Kitabı oku: «Wo Anders», sayfa 4
„So eine Scheiße“, meinte sie, sah mich an und zwinkerte mir zu.
„So eine Mäusescheiße“, konterte ich und sah sie herausfordernd an. Wieder begann sie zu lachen und schloss mich fest in ihre Arme. Wärme und ein Gefühl des Gewolltseins durchströmten mich, ergriffen mich und ließen mich die Angst und Einsamkeit der vergangenen Nacht vergessen. Sie drückte alles einfach weg und ich wünschte, für immer so in ihren Armen liegen zu können. Hier war mein Platz. Genau hier und nicht in irgendeiner Abenteuer heischenden Zeltstatt mit qualifizierten Erlebnispädagogen. Ich wollte da nicht mehr hin. Zu den Kindern mit ihren Rucksäcken voller kleiner Liebkosungen und überlebenswichtigen Utensilien. Hier hatte ich alles, was ich brauchte und war auf Angriffe und Besitzansprüche von Seiten des Feindes bestens vorbereitet. Ich konnte, ja durfte meine Stellung nicht noch einmal verlassen, zu groß waren bereits die Verluste, wenn man nur einmal an das jüngst Opfer dachte: Mein Kummertier.
Doch irgendetwas war plötzlich anders, irgendwie veränderte sich die Umarmung, in der ich mich plötzlich gefangen fühlte. Enger immer enger schloss sich ihr Körper um den meinen, erdrückte mich und mit jedem ihrer Schluchzer, die einem ruckartigen Arythmus folgten, starb ein Teil meines kindlichen Verlangens, ihr nahe zu sein. Wut, unbändige Wut stieg in mir auf. Ich wurde bestohlen, betrogen und missbraucht. Jetzt war ich diejenige, die umarmte, aber ich wollte nicht umarmen, ich wollte umarmt werden. Entschlossen befreite ich mich aus ihrem Zugriff und sah ihr direkt ins Gesicht. Zusammengesunken und gar nicht mehr unbeschwert saß sie vor mir. Ihr Blick ging ins Leere, sie wirkte fremd und unerreichbar. In die Spannung hinein ertönte das mächtige Schlagwerk der alten Standuhr Brachte uns zurück, jede aus ihrer eigenen Gefühlswelt, jede aus seiner ihr ganz eigenen Erleben. Ihr Körper spannte sich, der graue Vorhang vor ihrem Blick zerriss und sie sah mir direkt in die Augen. In meine wütend funkelnde Augen.
„Oh, nein“ deutete sie mein Türkisgrün falsch, „du gehst ins Feriencamp. Ohne Widerrede!“
Schlagartig war es weg, dieses Gefühl, das einem im Bauch tanzt, einen davonträgt in einen rosaroten Tag. – gekippt, erstickt, verschlungen im Ticken der Uhr. Zeit fraß Glück! Diese unselige Maßeinheit, in der wir gnadenlos gefangen waren, lebte von Glück.
„Ich will auch gar nicht hier bleiben“, fauchte ich sie an, zog mich, sie links liegen lassend und ohne ein weiteres Wort vor an meine Bettkante, stand auf und ging ins Bad. Humpeln vergaß ich aber nicht und ein bisschen echt war es ja auch.
Wenn Rotze schwimmt
Natürlich musste ich trotz meines verletzten Knies ins Zeltlager. Auch noch so heftiges Humpeln und schmerzverzerrte Gesichtsausdrücke, die ich im Bad vor dem Spiegel geübt hatte und die mir, wie ich fand, ganz gut gelangen, konnten meine Mutter nicht davon abbringen, mich wie am Tag zuvor zu jenem verhängnisvollen Sammelplatz für störende Kinder zu bringen. Kurz darauf saß ich wieder im Bus neben Esther, fuhr wieder die durch Wald und Lichtungen gewundene Straße hinauf zur Endstation der in Würde Abgeschobenen vor dem Ehrenfriedhof des Heidelberger Königstuhls und wurde an der selben Stelle wie am morgen zuvor aus dem Transporter gespieen und mit der Kinderflut, gut bewacht und examiniert betreut, zwischen Maisfeld und Waldrand, Richtung Bierhelderhof gespült, Esther immer treu an meiner Seite.
Diesmal hatte ich nicht gekämpft, war nicht geflogen und war nicht verladen worden wie störrisches Vieh.
Diesmal war ich schön brav eingestiegen und hatte meinen Rucksack bei mir.
Diesmal hatte ich niemanden getreten und gestoßen.
