Kitabı oku: «Simone de Beauvoir und der Feminismus», sayfa 6
Die Ablehnung der Ehe und, falls Ehe, das Recht auf wechselnde Sexualpartner für beide Seiten entspricht schon eher modernen Gepflogenheiten, auch wenn Beauvoir hier in eine Norm überführt, was Sartre zur Bedingung machte. An dem Intellektuellenpaar Sartre-Beauvoir, das zu leben schien, was es schrieb, haben sich mehrere Generationen nicht nur französischer Paare orientiert.138 Hat es den Frauen zur Emanzipation verholfen? Einige meinen, die Theorie hätte den Männern eher als Legitimation von Seitensprüngen gedient.139
Auf der Beauvoir-Konferenz zum 100. Geburtstag an der New York University wies Yvette Roudy, die erste Frauenministerin unter Mitterrand, darauf hin, dass Beauvoir bestimmte Themen in ihrem Buch nicht angeschnitten habe, weil sie damals noch nicht aktuell gewesen seien, wie Inzest, Exzision, sexuelle Nötigung, Pädophilie oder politische Parität.140 In der Frage der Klitorisbeschneidung hätte Beauvoir sicher nicht zu denjenigen gehört, die sich zurückhalten, weil sie die Menschenrechte als europäischen Partikularismus und ihre Geltendmachung als okzidentalen Imperialismus betrachten.141 Bei der politischen Parität, die in Frankreich die feministische Debatte der 1990er Jahre beherrschte, kann man sich schon eher die Frage stellen, wie sie votiert hätte. Während Sartre bis zu seinem Lebensende der Devise »Élections, piège à cons!« treu blieb,142 unterstützte Beauvoir nach Sartres Tod offiziell die sozialistische Partei und beriet Yvette Roudy. Aber hätte sie für die Grundgesetzänderung gestimmt, die vorsieht, dass die Parteien ebenso viele Frauen wie Männer zur Wahl aufstellen müssen? Viele Universalistinnen waren vehement dagegen, weil auf diese Weise die Geschlechterdifferenz in die Konstitution eingeschrieben wurde. Beauvoir wäre vielleicht pragmatisch vorgegangen wie die Historikerin Michelle Perrot, die prominenteste Vertreterin der feministischen Geschichtswissenschaft in Frankreich, die sich wie die Mehrheit der Historikerinnen und der Soziologinnen auf Beauvoirs Erbe beruft:143 Sie hätte für die Parität gestimmt, ohne damit zum Differenzfeminismus überzulaufen,144 und zu einer Revision und Historisierung des Begriffs der Universalität angeregt.145
Auch wenn Das andere Geschlecht in Frankreich wenig zitiert wird,146 ist Beauvoir allgegenwärtig, wenn es um Geschlechterfragen geht: Man definiert sich in ihrem Sinne oder gegen sie. Dieser Antagonismus zeigt sich in Paris auch und besonders in den Interventionen zweier Philosophinnen, die als Politikergattinnen eine hohe Medienpräsenz besitzen: Élisabeth Badinter, Ehefrau des Justizministers Robert Badinter, der unter Mitterrand die Todesstrafe abschaffte, und Sylviane Agacinski, Ehefrau des Premierministers Lionel Jospin, der die Grundgesetzänderung im Sinne der Parität dem damaligen Präsidenten der Republik Jacques Chirac vorschlug. Badinter versteht sich als Egalitaristin, die das Werk Beauvoirs fortsetzt – in ihrem ersten Buch vertiefte sie die von Beauvoir begonnene Entmythologisierung der Mutterliebe147 –, während Agacinski einen maternalistischen Essenzialismus ähnlich jenem Kristevas und Irigarays vertritt und Beauvoir gern als Kontrastfolie benutzt.148 In der Debatte um die Parität haben sie dezidiert und öffentlichkeitswirksam die konträren Positionen verteidigt, die zu ihren Prämissen passen.149 Auch in anderen Fragen, die zurzeit die französische Öffentlichkeit bewegen, haben sie sich zu Wort gemeldet. So sprach Sylviane Agacinski sich vehement gegen die »homoparentalité« (gleichgeschlechtliche Elternschaft) aus, während Badinter dafür stimmte. Agacinski argumentiert, die Menschheit sei »natürlicherweise heterosexuell« und nur angesichts eines »gemischten« Elternpaars erkenne das Kind seine eigenen Grenzen.150 Badinter behauptet, dass ein Kind sich bei guten homosexuellen