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II. Anwendung auf den Fall: Ermittlung des objektivierten Unternehmenswerts der Kanzlei „Tippe“
Im Bewertungsfall „Tippe-Neumeier“ sind zahlreiche Käufer und Verkäufer involviert. Gleichzeitig ist der Wert des Anteils, der auf den einzelnen (potenziellen) Investor entfällt, relativ klein. Die umfassende Ermittlung der subjektiven Grenzpreise und das Festlegen angemessener Schiedspreise ist – sofern es überhaupt möglich ist – mit sehr hohem Zeit- und Kostenaufwand verbunden. Es bietet sich daher an, eine objektivierte Unternehmensbewertung durchzuführen und auf diesem Wege einen typisierten Unternehmenswert zu bestimmen.
Bei der Ermittlung des objektivierten Unternehmenswerts ist die aktuelle Unternehmenssituation zugrunde zu legen. Aus ihr resultiert ein Nettocashflow von 25 000 Euro. Die von den Neumeiers geplante Strategieänderung hat noch keinen Niederschlag im aktuellen Unternehmensgeschehen gefunden. Sie besteht nur in den Köpfen der potenziellen Investoren und lässt sich nicht justiziabel beziffern. Sie wird daher nicht berücksichtigt. Auch die Möglichkeit zur Mietersparnis, die sich der neuen Käufergruppe aufgrund ihrer spezifischen Situation eröffnet, bleibt unbeachtet. Der durchschnittliche Kapitalmarktteilnehmer könnte sie nicht realisieren.
Dafür werden die von den Tippes nicht gezogenen Honorare der Sportvereine in die Ermittlung des zukünftigen Cashflow einbezogen, wenn sie „im Unternehmenskonzept dokumentiert sind“73. Es handelt sich bei ihnen um unechte Synergien, die – neben den Neumeiers – auch jeder andere durchschnittliche Marktteilnehmer realisieren könnte. Der Nettocashflow ist folglich um 5 000 Euro zu erhöhen und beträgt damit für den Prognosezeitraum 30 000 Euro jährlich. Aus Vereinfachungsgründen wird in diesem Fall noch von Unternehmen- und Einkommensteuern abstrahiert.
Der Nettocashflow ist mit der Rendite zu diskontieren, die ein durchschnittlicher Marktteilnehmer aus einem Mischportfolio aus festverzinslichen Wertpapieren und Aktien erzielen könnte. Sie ist im Sachverhalt mit 8,5 % angegeben.
Unter diesen Bedingungen ermittelt sich der objektivierte Unternehmenswert i.H.v. 352 941 Euro:
Achten Sie darauf: Der objektivierte Unternehmenswert ist eine Verlegenheitslösung. Er erhebt nicht den Anspruch, für den einzelnen (potenziellen) Investor einen ökonomisch fundierten und relevanten Wert zu bestimmen. Dies zeigt sich auf eklatante Weise, wenn man den objektivierten Unternehmenswert mit den Grenzpreisen aus Fall 2 vergleicht, die sich ergaben, als nur Tippe (Verkäufergrenzpreis 500 000 Euro) und Neumeier (Käufergrenzpreis 700 000 Euro) die Investoren waren. Wäre der objektivierte Unternehmenswert in diesem Fall angewandt worden, so hätte dieser Wert den Verkäufer Tippe extrem benachteiligt. Aber auch im Falle der Käufergruppen Tippe-Neumeier erhält Tippe Senior am Ende des Tages deutlich zu wenig, denn auch hier errechnet sich seine Vergütung nur als Bruchteil aus dem – aus seiner Sicht – viel zu niedrigen objektivierten Unternehmenswert. Augenfällig ist zudem, dass bei Verwendung dieses neutralen Gutachterwerts die Verkäufer niemals an den Synergien der Käufer partizipieren.