Diesmal war meine Mutter sogar bis zur Abfahrt des Busses dabei geblieben.
Ich hatte sie angeschrieen, mich aus ihrer Umarmung gelöst, sie von mir gestoßen, und sie hatte seitdem kein Wort mehr mit mir gesprochen. Ja sie hatte mir Frühstück gemacht, so wie jeden morgen. Ja sie hatte mir meinen Rucksack gepackt, so wie es sein sollte, doch sie hatte geschwiegen. Ich hatte sie verletzt und sie schwieg.
Als wir uns an jenem Morgen vor dem Langhaus versammelten und unsere Blicke über das Gelände schweifen ließen, bot sich uns ein Bild der Verwüstung. Eines der Zelte hatte der Sturm, der die vergangene Nacht hier getobt haben musste, aus seiner Verankerung gerissen und es wütend gegen die alte Linde geschleudert. Ein Anderes lag an ein oder zwei Stellen festgehalten in sich zusammengesunken auf dem nassen Rasen und wieder ein Anderes lag in einzelne Fragmente zerrissen, verteilt über das gesamte Gelände. Nur unser Zelt, geschützt durch drei Tannen, zwischen denen es errichtet worden war, stand völlig unbehelligt da.
Und schon eroberten die Ersten die vor Standhaftigkeit strotzende Behausung, während andere, die nicht so viel Glück gehabt hatten, sich erst einmal zur Krisensitzung vor und in dem steinernen Haus in ihre Gruppen aufteilten.
Als eine der Letzten betrat ich unser Zelt. Mein Knie schmerzte und die dämpfige Luft der aufkommenden Sommerhitze und des schweren nassen Rasens in nahezu luftdichtem Zelt machte mich ganz benommen. Schatten huschten durch mein Bewusstsein, blendeten zeitweise die Geräusche und Geschehnisse um mich herum aus, um mir Lärm und Aktion der Mitbewohner kurze Zeit darauf gnadenlos ins Gesicht zu schleudern.
Obwohl meine Pritsche, die am Einlass unserer Unterkunft stand, noch tropfnass war, ließ ich mich schwer auf ihr nieder. Ich spürte, wie die Feuchtigkeit durch meine Hose drang und ein angenehm kühles Gefühl auf der Unterseite meines Oberschenkels verursachte. Doch das störte mich nicht. Immer mehr ging ich im Rausch der schwülen, drückenden Atmosphäre verloren.
„Ich hatte sie nicht trösten können, war so egoistisch gewesen und hatte sie nicht einmal gefragt, warum sie so traurig war. Bestimmt hatte er es wieder getan, wie schon so oft, und ich hatte mich ihr entzogen, obwohl sie mich gebraucht hatte.“ Und dann wurde es dunkel. „Maike?“ eine mir vertraute, glockenklare Stimme drang an mein Ohr,
„Maike?“ noch einmal derselbe wohlige Klang, nur intensiver. Langsam öffnete ich meine Augen und sah direkt in ein von watteweißen Wolken durchzogenes Himmelblau. Ich bin gestorben, schoss es mir durch den Kopf, ich bin einfach umgefallen, weil meine Zeit zu Ende war.
Vor geraumer Zeit hatte ich einmal einen Film gesehen, in dem ein junger Mann in die Unterwelt gestiegen war, um das Leben seiner Liebsten zu retten, die todkrank zu Hause auf ihn wartete. Auf seine Suche kam er in eine riesige Höhle, in der tausende von Kerzen brannten, und die seltsam bucklige und düstere Gestalt, die ihn begleitete, erklärte ihm, dass dies die Lebenslichter eines jeden Menschen, der auf dieser Erde wandle, seien. Dann zeigte der gruselige Alte ihm das Licht seiner Angebeteten, das bereits bis auf einen kleinen Stumpf abgebrannt war. Es war klar, sie würde sterben. Wie die Geschichte ausgegangen war, vermochte ich nicht mehr nachzuvollziehen, aber vielleicht gab es diese Höhle ja wirklich und das Gewitter heute Nacht hatte meine Kerze einfach ausgeblasen.