Eltern besser entfalten könne als bei schlechten heterosexuellen.151 Auch in der aktuellen Debatte über Prostitution und Leihmutterschaft sind sie unterschiedlicher Meinung. Während Agacinski davor warnt, den Körper zu vermarkten, und Leihmutterschaft als Sklaverei betrachtet,152 plädiert Badinter dafür, dass jede Frau autonom über ihren Körper verfügen können soll.153 Die Debatten werden nicht nur in den Medien ausgetragen, sondern beide Philosophinnen sprechen auch als Expertinnen vor Senats- und Parlamentsausschüssen, so dass ihre Positionen unmittelbar Eingang in die Meinungsbildung der Mandatsträger und Mandatsträgerinnen bei Gesetzesinitiativen finden.154 Ob Badinter dabei wirklich immer genau den Geist Beauvoirs trifft, ist nicht ganz sicher.155
Sicher ist dagegen, dass dieser Geist in Frankreich absolut lebendig ist. Einige Themen des Anderen Geschlechts mögen überholt sein, aber der Text enthält Potenzial, das noch nicht ausgeschöpft wurde. Es lohnt sich daher für Genderforscherinnen, das Buch endlich zur Hand zu nehmen, aber auch für alle anderen ist die Lektüre ein Gewinn. Denn Das andere Geschlecht ist Teil der Vorgeschichte der prekären Freiheit, die zumindest in den Industrieländern viele Frauen heute errungen haben.156
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Vortrag auf dem Kolloquium »Feminisms Revisited« am 18. Februar 2010 an der Universität Freiburg i. Br., publiziert in den Akten (Freiburger Geschlechter Studien, Nr. 24 (2010)
4. Plädoyer für eine kritische Edition von Simone de Beauvoirs Anderem Geschlecht
Das andere Geschlecht ist zweifellos das meistzitierte Buch des modernen Feminismus, aber sind die 958 engbedruckten Seiten, die die zwei Bände der Erstausgabe umfassen, auch immer genau gelesen worden? Fünfzig Jahre nach der Erstpublikation erschien eine radikale Rückbesinnung auf den Text angebracht. Um die Bedingungen einer genauen und durchdringenden Lektüre zu schaffen, wurde für das Eichstätter Kolloquium im November 1999 jedes Kapitel dieses reichhaltigen und pluridisziplinären Werks avant la lettre einem Forscher oder einer Forscherin unterbreitet, der oder die besonders gut gerüstet war, um sich mit ihm zu befassen.157 Da Beauvoir schreibt, dass die Grundlage ihres »Essais über die Situation der Frau« eine »existenzialistische Moral« ist,158 musste zunächst an Philosophinnen appelliert werden. Sodann, für die Geschichte der Frauen, die sie von den Urhorden bis zu ihrer eigenen Gegenwart nachzeichnet, an Anthropologinnen und Historikerinnen. Weiterhin für den Mythos der Frau, wie Beauvoir ihn in der Geschichte der Menschheit und den Werken ihrer Zeitgenossen aufdeckt, an »Mythologinnen« oder Literaturwissenschaftlerinnen. Nachdem Beauvoir im 1. Band die Lebensbedingungen rekonstruiert hat, die andere – die Männer – für die Frauen festlegten, zeigt sie im 2. Band, wie diese Bedingungen von der Kindheit bis zum Alter subjektiv erlebt werden. Obwohl sie sich breit auf psychologische und psychoanalytische Arbeiten stützt, entfaltet sie eine Reflexion, die die gesellschaftliche und ökonomische Situation der Frauen berücksichtigt. Zum Erfassen dieser Reflexion waren Psychologinnen, Psychoanalytikerinnen und Soziologinnen nötig. Aber dies ist noch nicht alles. Am Beginn des 1. Bandes befindet sich eine Partie, die ich in meiner persönlichen Nomenklatur für dieses Werk den »Forschungsstand« nenne. Um die Unzulänglichkeit der Wissenschaften zu zeigen, die sich bis dahin mit der Frau beschäftigt hatten, und die Notwendigkeit ihres eigenen Ansatzes zu demonstrieren, der das Subjekt als einzige bedeutungsstiftende und Werte schaffende Instanz betrachtet, lässt Beauvoir die Biologie, die Psychoanalyse und den historischen Materialismus Revue passieren. Ich habe mich folglich an eine Biologin, eine Historikerin der Psychoanalyse159 und eine Spezialistin für Ideengeschichte gewandt.