Weiterführende Literatur
Hommel, Michael/Braun, Inga/Schmotz, Thomas, | Neue Wege in der Unternehmensbewertung – Kritische Würdigung des neuen IDW-Standards (IDW S 1) zur Unternehmensbewertung, DB, 54. Jg. (2001), S. 341–347 |
Castedello, Marc, | Methodik der Unternehmensbewertung, in: IDW (Hrsg.), Bewertung und Transaktionsberatung, Düsseldorf 2018, Kapitel A, S. 1–186 |
52 Vgl. IDW Standard: Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen (IDW S 1 i.d.F. 2008), IDW-FN 2008, S. 271. 53 Vgl. IDW Standard: Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen (IDW S 1 i.d.F. 2008), IDW-FN 2008, S. 271 (S. 274, Rn. 12). 54 Vgl. IDW Standard: Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen (IDW S 1 i.d.F. 2008), IDW-FN 2008, S. 271 (S. 274, Rn. 12). 55 IDW Standard: Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen (IDW S 1 i.d.F. 2008), IDW-FN 2008, S. 271 (S. 274, Rn. 12, im Original ohne Hervorhebung). 56 IDW Standard: Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen (IDW S 1 i.d.F. 2008), IDW-FN 2008, S. 271 (S. 276, Rn. 29). 57 Vgl. IDW Standard: Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen (IDW S 1 i.d.F. 2008), IDW-FN 2008, S. 271 (S. 276, Rn. 32). 58 IDW Standard: Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen (IDW S 1 i.d.F. 2008), IDW-FN 2008, S. 271 (S. 277, Rn. 40). 59 Vgl. IDW Standard: Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen (IDW S 1 i.d.F. 2008), IDW-FN 2008, S. 271 (S. 277, Rn. 33–34). 60 Mandl/Rabel, Unternehmensbewertung (1997), S. 164. 61 IDW Standard: Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen (IDW S 1 i.d.F. 2008), IDW-FN 2008, S. 271 (S. 277, Rn. 34). 62 IDW Standard: Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen (IDW S 1 i.d.F. 2008), IDW-FN 2008, S. 271 (S. 285, Rn. 114). 63 Vgl. IDW Standard: Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen (IDW S 1 i.d.F. 2008), IDW-FN 2008, S. 271 (S. 285, Rn. 118). 64 Vgl. Wagner u.a., Weiterentwicklung der Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen (IDW S 1), WPg 2004, S. 889 (S. 891); Castedello, Methodik der Unternehemensbewertung, in: IDW (Hrsg.), Bewertung und Transaktionsberatung (2018), S. 1 (S. 123–125, Rn. 348–351). 65 Vgl. Moxter, Grundsätze ordnungsmäßiger Unternehmensbewertung (1983), S. 177 und S. 183. 66 IDW Standard: Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen (IDW S 1 i.d.F. 2008), IDW-FN 2008, S. 271 (S. 276, Rn. 30). 67 Vgl. IDW Standard: Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen (IDW S 1 i.d.F. 2008), IDW-FN 2008, S. 271 (S. 276, Rn. 30, und S. 278, Rn. 45). 68 Vgl. IDW Standard: Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen (IDW S 1 i.d.F. 2008), IDW-FN 2008, S. 271 (S. 276, Rn. 31, und S. 278, Rn. 46). 69 Vgl. Castedello, Die Unternehmensbewertung, in: IDW (Hrsg.), WP Handbuch 2014, Bd. II (2013), S. 1 (S. 34, Rn. 113–114). 70 Vgl. IDW Standard: Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen (IDW S 1 i.d.F. 2008), IDW-FN 2008, S. 271 (S. 276, Rn. 31, und S. 278, Rn. 46). 71 IDW Standard: Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen (IDW S 1 i.d.F. 2008), IDW-FN 2008, S. 271 (S. 278, Rn. 44). 72 Vgl. IDW Standard: Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen (IDW S 1 i.d.F. 2008), IDW-FN 2008, S. 271 (S. 278, Rn. 47). 73 IDW Standard: Grundsätze zur Durchführung von Unternehmensbewertungen (IDW S 1 i.d.F. 2008), IDW-FN 2008, S. 271 (S. 277, Rn. 34).