Aber warum war ich dann nicht gleich gestorben? Dafür konnte es nur eine Erklärung geben! Die Zeit. Schließlich lag eine ganze Menge davon zwischen der Epoche, in der die Geschichte spielte - dort gab es noch Pferde als geläufiges Transportmittel und eben Kerzen zur Beleuchtung - und dem Heute mit Kinder transportierenden Riesenautos und Elektrizität. Und diese Verzögerung, bis der erlöschende Schein meiner Kerze zu mir in mein kleines Leben vorgedrungen war, war schon erheblich. Aber was war mit dem Fortschritt in der Kerzengruft? Vielleicht war auch dort die Glühbirne längst eine Selbstverständlichkeit. Schließlich musste man gerade im Sommer immer mal wieder mit Gewittern rechnen und es konnte doch danach nicht jedes Mal einer umfallen. Ich entschloss mich nicht gestorben zu sein und richtete mich langsam auf dem mir bereiteten Lager auf.
„Sie ist wieder da“ rief unser Zeltvorstand aufgewühlt, soviel Erlebnis war dann doch nicht in ihrer Pädagogik vorgesehen. Schnell kam jemand mit einer Flasche Mineralwasser, absoluter Luxus hier oben, und einem nassen, weißen Frotteelappen zu uns gelaufen. Peinlich berührt, sah ich mich um. Direkt neben mir an meinem Kopfende saß Esther. Daneben unsere persönliche Zeltlagervertraute und Ansprechpartnerin in schweren Zeiten, in sofern man dann noch reden kann. Sie hielt mir die Flasche mit klarem, kaltem, sprudelndem Wasser hin, aus der ich einen kräftigen Schluck nahm. Das kühle Nass rann meine Kehle hinunter und trieb mir die Tränen in die Augen, so dass ich einen Moment die vielen kreischenden und neugierig herankommenden Zeltwaisen nur als einen einzigen, bunten, verschwommenen Mob sah. Das Rudelverhalten musste ein Instinkt und kein erlerntes Verhalten des Menschen sein, wenn schon Kinder in diesem Alter eine so intensive Ausprägung davon zeigen.
„Die Show ist zu Ende, ihr könnt alle wieder an eure Arbeit gehen“, meinte meine persönliche Erlebniskrankenschwester Susi in die Runde. Und tatsächlich, der Haufen bunt schwatzender Kinder floss in die unterschiedlichsten Richtungen zu den verschiedensten Aktivitäten auseinander. Langsam und bedacht stand ich von meinem Sterbebett auf und humpelte davon.
Esther, immer noch darauf gefasst, mich gleich auffangen zu müssen, folgte mir zu unserem Zelt. Mein Lager war inzwischen durch ein trockenes ersetzt worden und mein Rucksack darauf deponiert…. Mein Rucksack, ….meine Mutter! Wieder stieg das Gefühl von Hilflosigkeit in mir auf. Esther griff instinktiv nach meinen Händen und in dem Moment der Berührung beruhigten sich meine wundgescheuerten Emotionen. Das schrille Trillern einer Pfeife zerriss die Stille und lenkte alle Aufmerksamkeit auf sich. Der anschließenden Aufforderung zur allgemeinen Versammlung vor unserem Mensahaus folgten wir dann auch mehr oder weniger willig.
„Es wurde beschlossen“, so begann der Oberpädagoge Werner, inzwischen hatten sich alle mit Vornamen bei uns vorgestellt, „dass wir, in Anbetracht der Tatsache, dass nur ein Zelt den Sturm heil überstanden hatte, den für morgen geplanten Abenteuerausflug in den Wald und die Umgebung auf heute zu verschieben. Wir hoffen, ihr habt gute Schuhe an. Wer nicht mitkommen kann, melde sich bitte bei der Monika. Sie wird die Sache prüfen und dann mit euch hier bleiben!“
Einen Ausflug, na prima und das mit meinem Knie, aber hier bleiben kam für mich nicht in die Tüte, ich würde einfach so tun, als könnte ich perfekt laufen, kein Humpeln, kein Stolpern. Die Zähne zusammenbeißen und durch, hieß es jetzt. Niemand könnte mich dazu zwingen mit „der“ Monika hier zu bleiben und auch noch ohne Esther.
Monika war keine Pädagogin, sie war qualifizierte Krankenschwester und eigentlich nur per Zufall zu diesem Camp gekommen, der Oberpädagoge sprach von Behörden und Vorschriften, als er sie uns vorstellte. Ihre blonden, dünnen Haare hatte sie zu einem Knoten auf ihrem Hinterkopf zusammengebunden, was ihre leicht abstehenden Ohren und ihre orientalische, große Nase nur noch betonte. Eine Brille trug sie nicht, hätte aber zu gut zu ihr gepasst. „So eine dicke, schwarze Hornbrille“ lästerten Esther und ich. Aber sie trug keine, auch nicht um den Hals an einer Kette aus irgendwelchen bunten Bändern.