So viel zur Pluralität der Disziplinen, die um Das andere Geschlecht versammelt waren. Was sollte der Kollege oder die Kollegin nun mit seinem oder ihrem Kapitel anfangen? Ich habe das Kolloquium »Plädoyer für eine kritische Edition des Anderen Geschlechts« genannt.160 Wie die Veranstaltung selbst verstehen sich die Akten als Appell für die Erarbeitung eines bestimmten Editionstyps. Antoine Gallimard erklärt uns die Funktion einer kritischen Edition am Beispiel der Reihe »Bibliothèque de la Pléiade«.161 Es geht zunächst darum, den Text auf der Grundlage der zuverlässigsten Dokumente zu etablieren. Wir wissen, dass die Abfassung und der Satz des Anderen Geschlechts in extremer Geschwindigkeit stattfanden und Beauvoirs Schrift mehr als unleserlich war. Es ist ebenfalls bekannt, dass Beauvoir nachlässig mit den Korrekturabzügen umging, was Sartre ihr gelegentlich vorhielt. Im April 1997 habe ich daher bei Mauricette Berne, die damals in der Pariser Nationalbibliothek für die Manuskripte Beauvoirs zuständig war, angefragt, ob es ein Manuskript des Anderen Geschlechts gebe. Sie antwortete mir am Telefon: »Ja, wir haben ein paar Stücke …« Einen Monat später war ich im Cabinet des manuscrits und stellte fest, dass es sich um ungefähr 600 Folios handelt, die in der Mehrzahl auf der Vorder- und Rückseite beschriftet sind. Sie umfassen zwar nicht das gesamte Werk, aber doch einen großen Teil.162 Im Juni fragte ich Catherine Viollet, die am Institut des textes et manuscrits modernes des CNRS arbeitet und mir von Almuth Grésillon als am Feminismus interessiert empfohlen wurde, ob sie sich nicht mit dem Manuskript befassen wolle, das sich in völlig ungeordnetem Zustand befand.163 Ich bat auch die Beiträgerinnen, sich ihr jeweiliges Kapitel anzusehen und den gedruckten Text mit dem Manuskript (und den in den Temps modernes vorveröffentlichten Texten) zu vergleichen.