Fall 5: Multiplikatorverfahren
Sachverhalt:
Carlo Neumeier ist sich unsicher, ob er die Steuerberaterkanzlei „Tippe“ für 600 000 Euro kaufen soll. Dieser Betrag steht in der aktuellen Verkaufssituation zur Diskussion. Sicher, er erwartet aus der Kanzlei „Tippe“ jährliche Gesamtumsätze von 403 000 Euro, und der Jahresüberschuss vor Zinsen und Steuern (EBIT) beläuft sich bei ihm voraussichtlich auf 76 000 Euro. Aber ist die Kanzlei „Tippe“ wirklich ihr Geld wert?
Bei einem Abendessen trifft Carlo Neumeier zufällig Larissa Berthold, eine ehemalige Studienkollegin, wieder. Sie berichtet ihm begeistert von ihrem neuen Job bei einer Unternehmensberatungsgesellschaft. Dort stünden Bewertungen von Unternehmen auf der Tagesordnung. Sie allein würde zehn dieser Bewertungen am Tag erledigen und hätte auch schon zahlreiche Unternehmenstransaktionen mit begleitet. Sogar Steuerberaterkanzleien seien darunter gewesen.
Tabelle 9: Ausgewählte Transaktionen mit Steuerberatungsgesellschaften
Jüngere Transaktionen | ||||||
---|---|---|---|---|---|---|
Steuerberatungs-kanzleien | Sitz | Tag der Transaktion | Rechnungslegungs-system | Preis (in €) | Umsatz (in €) | EBIT (in €) |
Kanzlei Hector | Berlin | 31. 12. 1994 | HGB-1985 | 600 000 | 612000 | 133 300 |
Kanzlei Hoier | New York (USA) | 30. 6. 2008 | US-GAAP | 3 500 000 | 420 000 | 179 500 |
Kanzlei Lang | Bösgesäß (Hessen) | 31. 3. 2014 | Steuerbilanz (EStG) | 400 000 | 520 000 | 76 900 |
Kanzlei Weingans | Hamburg | 30. 11. 2015 | IFRS | 370 000 | 296 000 | 46 300 |
Kanzlei Hubert | Bern (Schweiz) | 31. 12. 2017 | Swiss GAAP Fair | 280 000 | 476 000 | 84 800 |
Kanzlei Nelke | Köln | 30. 9. 2018 | HGB (nach BilRUG) | 420 000 | 588 000 | 23 300 |
Kanzlei Brossi | Rom (Italien) | 31. 3. 2019 | Italian GAAP | 120 000 | 84 000 | 13 300 |
Summe | 5 690 000 | 2 996 000 | 557 400 |
Carlo Neumeier wird hellhörig. Er fragt Larissa, ob sie ihm einen passenden Ratschlag geben kann, der ihm mehr Planungssicherheit bei der Kaufpreisverhandlung gibt. Am nächsten Morgen sucht Larissa die Transaktionen heraus, die mit Steuerberatungsgesellschaften zu tun hatten, stellt Carlo Neumeier die zustande gekommenen Kaufpreise und die wesentlichen finanziellen Eckdaten zusammen und sendet sie ihm per E-Mail.
Aufgabenstellung:
– Hilft Carlo Neumeier diese Aufstellung weiter? Ermitteln Sie den branchendurchschnittlichen Umsatzmultiplikator, den branchendurchschnittlichen EBIT-Multiplikator sowie den sich daraus jeweils ergebenden Unternehmenswert der Steuerberaterkanzlei „Tippe“!– Was versteht man unter der Multiplikatormethode? Beschreiben Sie Aufgabe und Bedeutung und vergleichen Sie das Multiplikatorverfahren mit dem Ertragswertverfahren!– Welche branchenspezifischen Multiplikatoren ergeben sich bezüglich des Gewinns, des Umsatzes und des EBIT? Welche Vor- und Nachteile sind mit diesen Multiplikatoren verbunden?– Beschreiben Sie die Möglichkeiten und Grenzen bei der Ermittlung von Marktpreisen, die für vergleichbare Branchenunternehmen gezahlt werden oder wurden!