Sie war den ganzen Tag damit beschäftigt, irgendwelche kleineren Schrammen oder aufgeschlagene Knie in ihrem Behandlungszimmer neben dem Speisesaal zu verarzten. Auch Bienen und sonstige Insektenbisse wusste sie geschickt zu versorgen und ihnen den Schrecken zu nehmen. Dabei schaute sie immer ganz ernst und wichtig und bevor sie jemanden entließ, gab sie noch detaillierte Gesundheitsratschläge mit auf den Weg.
Ich hatte sie noch nie lachen sehen, obwohl die Stimmung auch unter den Erwachsenen recht ausgelassen schien. Immer stand sie ein bisschen abseits und wartete auf ihr nächstes Opfer, das sie dann mit ihrer Fürsorge und ihren weisen Sprüchen überschütten durfte.
Nein, einen ganzen Vormittag mit Schwester Monika - ohne mich.
„Geh langsam zum Zelt“ raunte ich Esther zu, die direkt vor mir stand „Frag nicht und dreh dich nicht um“ flüsterte ich bedeutungsschwanger, bevor wir uns in Bewegung setzten.
So unauffällig wie möglich folgte ich meiner kleinen Freundin, die aufrecht und schon beinahe schleichend vor mir her lief. Aber selbst dieser extrem bedachte und langsame Schritt war für mich zu schnell. Bei jedem Schritt, den ich mit zusammengebissenen Zähnen so rund und flüssig wie möglich setzte, durchfuhr mich ein stechender Schmerz bis hinauf in meine mir auferlegte Disziplin und ließ mich unwillkürlich ruckartig das Bein wieder in eine schmerzfreie Position bringen. Ich humpelte, ob ich wollte oder nicht.
„Mäusescheiße“ brach es aus mir heraus, als wir uns endlich im Schutz der weißen Plane unserer Lagerheimat befanden „Es tut einfach zu weh!“
„Und genau aus diesem Grund bleibst du hier“. Esther und ich, die wir beide mit dem Rücken zum Eingang gestanden hatten, fuhren blitzartig herum und sahen einer streng dreinschauenden Monika direkt in ihre kleinen Augen. Ihre Blicke duldeten keine Widerrede. Es gab kein Entkommen, ich war ihr nächstes Führsorge-Opfer. Hilfesuchend sah ich mich nach meinem Fels in der Brandung um, suchte das sommersprossige Gesicht, das „Alles wird gut“ verhieß und direkt in mein aufgewühltes Ich sprach. Doch als ich mich zu Esther umsah, erschrak ich. Zum ersten Mal sah ich sie wirklich.
Nicht das tröstende Himmelblau oder die lustigen Sommersprossen, die um ihre Nase schaukelten, wenn sich ihr Mund zu einem schelmischen Lächeln verzog, nicht die rot schimmernden Haare, die wie ein Schleier um ihr Gesicht wogten, wenn sie ging.
Ich sah, wie blass sie war, wie zerbrechlich, und erst jetzt fiel mir auf, wie müde sie in unbeobachteten Momenten in diese Welt sah. Wie sich ein trüber, grauer Schleier über ihr strahlendes Gesicht zog und ihrem rosigen Teint ein erschrockenes Aussehen verlieh.
Hier ging es nicht mehr um mich. In erster Linie war Monika Esthers wegen hier. Mein Humpeln hatte sie nur nebenbei bemerkt.
Ich schämte mich, hatte ich doch an die Bedeutung meiner Person gedacht und nicht damit gerechnet, ja überhaupt in Betracht gezogen, dass ein Anderer wichtiger war als ich. Mein schmerzendes Knie schien nur eine Bagatelle gegenüber dem, was Esther da tief in sich verborgen hielt. Monika sah Esther ernst an, tat sie eigentlich immer, ernst gucken, aber diesmal war es wirklich bedeutend und Esther verstand, denn gerade als die besorgte strohblonde Amazone beherzt auf meine kleine Freundin zukommen wollte mit einem stillen Vorwurf im Blick und einer Ermahnung auf den Lippen, riss das Mädchen ihre blauen Augen bedrohlich weit auf und schüttelte entschlossen ihren Kopf, so dass ihre roten Haare leicht zu schwingen begannen. Monika stockte, zögerte einen Moment lang und ließ dann von ihrem Vorhaben ab. Was immer sie auch tun wollte, sie tat es nicht. Irgendwie gab es da ein stilles Abkommen zwischen der großen Frau und dem zierlichen Mädchen, dem sich beide beugten. Ein Versprechen, an das beide gebunden waren.
