Kitabı oku: «Engelchen...», sayfa 3
„Nein, nicht Tante Gerda. Ich habe eine viel bessere Idee.“
7.
Sandro Ettl wachte auf und sah auf die Uhr: 4.32. Draußen dämmerte es bereits und die ersten Vögel sangen laut. Sandro sah neben sich auf den jungen Körper Elenas. Was hatte er nur getan? Er spürte schon lange, dass die gebürtige Russin hinter ihm her war, die Zeichen waren nicht zu übersehen. Bisher konnte er sich ihren Reizen entziehen, aber seit Maja nicht mehr im Haus war, konnte er der Versuchung nicht mehr widerstehen. Maja! Seine Mutter kam gestern nach vielen Jahren in sein Haus, um ihm mitzuteilen, dass seine Frau aus der Klinik abgehauen war. Was war los mit Maja? Und wo war sie? Gestern Abend hatte er keine Zeit gehabt, sich Sorgen um seine Frau zu machen, Elena hatte ihn zu sehr abgelenkt. Sie war sehr geschickt darin, sich in den Mittelpunkt zu drängen und ihn auf andere Gedanken zu bringen. Stimmte es tatsächlich, dass er zu labil und leicht zu beeinflussen war? Das hielt ihm seine Frau zumindest seit Jahren vor. War es seine Schuld, dass er nicht stark genug war und nicht die Kraft hatte, sich zu wehren? Er hasste jegliche Form von Streit. Er gab gerne und schnell nach und zog es vor, lieber zu gehen, als sich mit einer stärkeren Person auseinanderzusetzen. Und in seinen Augen waren alle stärker als er. Wo war Maja? Ging es ihr gut? Lag sie vielleicht bereits irgendwo im Straßengraben? Verletzt? Tot?
Panik stieg in ihm auf.
Elena wachte auf. Was war mit Sandro? Sie sah in seine Augen und spürte die Angst, die sie nicht zulassen konnte. Sie hatte versprochen, sich um Sandro zu kümmern, damit er keine Dummheiten machte. Auch dafür bekam sie Geld, sehr viel Geld. Ja, sie hatte sich kaufen lassen, was ihr nicht schwerfiel. Was Maja betraf, brauchte sie nur die Medikamente ins Essen zu mischen, das war leicht. Kurz bevor Maja abgeholt wurde, legte sie Medikamente ins Schlafzimmer, auch das war leicht. Noch bevor es Maja schlecht ging, hatte sie sich an Sandro rangemacht. Aber der reagierte nicht. Es lag auf der Hand, dass er Angst vor seiner Frau hatte. Auch als es Maja bereits schlecht ging und sie nur noch schlief, wehrte sich Sandro gegen jede Annäherung ihrerseits. Erst, als Maja abgeholt wurde und sie mit ihm allein im Haus war, war er Wachs in ihren Händen. Sandro war ein sehr attraktiver Mann. Er war zwar nicht der Hellste und entsprach nicht dem Bild eines Mannes, den sie sich vorstellte, aber sie hätte es sehr viel schlimmer treffen können. Seit sie allein im Haus waren, verbrachten sie sehr viel Zeit zusammen und Sandro fraß ihr aus der Hand. Sie konnte ihn so leicht um den Finger wickeln, mit Männern hatte sie schon immer leichtes Spiel gehabt. Vor zwei Monaten feierte sie ihren 29. Geburtstag und sie hatte noch nichts von ihrer Schönheit eingebüßt. Seit Maja weg war, hatte sie einen guten Job gemacht. Sandro kam nur selten auf die Idee, sich um seine Frau zu kümmern.
Der Blick in seinen Augen gefiel ihr nicht. Er machte sich Sorgen, das durfte sie nicht zulassen. Normalerweise duschte sie, bevor sie mit einem Mann intim wurde, aber dafür war jetzt keine Zeit. Sie musste Sandro auf andere Gedanken bringen.
Als er nach knapp zwei Stunden schlafend neben ihr lag, lächelte sie zufrieden. Sie machte einen sehr guten Job, der sehr viel besser bezahlt sein müsste.
Sie nahm ihr Handy vom Nachttisch und ging ins Bad.