– Worin liegen die Vorteile, aber auch die Bedeutungsgrenzen und Kritikpunkte der Multiplikatormethode?
I. Multiplikatorverfahren
1. Erläuterung
a) Aufgabe und Bedeutung der Multiplikatormethode
Ist für einen sicheren, gleichbleibenden und unendlich lang aus einem Bewertungsobjekt fließenden Zahlungsstrom (CFU) dessen Wert (EWU) gesucht und ist zugleich bei bestmöglicher alternativer Mittelverwendung für den gleichen Zahlungsstrom (CFA) der bekannte Preis (PA) zu zahlen, so kann man als Berechnungsformel für den Wert des Bewertungsobjekts (EWU) verallgemeinernd schreiben:74
Denn die Gültigkeit von CFU = CFA und EWU = PA impliziert .
Stellt man die obige Bezugsgleichung um, so erhält man den Ertragswert als Produkt aus der Bezugsgröße CFU mit dem Quotienten , und die Bewertungsgleichung lautet nun:
Der zweite Gleichungsterm kann auch als Cashflow-Multiplikator (mCF) bezeichnet werden, denn der Ertragswert des Unternehmens ergibt sich hier, indem sein Nettocashflow mit dem Betrag multipliziert wird, der am Markt für einen Euro Nettocashflow zu bezahlen ist:75
(11) EWU = CFU · mCF.
Wird angenommen, dass das zu bewertende Unternehmen einen prognosefähigen, dauerhaften Nettocashflow von 100 000 Euro erwarten lässt und am Markt 1 Mio. Euro zu investieren sind, um einen gleich hohen Nettocashflow zu erzielen, so gilt:
Die Bank verlangt das Zehnfache der Zinsen als Geldanlage. Folglich ist auch der zu bewertende Zahlungsstrom des Unternehmens das Zehnfache seines Nettocashflow wert.
Anders als das Ertragswertverfahren, das ausschließlich die zukünftig erwarteten, ausschüttungsfähigen Einzahlungsüberschüsse bzw. Nettocashflows als Wertmaßstab verwendet, kann der Bewerter bei den Multiplikatorverfahren aus einer großen Anzahl möglicher Wertindikatoren (Bezugsgrößen) denjenigen auswählen, der ihm am besten dazu geeignet erscheint, das Unternehmen zu bewerten. Hierzu zählen neben den alternativen Performancekennzahlen, wie Umsatz, EBITDA, EBIT oder Jahresüberschuss, auch bilanzielle Indikatoren, wie das Buchwerteigenkapital, oder sogar Mengenwerte, wie die Anzahl verkaufter Produkte und bei der Bewertung land- und forstwirtschaftlicher Betriebe die Größe der bewirtschafteten Produktionsflächen. Es gilt die Regel, dass ein Unternehmen umso wertvoller ist, je höher sein Nettocashflow ist, und es kann vermutet werden, dass hinter einem höheren Nettocashflow zumindest mittel- oder langfristig auch ein höherer Jahresüberschuss, ein höheres EBIT und ein höherer Umsatz steht. Deshalb gilt die Bezugsgleichung:
Verwendet der Bewerter beispielsweise den Jahresumsatz als Referenzmaßstab und dividiert den für ein Vergleichsobjekt gezahlten Kaufpreis durch den von diesem erwirtschafteten Letztjahresumsatz, so erhält er eine Kennziffer, die aussagt, wie viel ein Marktteilnehmer bereit war, für einen Euro Jahresumsatz auszugeben, um dieses (Vergleichs-)Objekt zu erwerben. Multipliziert der Bewerter anschließend diesen Umsatzmultiplikator mit dem Umsatz des zu bewertenden Unternehmens, so gelangt er auf diese Weise zu dessen potenziellem Marktpreis.
