehte ich mich vorsichtig um.
Esther saß immer noch regungslos da und starrte mich an. Voller Unverständnis und tief getroffen, aber in keinster Weise anklagend oder gar zornig. Sie saß einfach nur da und sah mich an. Ja, ich hatte meine Stellung klar gemacht und mir die Anerkennung der Meinen zurückgeholt, aber anstatt zufrieden zu sein, fühlte ich mich elend und jetzt noch einsamer als auf dem Kirchplatz heute morgen. Jede Faser meines Seins zog mich zurück in den kühlen Raum, in dem Esther saß und mich noch immer erwartungsvoll ansah. Doch es gab kein Zurück. Wie würde das denn aussehen, wenn ich jetzt zurückging und sie um Verzeihung bitten würde? - Nein, so etwas war einer Maike von Hochfelden, Tochter eines in der Gesellschaft hoch angesehenen Rechtsanwaltes, nicht würdig! Und nötig hatte ich es sowieso nicht. Schließlich hatte sie mir ja ihren angelutschten Löffel hingehalten und ihren halbvollen Becher Tee, aus dem sie bereits getrunken hatte. Sie hatte das alles provoziert und selber Schuld. Und doch, mein Herz krampfte sich zusammen, wenn ich sie so sah. Es tat mir so leid, ich war so dumm gewesen und hatte die einzige Verbündete, die ich hier hatte, so derart vor den Kopf gestoßen. Aber warum war sie auch so nett zu mir gewesen? Was hatte sie damit bezweckt? Wusste sie denn nicht, dass die Welt anders funktionierte?