Im Hinausgehen murmelte sie noch so etwas wie, wenn alle weg sind komm ich wieder, und verschwand so unerwartet, wie sie hinter uns aufgetaucht war.
Zurück blieben ein ziemlich erschöpftes, kleines Wesen, das zusammengesunken auf ihrem Feldbett kauerte, und ich.
Der Boden unter meinen Füßen schwankte und tausend Gedanken schwirrten durch meinen Kopf, zogen mich immer weiter hinein in die Höhle aus kaltem Stein, hell erleuchtet mit Kerzen, unterschiedlich groß, unterschiedlich hell, unterschiedlich gruppiert. Mal ganz dicht beieinander, mal einzeln und versteckt in einem Felsspalt. Flackernd und züngelnd tauchte der Feuerschein das steinerne Grab in einen Ort von unheimlicher Würde. Irgendwo aus einer Nische sprang ein Schatten, der sogleich im Schein der Kerzen wieder verging. Stimmen raunten und doch war es totenstill. Schritte in ungleichem Rhythmus kamen näher und verhallten in der Weite der Kathedrale aus Fels. Eine der Kerzen war besonders lebhaft, tanzte auf und ab und drohte bei dem kleinsten Windhauch zu verglühen. Ich hielt den Atem an und wusste, irgendwo in dieser Welt kämpfte ein Mensch um sein Leben. Esther!
Ein Schauer jagte mir über den Rücken und ich spürte, wie meine Füße bereits mit dem felsigen Untergrund verwachsen waren, ja selber zu Stein geworden waren. Ich kam hier nicht mehr weg, konnte ihr nicht helfen, war auf immer dazu verdammt, dem Schein der Kerzen zu gehorchen und mit ihnen im leichten Windhauch, der das steinerne Gefängnis durchzog, auf - und abzuschwelen und zuzusehen, wie ihre Kerze erlosch.
„Nein“ schrie ich und war augenblicklich wieder umgeben von weißer Zeltplane und sog die schwül-warme, stickige Luft bis tief in mein Bewusstsein.
Erschrocken blickten zwei sehr lebendige himmelblaue Augenpaare von unten zu mir herauf. Ich war wieder da, stand immer noch an der gleichen Stelle wie vor meinem Ausflug in die Unterwelt und Esther saß vor mir auf ihrem Lager aus Tuch und Holz.
„Ist doch gar nicht so schlimm hier zu bleiben, so ganz ohne Aufseher“ versuchte sie meine aufgewühlten Emotionen zu beruhigen.
Benommen lauschte ich ihrer glockenklaren Stimme, die mich heute schon zu zweiten Mal von irgendwo, nirgendwo wieder zurückbrachte in diese Welt mit ihrer harten, festgelegten Realität.
„Und wenn alle weg sind, müssen wir nur noch die Oberschwester los werden“ setzte sie noch hinzu und begann verschwörerisch zu grinsen.
„Ja, sicher“ konnte ich mich sagen hören.
„Was ist denn mit dir los?“ besorgt zog Esther mich zu ihr auf die Pritsche und sah mich aufmerksam an, gedankenverloren erzählte ich ihr von dem seltsamen Tagtraum, den ich gehabt hatte.
„So eine Mäusescheiße“ prustete Esther heraus. „Seh’ ich etwa so aus, als ob ich gerade sterben würde?“ ihre blauen Augen funkelten mich provokativ an, du bist doch diejenige, die heute Morgen umgefallen ist“.
„Stimmt“ pflichtete ich ihr bei und schob den unangenehmen Gedanken weit von mir. Quietschvergnügt schmiedeten wir Pläne, wie wir uns der Aufsicht durch Schwester Monika entziehen konnten. Doch das war gar nicht nötig. Sie tauchte noch einmal kurz in unserem Zelt-Zuhause auf, als alle Anderen lautstark im angrenzenden Wald verschwunden waren. Wies uns kurz darauf hin, wie sich gut erzogene Mädchen verhalten müssten und wo sie im Notfall zu finden sei, dann war sie wieder weg und wir unbeobachtet.
„Kannst du rotzen?“ spitzbübisch belauerte mich offenbar kerngesunde Vertraute. Fragend starrte ich sie an.
„So richtig von tief hinten den Schleim vorholen und ihn dann mit Karacho ausspucken“ erklärte sie.