„Sandro beginnt, sich um seine Frau zu sorgen,“ sagte sie. „Ich fürchte, er könnte Dummheiten machen.“
„Dann sorge dafür, dass er das nicht macht. Wofür bezahle ich dich?“
„Stimmt es, dass Maja aus der Klinik abgehauen ist?“
„Ja.“
„Wenn herauskommt, dass ich ihr die Medikamente verabreicht habe, bin ich dran.“
„Das wird niemand erfahren. Nur du und ich wissen davon.“
„Ich finde, wir sollten uns über eine Gehaltserhöhung unterhalten.“
„Treib es nicht auf die Spitze Elena. Vergiss nicht, dass ich einiges von dir weiß. Ich werde nicht zögern, mein Wissen an richtiger Stelle einzusetzen.“
„Ich verstehe. Einen Versuch war es wert.“
„Du geldgeile Schlange! Reiz mich nicht, sonst werde ich sehr unangenehm. Dein Job wird großzügig vergütet und du warst einverstanden. Belästige mich nicht mehr mit deinen Forderungen und kümmere dich um Sandro.“
Elena legte auf. Ja, sie hatte eine dunkle Vergangenheit, über die sie nicht gerne sprach. Sie hatte zwei Jahre lang in einem Bordell in Traunstein gearbeitet. Sie hatte damals einen schlechten Umgang und war abgerutscht. Als ihre Eltern davon erfuhren, waren sie außer sich. Ihr Vater und ihre Brüder hatten sie zusammen mit Freunden aus dem Bordell gezerrt. Mit ihrem Arbeitgeber gab es eine wilde Schlägerei, die nicht für alle glimpflich ausging. Aber sie kam frei, die Hintergründe waren ihr bis heute nicht bekannt. Ihr Vater hatte die Sache für sie geregelt. Sie hatte ihren Schulabschluss nachgeholt und verdiente sich jetzt als Kindermädchen etwas dazu, bevor sie für ein Jahr ins Ausland gehen konnte. Sie bekam eine Stelle als Au-pair-Mädchen in den USA, um dort die Sprache zu lernen. Ihre Eltern waren sehr ehrgeizig und wollten, dass aus ihren Kindern etwas wird. Ja, sie war nicht scharf darauf, die alten Geschichten aufzuwärmen. Allerdings hatte sie auch kein Interesse daran, sich auch noch im nächsten Jahr um fremde Kinder zu kümmern. Sie wollte nicht nach Amerika. Sie wollte ihr Leben genießen und in Deutschland bleiben.
Sie würde nicht mehr Geld bekommen, das war ihr klar. Wie weit würde sie damit über die Runden kommen? Nicht lange, das Geld floss ihr nur so durch die Finger. Wie konnte sie ihre Situation ändern? Sie war in einer sehr guten Position, Sandro fraß ihr aus der Hand. Warum sollte sie ihn nicht so weit an sich binden, dass sie irgendwann die Stelle Majas einnehmen könnte? Sie sollte so schnell wie möglich von ihm schwanger werden. Ja! Das war die Lösung. Sie nahm nicht nur das Geld für diesen außergewöhnlichen Job, sondern würde sich Sandro schnappen. Wer sollte sie daran hindern?
8.
Der 52-jährige Dr. Bodo Salzberger hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan. Er machte sich keine Sorgen um seine Patientin, sie war schließlich aus freien Stücken abgehauen. Er machte sich vielmehr Sorgen um die erste Rate seiner Bezahlung, die er längst ausgegeben hatte. Auch die nächste Zahlung war bereits verplant. Er saß mit einem Becher Kaffee auf der Terrasse seines Hauses, von wo aus er einen phantastischen Blick über den Chiemsee hatte. Wie lange noch? Das Haus war bis unters Dach verschuldet und sein Bankberater hatte bereits Andeutungen gemacht, dass es Interessenten für sein Anwesen gab. Dr. Salzberger genoss trotz aller Sorgen und düsteren Gedanken den Sonnenaufgang. Was für ein Naturspektakel! So bekam er den Kopf frei.
Dann klingelte das Telefon und er schreckte zusammen, als er die Nummer erkannte.
„Ist sie zuhause aufgetaucht?“, fragte er sofort ohne Gruß.
„Nein.“
„Verdammt! Die Polizei hat auch noch keine Spur von ihr.“
„Haben Sie einen Vorschlag, wie wir weiter vorgehen?“
„Heute kommt Dr. Aicher. Ich habe es vorgezogen, ihm nicht abzusagen.“
„Was soll das bringen?“
„Ich werde die Krankenakte zu unseren Gunsten nochmals überarbeiten. Die angeblichen Untersuchungen und Medikamente, gepaart mit dem Verschwinden der Patientin, könnten für uns von Vorteil sein. Natürlich bekommen wir ohne die Patientin kein Gutachten, das ist klar. Allerdings wäre eine persönliche Einschätzung von Dr. Aicher sehr günstig für die weitere Vorgehensweise. Natürlich brauchen wir die schriftlich.“
„Gut. Veranlassen Sie das.“
„Das wird nicht einfach werden, aber ich werde mich bemühen.“
„Kriegen Sie das irgendwie hin, schließlich ist Maja aus Ihrer Obhut verschwunden. Nächste Woche ist der Termin. Bis dahin muss alles hieb- und stichfest sein.“
Dr. Salzberger durfte keine Zeit mehr verlieren. Dr. Aicher hatte sich für 10.00 Uhr angekündigt. Er parkte seinen Wagen neben dem Eingang der Klinik und ging ohne Gruß in sein Büro. Schwester Silke sah ihrem Chef hinterher. Natürlich hatte sie Verständnis für seine schlechte Laune, aber sie konnte schließlich nichts für das Verschwinden der Patientin. Nie im Leben hätte sie geglaubt, dass diese eine Flucht physisch schaffen würde. Wie groß mag die Angst der Patientin gewesen sein, um diese Strapazen auf sich zu nehmen?