Regelmäßig verwendet der Bewerter aber keinen Multiplikator, der nur aus einer einzigen Markttransaktion stammt. Die Gefahr wäre viel zu groß, dass der dabei beobachtete Marktpreis zufällig zustande kam oder auf transaktionsspezifischen Wertfaktoren und Besonderheiten, wie dem Verkaufsgeschick eines der Vertragspartner, beruht, die nicht verallgemeinerungsfähig sind. Der Bewerter wird sich vielmehr darum bemühen, die Kaufpreise und die dazugehörigen Wertkennzahlen für eine Vielzahl von Unternehmensverkäufen zu ermitteln (peergroup), um aus diesen Daten einen durchschnittlichen Multiplikator zu berechnen. Die Durchschnittsbildung soll gewährleisten, dass sich die finanziellen Fehleinschätzungen, die sich bei vereinbarten Marktpreisen ergeben (können), gegenseitig neutralisieren.76
Da der Bewerter regelmäßig nicht über eine sehr große Zahl von Referenzobjekten verfügt, ist es in der Bewertungspraxis üblich, den Durchschnittswert nicht mit dem arithmetischen Mittel zu berechnen, sondern den Median anzuwenden. Zu seiner Ermittlung werden die aus den beobachteten Daten gewonnenen unternehmensindividuellen Multiplikatoren der Peergroup der Größe nach geordnet. Bei einer ungeraden Anzahl von Beobachtungen ist der Median der Wert, der in der Mitte der Beobachtungen liegt. Bei einer geraden Anzahl von beobachteten Vergleichsunternehmen handelt es sich bei ihm um das arithmetische Mittel der beiden in der Mitte der Beobachtungsreihe liegenden Zahlen. Durch die Verwendung des Medians vermeidet der Bewerter, dass Extremwerte, die an den beiden Enden der Verteilung liegen, ein zu großes Gewicht bei der Durchschnittsbildung erhalten.
b) (Vermeintlich) Aussagekräftige Multiplikatoren
aa) Ertragsabhängige Multiplikatoren
In der Praxis ist es weit verbreitet, einen ertragsbezogenen Performancewert, wie den Umsatz oder den Jahresüberschuss, zur Bewertung heranzuziehen. Denn die Ertragsgrößen stehen in relativ enger Nähe zum eigentlich gesuchten, idealen Bewertungsmaßstab, dem Nettocashflow.
Betrachtet man z.B. den Jahresumsatz von Bäckereien, so lässt sich vermuten, dass ein Unternehmen mit einem Jahresumsatz von 1 Mio. Euro deutlich mehr wert ist als eine benachbarte Bäckerei, die lediglich den hälftigen Jahresumsatz von 500 000 Euro erwirtschaftet; denn unterstellt man eine weitgehend vergleichbare Produktions- und Finanzierungsstruktur und deshalb dem Grunde und der Höhe nach ähnliche Kosten, so resultiert aus einem höheren Umsatz am Ende des Geschäftsjahres auch regelmäßig ein höherer konsumfähiger Nettocashflow. Der Rückgriff auf die Daten der Gewinn- und Verlustrechnung hat den Vorzug, dass sie sich relativ leicht beschaffen lassen und dem Bewerter bei ihrem Einsatz komplexe Überleitungsrechnungen erspart bleiben. Dazu kommt der Vorteil, dass die dem Nettocashflow vorgelagerte Performancekennziffer umso weniger bilanzpolitisch verzerrt ist, je näher sie sich am Ursprung der Umsatzeinzahlungen befindet.
bb) Gewinnmultiplikator
Ermittelt der Unternehmensbewerter den potenziellen Preis des Unternehmens mit einem Gewinnmultiplikator, so errechnet der Bewerter den potenziellen Preis des Unternehmens (PU), indem er den beobachteten Preis für ein Vergleichsunternehmen (PV) mit dem Gewinn dieses Vergleichsunternehmens (GewinnV) in Verhältnis setzt und anschließend mit dem Gewinn des zu bewertenden Unternehmens (GewinnU) multipliziert. Es gilt:77
Da der Quotient als Gewinnmultiplikator (mGewinn) bezeichnet wird,78
kann man auch vereinfachend schreiben:
(14) PU = GewinnU · mGewinn.