Die Konsultation des Manuskripts erschien mir unverzichtbar nicht nur zur Textsicherung, sondern auch für eventuelle Aufschlüsse über die Genese des Anderen Geschlechts. Tatsächlich ist wenig bekannt über die Entstehung dieses für die Frauenemanzipation und die Kulturgeschichte der Geschlechter kapitalen Werks. Lange verfügte man nur über das, was Beauvoir selbst in ihrer Autobiografie dazu sagt; seit 1997 können allerdings auch ihre Briefe an Nelson Algren herangezogen werden, die sie während der Textabfassung schrieb und die im Hinblick auf die Werkgenese bisher kaum ausgewertet wurden. Allein schon für die Reihenfolge der Abfassung der einzelnen Teile gibt das Manuskript wichtige Hinweise, nicht zu sprechen vom Prozess des Schreibens und fehlerhaften Wörtern in der definitiven Edition, die äußerst zahlreich sein müssen und die nur ein Wort-für-Wort-Abgleich mit dem Manuskript ermitteln kann.164
Wenn ich von »Genese« spreche, denke ich nicht nur an das Manuskript. Der wichtigste Zweck des Kolloquiums bestand darin, Das andere Geschlecht innerhalb seiner Epoche zu verorten. Wenn es je Autoren und Autorinnen gab, die nicht an überzeitliche Wahrheiten glaubten, die das Schreiben als historisch situiert betrachteten, dann sind es Beauvoir und Sartre.165 Daher versteht man kaum, dass im überwiegenden Teil der Forschung über Das andere Geschlecht so wenig danach gefragt wird, wie es zum Zeitpunkt der Abfassung in der Geschichte der Mentalitäten und der Wissensdisziplinen oder der Geschichte schlechthin aussah, ein Zeitpunkt, der notwendigerweise Beauvoirs Wahrnehmung konditioniert und begrenzt, auch wenn sie in vieler Beziehung zweifellos dem Horizont ihrer Epoche voraus war. Um ein Beispiel zu geben: In letzter Zeit ist häufig zu hören, dass Beauvoir frauenfeindlich war, dass sie eine sehr negative Vorstellung vom weiblichen Körper hatte. Diese Behauptung könnte stimmen – unter der Bedingung, dass man nicht vergisst, wie die Gesellschaft in der Zwischenkriegszeit, in der Beauvoir ihre entscheidenden Erfahrungen machte, die Wahrnehmung des weiblichen Körpers formte, und sei es nur in der Weise, wie die Frauen ihre Monatsregel erlebten. Als ich in einem Interview Michelle Perrots eine Passage zu diesem Thema las,166 empfand ich sie als Bestätigung dessen, was ich selbst gedacht hatte und was banal sein könnte, wenn grundsätzlich die Historizität dieses Textes in Rechnung gestellt würde.
Die Verortung des Buches innerhalb seiner Epoche, die ich als Ziel des Kolloquiums vorgeschlagen habe, gilt für den gesamten Text, für jedes Kapitel. Die Beiträgerinnen wurden gebeten (um im Register von Gadamers Hermeneutik zu sprechen), die »Frage zu rekonstruieren« – oder die Fragen –, auf welche Das andere Geschlecht »die Antwort« war. Welche Position nimmt der Text auf den unterschiedlichen Gebieten zu dem ein, was andere gleichzeitig167 über dieselben Themen sagten? Wenn Beauvoir nach unserem Eindruck häufig ihrer Zeit voraus ist, war sie in den unterschiedlichen Disziplinen, die sie heranzieht, immer auf der Höhe des damaligen Forschungsstandes? Wenn bestimmte Indizien uns zeigen, dass sie versucht hat, auf dem letzten Stand zu sein – ich denke an die Doktorarbeit von Lévi-Strauss, die sie vor ihrer Publikation konsultierte, oder die (vergebliche) Kontaktaufnahme mit Lacan –, ist es ihr wirklich auf jedem Gebiet gelungen? Woher bezieht sie ihr Wissen? Ihr Hang dazu, alles restlos zu durchforsten, für den sie zu Recht berühmt ist, hat er überall gegriffen? Oder gibt es wichtige Elemente, die ihr entgangen sind oder die sie mit Absicht nicht berücksichtigt hat, um die Kohärenz ihres Ansatzes nicht zu gefährden? Welches sind in diesem auf die Schnelle verfassten Werk die Quellen, die sie benutzt, aber nicht nennt? Und wie hat sie das Wissen und die ihr zur Verfügung stehenden Informationen in ihr existenzialistisches Dispositiv eingebaut, das zum Teil marxistisch aktualisiert wurde168? In welchem Maße hat sie eventuell ihre Quellen remodelliert, um sie an ihre Art zu denken anzupassen? Und welche Themen hat sie ausgelassen, die man in einem Buch wie dem ihren hätte erwarten können? Sagt sie nicht in ihrer Autobiografie oder in ihren Briefen an Algren, dass das Terrain derartig umfassend war, dass sie mit Gewalt aufhören musste zu schreiben, sonst hätte sie ihr Buch nie fertigstellen können169?