Ungläubig, dass aus so einem zarten Wesen etwas eindeutig Ordinäres herauskam, schüttelte ich dem Kopf. Entschlossen stand Esther auf, nahm mich an die Hand und führte mich, durch eine Lücke in der Mauer zu dem kleinen Bachlauf, der sich an der Grundstücksgrenze zwischen ehrwürdigen Baumriesen und rotbraunen Sandsteinbrocken munter plätschernd hindurch wandte.
Wir fanden eine seichte Stelle, an der sich Esther, ohne nur einen Moment lang zu zögern, breitbeinig aufstellte und grunzend einen saftigen Schleimbrocken aus ihrem Rachen in den Mundraum zog, dann lehnte sie sich, als wolle sie Schwung holen und damit die vorhergesehene Fluggeschwindigkeit des Riesenpopels noch erhöhen, weit zurück, formte ihre Lippen zu einem O und schoss den Schleimklumpen in die Freiheit.
Stolz auf das Vollbrachte drehte sie sich anspornend zu mir um.
Einen Moment lang sah ich meine Mutter vor mir, ernst und böse, mit erhobenem Zeigefinger „Bedenke, wo du herkommst“ hörte ich ihre ermahnende Stimme. So wie damals, als sie mich beim Pfeifen lernen hinter unserem Gartenhäuschen erwischt hatte. „Das gehört sich nicht für ein Mädchen aus unseren Kreisen!“ sagte sie und zog mich aus meinem Versteck hervor.
Heute konnte ich laut und schrill auf zwei Fingern pfeifen wie der Junge in meiner Klasse von der anderen Seite des Neckars. Er war viel älter als ich, aber immer noch in der dritten Klasse. Mit ihm hatte ich mich heimlich an dem Fahrradschuppen unserer Schule getroffen. Küssen wolle er mich, hatte er gemeint, und dafür würde er mir das Pfeifen auf zwei Fingern beibringen und nicht dieses Mädchenpfeifen durch den zum „O“ geformten Mund, das ich seit der Entdeckung durch meine Mutter und deren empörten Reaktion tüchtig geübt hatte.
Mit zusammengekniffenen Augen und gespitztem Mund erwartete ich so meinen ersten Kuss. Nass und heftig trafen sich unsere Lippen. Ein unangenehmes Kribbeln zog sich durch meinen Körper, ließ mich instinktiv die Arme, die ich hinter meinem Rücken verschränkt gehalten hatte, nach vorne und gegen ihn stoßen, um ihn vor weiteren Übergriffen abzuhalten.
Und jetzt das Pfeifen, forderte ich meinen Teil der Abmachung ein. Und er tat es. Eine Woche lang jeden Nachmittag. Erst der Kuss, den ich irgendwann einfach über mich ergehen ließ und dann Pfeifen. Herrlich unanständiges, lautes Pfeifen mit den Fingern im Mund.
Und nun das, ich würde das Rotzen lernen. Ohne Kuss, einfach so. Das war noch viel besser!
So trat ich nun neben meine Lehrerin, die sich ein zweites Mal laut grunzend Schleim aus ihrem Rachen in den Mund sog und mit hohlem Mund, das rotzige Etwas hütend wie einen Schatz, betonte „Das wird ein Grüner“ bevor sie sich wieder zurücklehnte, um ihn zwischen den Lippen hindurch hinauszukatapultieren. Und wirklich, er war grün.
Angeekelt und doch fasziniert sah ich dem Schleim zu, wie er über den getroffenen Stein langsam und immer länger werdend hinab ins Wasser glitt, um dann auf der munter gurgelnden Oberfläche des Baches davon getragen zu werden.
„Wusstest du, dass Rotz schwimmt?“ fragte mich Esther erstaunt. Nein, wusste ich nicht, aber egal, jetzt wollte auch ich ein Glibberboot produzieren.
Meine Bereitschaft erkennend stellte sich auch Esther wieder in Position und gab mir nun genaue Anweisung. Zum ersten Mal wurde mir der zähe Fluss hinten in meiner Kehle bewusst, konnte ich ihn gezielt hinunterschlucken, wobei das im Moment nicht gefragt war. In den Mund musste ich ihn ziehen. Grunzend und würgend brachte ich endlich einen Teil der wabbeligen, warmen Masse in meinen Mund. Mit der Zunge ertastend spuckte ich sie schließlich angewidert aus.
„Nein“ korrigierte mich meine Meisterin im Weitspucken. „Mit Druck, du musst die Zunge zu einer Art Rohr um den Schleim schließen, dann Luft sammeln und wie durch einen Gewehrlauf dem Schlabber freien Lauf lassen“.