Die Verwendung eines Gewinnmultiplikators hat den entscheidenden Vorteil, dass der Gewinn (oder, sprachlich genauer: Jahresüberschuss) eines Unternehmens in zahlreichen Fällen eng korreliert mit dessen Nettocashflow, so dass Unternehmen mit einem hohen Jahresüberschuss auch einen hohen Einzahlungsüberschuss erwarten lassen. Beide Wertfaktoren berücksichtigen zudem die spezifische Aufwandsstruktur des Unternehmens und beziehen die Aufwendungen, die es für die Umsatzerzielung benötigt, ebenso explizit ein wie die aus der Leistungserstellung resultierenden Erträge. Dadurch werden die zentralen Werttreiber, die die individuelle Leistungskraft des zu bewertenden Unternehmens beeinflussen, umfassend berücksichtigt. Arbeitet das Unternehmen ineffektiv im Vergleich zum Marktdurchschnitt, so dass es für die Erstellung einer Leistungseinheit mehr Ausgaben benötigt, als dies in der Branche üblich ist, so schlägt sich dies auf die (letztlich interessierenden) ausschüttungsfähigen Einzahlungsüberschüsse ebenso nieder wie auf den Jahresüberschuss. Allerdings lässt sich der in der Vergangenheit erwirtschaftete Jahresüberschuss entschieden leichter und objektivierter ermitteln als die zukünftig zu erwartenden Nettocashflows.
Dem Zugewinn an Objektivierung, den der vergangenheitsorientierte Jahresüberschuss gegenüber dem zu prognostizierenden Nettocashflow besitzt, stehen allerdings gravierende Nachteile gegenüber. Der in den letzten Jahren erzielte Jahresüberschuss muss weder für das Unternehmen noch für die Branche prognosefähig sein. Zwar kann der Bewerter dieses Manko beseitigen, indem er den Vorjahresgewinn nach seinen Erkenntnissen prognosefähig ausgestaltet, doch geht dann der große Vorteil der einfachen und objektivierten Handhabung verloren, den die Multiplikatormethoden gegenüber dem Ertragswertverfahren aufweisen. Auch unterstellt der Gewinnmultiplikator u.a. pauschalierend, dass die erfassten Jahresabschreibungen den zukünftig erforderlichen Investitionsausgaben und die Rückstellungsaufwendungen der zukünftigen Veränderung der damit verbundenen Auszahlungen entsprechen und weder nennenswerte Erweiterungsinvestitionen in das Anlagevermögen oder Working Capital noch Desinvestitionen oder Fremdkapitalveränderungen anstehen, die alle das zukünftige Ausschüttungspotenzial tangieren. Diese Vernachlässigungen können aber zu einer erheblichen Fehleinschätzung der zukünftigen Unternehmenslage und der damit verbundenen, bewertungsrelevanten Cashflows führen.
Hinsichtlich des Gewinnmultiplikators ist darüber hinaus problematisch, dass ihn der Bilanzierende in starkem Maße bilanzpolitisch beeinflussen kann, was sich insbesondere an der Höhe der nicht auszahlungswirksamen Aufwandspositionen, wie den Abschreibungen und den Rückstellungsaufwendungen, zeigt, die in erheblichem Umfang durch die subjektiven Schätzungen des Managers beeinflusst werden. Auch hängt die Höhe des Jahresüberschusses ganz zentral von den Rechnungslegungsregeln (z.B. HGB, steuerliche Vorschriften, IFRS oder US-GAAP) ab, die vom Unternehmen angewandt wurden. So ist z.B. zu erwarten, dass sich ein nach den handelsrechtlichen Grundsätzen ordnungsmäßiger Bilanzierung ermittelter Jahresüberschuss deutlich von dem Gewinn unterscheidet, der für das gleiche Unternehmen und Geschäftsjahr aus der Anwendung der International Financial Reporting Standards (IFRS) resultiert.