Dieses waren die Fragen, die ich im Herbst 1999 den (vor allem aus Frankreich kommenden) Forscherinnen gestellt habe, die sich in einer ehemaligen bischöflichen Residenz versammelt hatten (der Stiefsohn Napoleons hatte die Wände mit in Paris bestellten Wandteppichen ausgestattet, um sich etwas heimisch zu fühlen170). Jede der Beiträgerinnen ist auf ganz persönliche Weise meinen Anregungen gefolgt, wie man sich denken kann. Ein Resümee der 33 Beiträge zu geben ist unmöglich: Ihre Lektüre ist unverzichtbar! Häufig hat Beauvoir schlechte Noten bekommen, und manchmal konnte man sich fragen, ob ihr nicht Unrecht widerfuhr, wenn man sie dort mit Spezialistinnen konfrontierte, wo sie versuchte, eilig, wie sie es hatte, das Wesentliche für ihr Thema in Disziplinen zu erfassen, die sie größtenteils als Dilettantin angehen musste. Aber egal! Hätte sie nicht selbst gesagt, dass die Wahrheit immer nützt? Wenn sie ihre existenzialistischen Prämissen auf die Tierwelt projiziert, wenn sie von der Psychoanalyse eine Vorstellung hat, die wenig zutrifft,171 wenn sie aus der Geschichte eine große Erzählung macht und nicht weiß, was Quellenkritik ist, bescheinigt man ihr nicht gleichzeitig, dass sie trotz ihrer Irrtümer ein Bild von schlagender Evidenz gezeichnet hat? Musste sie nicht auf Nuancen verzichten, damit ihre Worte die außerordentliche Wirkung hatten, die wir kennen? Und wie innovatorisch sie war! Man braucht nicht vom Konzept »Frau« zu sprechen, das sie als »von der Kultur elaboriertes Produkt« bezeichnet zu einem Zeitpunkt, als für die große Mehrheit die Natur noch absolut unveränderlich war. Aber die verkannte Theoretikerin ist die Erste, die die in der ersten Nummer der Temps modernes umrissene »synthetische Anthropologie« praktiziert; als Phänomenologin wendet sie ihren Ansatz radikal auf den menschlichen Körper an, ohne vor Tabus haltzumachen;172 als Mythologin nimmt sie nicht nur den (frühen) Roland Barthes vorweg, sondern erfindet die feministische Literaturkritik vor den Literaturwissenschaftlerinnen der 1970er und 1980er Jahre. Nachdem der Skandal der Erstrezeption vorbei ist, sind ihre Thesen so selbstverständlich, dass man ihren Ursprung vergisst.173 »It was a revelation, how could it have been a source?«, antwortete Kate Millett, die im November 1999 unter uns war, um zu erklären, dass trotz des enormen Einflusses des Anderen Geschlechts auf sie selbst und andere Beauvoir und ihr Werk so wenig als Referenz zitiert werden …174
Heute hat Das andere Geschlecht seinen Status als Offenbarung, als vom Himmel gefallene absolute Wahrheit verloren. Der gute Ton und die Karrierestrategie in den Universitäten verlangen in vielen Ländern, dass man sich über Beauvoir als altes Eisen lustig macht. Einige versuchen dagegen, sie auf fragwürdige Weise satisfaktionsfähig zu machen, indem sie ihr poststrukturalistische Perspektiven avant la lettre unterstellen.175 Im Gegensatz zu Projektionen und schnellen Urteilen soll hier, wie gesagt, für eine genaue, historisch situierende Lektüre des vollständigen Textes plädiert werden, wobei die Situation nur in einer kritischen Ausgabe wirklich wiederhergestellt werden kann. Mit ihren Einleitungen, Chronologien, Werknotizen, Anmerkungen und Varianten176 erleichtern diese Editionen, um nochmals Antoine Gallimard zu zitieren, »den Zugang zu den Werken, die die Zeit oder die Distanz manchmal von uns entfernt haben«. Das Kolloquium wollte den Weg in dieser Richtung ebnen. Es hätte seinen Zweck voll erfüllt, wenn Beauvoirs Buch vor dem 100. Jahrestag seiner Erstveröffentlichung die editorische Aufmerksamkeit erhielte, die ihm gebührt.
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