Ok, noch einmal fühlte ich in meinen Rachen, holte, schon ein bisschen gekonnter, „den Grünen“ hervor und…da flog er, wurde durch die Luft geschleudert und landete, eine kleinen Plopp verursachend, auf der Wasseroberfläche. Ich hatte es geschafft, nun fehlte mir die Übung. Eine Weile standen wir so an dem kleinen Bach mit nackten Füßen und hochgekrempelten Hosenbeinen und zogen die Nasen hoch, bis uns ganz schwindlig wurde.
Wir schienen diesem Leben mit all seiner Grausamkeit, seiner Brutalität entkommen zu sein. Hatten ein Stück heile Welt gefunden, ein Stück Glück. Der Tag schwoll an zu praller Lebensmitte, brachte die Sommerhitze zur Vollendung. Aus dem nahen Wald trug der Wind tausende von Kinderstimmen in unseren gefundenen Frieden. Sie kamen zurück. Das Zeltlagervolk kehrte heim, hungrig, müde, lautstark.
Erschrocken tauchten wir auf aus Traum und Zeitlosigkeit, auch wir kamen zurück, kamen zu uns. Schnell suchten wir unsere gedankenlos abgestreiften Schuhe zusammen und liefen barfuss und in einem Tempo, das für mein Knie einigermaßen verträglich war, zurück zu unserer weißen Behausung. Gerade noch rechtzeitig. Schnaubend und nach Luft japsend saßen wir, jeder für sich, auf ihrem Feldbett, als Oberfeldschwester Monika die Bühne des Schauspiels betrat. Für sie war das ihre Realität. Die nett und ordentlich aufgeräumten Kinder, die still den Tag verdösten und ihr keine Arbeit machten. Ihre Art des Glücks - obwohl wirklich erfreut sah sie nicht aus. Misstrauisch beäugte sie uns, die wir sie engelsgleich anlächelten. Und um uns ihre Macht zu demonstrieren, holte sie unter dem Bett unserer Zeltaufsicht einen Erste-Hilfe-Koffer hervor und wendete sich zielgerichtet mir zu. Ich hielt die Luft an, spürte die Jodtinktur meiner Mutter, noch lebhaft in Erinnerung, schmerzhaft auf offener Wunde brennen. Gedanken rasten, Muskeln zuckten, es musste einen Ausweg geben, eine Fluchtmöglichkeit. Zeit, ich musste Zeit gewinnen. Irgendwie musste ich sie hinhalten, sie davon überzeugen, dass es nicht notwendig sei, mein wundes Gelenk zu untersuchen. Doch mit einem unerbittlichen, fast schon befriedigten Grinsen in ihrem farblosen Gesicht kam sie immer näher.
Die Stimmen im Lager schwollen an, wurden lauter und deutlicher, und dann meine Rettung. Die Glocke vom Vortag, das vertraute, rostige Scheppern erklang, wie ein klares, munteres Läuten. Zerriss die Spannung, brachte ab von Erwartetem. Ruckartig und in ihrem Vorhaben gestört drehte Monika ihren Kopf zum Ausgang des Zeltes, richtete ihren Blick zum Speisesaal, wo sich nach und nach alle Kinder und Erzieher einfanden.
Susi, unser Zeltvorstand, kam schnellen Schrittes quer über den Rasen auf unsere Behausung zu. Meine Behinderung vergessend sprang ich auf und schlüpfte zwischen Zeltplane und lebender Wegsperrung hindurch so unerwartet und schnell, dass meine Peinigerin nur noch zusehen konnte, wie ich in den Machtbereich von Susi überlief.
Meinen Rucksack, Mäusescheiße, ich hatte meinen Rucksack vergessen, aber noch ehe ich reagieren konnte, lief auch Esther über mit unseren beiden Rucksäcken, der Engel.
Pädagogin Susi sah nun keinen Grund mehr, ihren Weg zum Zelt fortzusetzen und ging mit uns zurück zum Versammlungsplatz.
Im Schutz von Susi sah ich mich noch einmal zu Monika um. Allein und mit hängendem Kopf packte sie ihre Folterinstrumente wieder zurück in den Koffer, aus dem sie sie geholt hatte. Beinahe hätte ich ihre Trauer mitempfunden, wäre es da nicht um mich als Opfer gegangen. Esther, die meinen Blicken gefolgt war und nun hüpfend neben mit herlief, zwinkerte mir versöhnlich zu und drückte mir meine kunterbunte Kindertasche in die Hand.
Der deftige Geruch von herzhafter Hackfleischsoße und würzigem Käse schlug uns entgegen, als wir den kühlen Raum betraten, in dem zahlreiche Teller mit dampfendem Inhalt und Tassen mit kaltem Tee auf den Holztischen platziert und Stühle geräuschvoll über den Steinboden geschoben wurden. Auch ich reihte mich in der Warteschlange der Hungrigen ein, zwei Teller, meinen und Esthers in der Hand, während meine Tischnachbarin uns Tee aus der alten Milchkanne am Eingang schöpfte.
Beinahe gleichzeitig trafen wir uns an dem Platz, an dem wir schon gestern gesessen hatten. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass ein einmal gewählter Platz einem verbindlich bis zum Ende der Ferien zugeteilt war. Ich saß bei den Woolworths und es störte mich nicht weiter, schließlich konnte ich jetzt spucken wie ein Kamel und auf zwei Fingern pfeifen. Außerdem saß ich neben Esther und das war wirklich wichtig.
Ich überragte sie um fast einen ganzen Kopf und doch fühlte ich mich ihr manchmal unterlegen. Sie war so selbstbewusst in allem, was sie tat, zögerte nie und hatte die tollsten Ideen. Sie verstand es, einen an der Hand zu fassen und mitzunehmen in eine Welt aus Blumen, Sonnenschein und Sommersonnenhimmelblau.
So saßen wir an jenem Julitag unbeschwert beisammen, munter durcheinander schwatzend, um uns dann wieder verschwörerisch anzugrinsen, und verschlangen irgendwie dazwischen gierig die Spaghetti Bolognese. Ich hatte vergessen, wer ich war, hatte mich aufgelöst im Hier und Jetzt und trieb mit den Geschehnissen, die um mich herum stattfanden hinaus in den Tag, wurde ein Teil davon.
Das Eis, das uns zum Nachtisch gereicht wurde, nahmen wir mit nach draußen und leckten es genussvoll im Schatten unserer Linde, die felsenfest dem nächtlichen Sturm getrotzt hatte.
Noch immer war das Gras dort, wo die Sonne den Boden nur schwer erreichte, feucht, doch das störte uns nicht, denn kaum hatten wir unsere kalte, kleine Köstlichkeit schlürfend geschmaust, riefen die Herdenoberhäupter zu neuen Abenteuern.
Da die Zelte noch immer nicht wieder standen, obwohl den ganzen Vormittag, während unseres persönlichen Erlebnisses am Bach, eine Herde Gemeindearbeiter in blauen Overalls und schwerer Gerätschaft den Kampf mit störrischen Zeltplanen und sperrigem Gestänge aufgenommen hatten, gebot es die Abenteuerversprechung zum Anfang des Camps, ein entsprechendes Programm zu bieten.
Wettspiele hieß das Zauberwort. Aktives, kräftezehrendes, gegenseitiges bekämpfen und besiegen. Beschimpfen, diskriminieren, erniedrigen. Alles war erlaubt, auch und gerade von der eigenen Mannschaft. Schließlich würde dadurch das Selbstvertrauen geschult, und fördere die Entwicklung von Ehrgeiz, so unsere Zeltpädagogen.
Ich hatte, was derart schweißtreibende Veranstaltungen anging, ein mir eigenes, negatives Selbstbewusstsein, ich war dick, unsportlich und in keinster Weise geschickt genug, um Hindernisse zu überspringen, geschweige denn darunter durchzukriechen. Auch meine Kurvenlage war eher die einer trägen Flüssigkeit, dem Gesetz der Physik folgend darauf bedacht, Richtung und Geschwindigkeit möglichst keinen großen Veränderungen auszusetzen.
Ich war diejenige, die ausgelacht, beschimpft und gedemütigt wurde. Ich war diejenige, die keiner in seiner Mannschaft haben wollte, die beim Auszählen immer zuletzt gewählt wurde und das auch nur mit Widerwillen und einem getuschelten, „mit der können wir gleich einpacken“.
Selbst der dicke Anton aus unserer Klasse wurde noch eher akzeptiert als ich. Der konnte wenigstens alle umrennen. Ein bleiernes Zusammenkrampfen in meiner Magengrube machte sich bemerkbar. Ich kannte hier kaum jemanden und die schöne Katharina würde keinen Moment zögern, zu meinem schlimmsten Feind zu werden, schließlich war ich auf die falsche Seite der Gesellschaft übergelaufen, aß und trank mit dem niederen Volk und hatte sogar deutlich sichtbar mehr Spaß als sie. Das schrie nach Ahndung durch besonders fiese Attacken.
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