Dr. Salzberger nahm sofort die Akte Ettl an sich und manipulierte sie nochmals so geschickt, dass Dr. Aicher nur auf einen Schluss kommen konnte: Maja Ettl war psychisch krank und gehörte in stationäre Behandlung. Kurz vor 10.00 Uhr war Dr. Salzberger fertig und wartete.
Pünktlich klopfte Dr. Aicher an die Tür. Der Spezialist war dafür bekannt, wortkarg, fast unfreundlich Kollegen gegenüber aufzutreten. Deshalb wunderte sich Dr. Salzberger auch nicht über dessen Art.
„Führen Sie mich zur Patientin Ettl,“ sagte Dr. Aicher ohne Umschweife.
„Die Patientin ist heute Nacht verschwunden,“ log Dr. Salzberger. Er konnte ihm nicht sagen, dass Maja Ettl bereits seit gestern Mittag abgängig war. Wie sollte er ihm erklären, dass er den heutigen Termin nicht abgesagt hatte, wofür noch genügend Zeit gewesen wäre?
„Sie ist verschwunden? Abgehauen?“ Dr. Aicher sah seinen Kollegen mit großen Augen an. Salzberger nickte nur. „Die Krankenakte bitte.“
Ohne Umschweife reichte er Dr. Aicher die Krankenakte. Er beobachtete ihn beim Lesen, wobei er sich ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte. Der Mann reagierte so, wie er es erwartet hatte.
„Wie hat die Frau es geschafft, unter Einfluss der Medikamente die Klinik zu verlassen?“
„Vermutlich hat sie nicht alle eingenommen und die Pflegekraft getäuscht. Anders kann ich mir das auch nicht erklären.“
„Davon müssen wir ausgehen,“ sagte Dr. Aicher. „Kann ich mit der Pflegekraft sprechen, die für die Patientin verantwortlich war?“
Verdammt! Damit hatte Dr. Salzberger nicht gerechnet. Er hätte Schwester Silke instruieren müssen. Sie war nicht vorbereitet und würde alles verderben. Dr. Salzberger tippte ohne Sinn auf seiner Computer-Tastatur herum.
„Das tut mir leid. Schwester Silke hat frei. Sie kommt erst zur Nachmittagsschicht um 16.30 Uhr.“ Würde Dr. Aicher diese Ausrede schlucken? Es folgte eine lange Pause.
„So lange kann ich nicht warten,“ sagte Dr. Aicher schließlich und gab die Patientenunterlagen zurück. „Dann war ich umsonst hier.“
„Nicht ganz. Darf ich um eine Einschätzung bitten?“
„Ohne die Patientin gesehen zu haben?“
„Es geht nur um eine Meinung aufgrund der Patientenakte. Vielleicht verstehen Sie, dass ich im vorliegenden Fall einen Haftungsanspruch der Familie erwarte.“
„Sie wollen eine Absolution von mir? Eine Bestätigung, dass Sie die Patientin richtig behandelt haben?“
„So in etwa. Sie wissen ja, wie die Familie in solchen Fällen reagiert. Gibt man zu viele Medikamente, bekommt man Ärger. Gibt man zu wenig, ist es ähnlich. Jetzt weiß ich auch, dass ich die Patientin ans Bett hätte fixieren müssen, aber hinterher ist man immer schlauer. Ich fixiere nicht gerne, das gibt immer Ärger.“
„Kann ich bestätigen,“ sagte Dr. Aicher, der in der Vergangenheit mit heftigster Kritik von Familienangehörigen und Kollegen zu tun hatte. Auch er scheute sich davor, Patienten ans Bett zu fixieren. „Vorausgesetzt, dass die Angaben in der Patientenakte der Richtigkeit entsprechen, kann ich kein Fehlverhalten Ihrerseits feststellen. Ich wäre ähnlich vorgegangen. Außerdem besteht immer ein Restrisiko, das wir Ärzte und auch das Pflegepersonal nicht ausschalten können. Wenn ein Patient unbedingt die Klinik verlassen möchte, findet er einen Weg.“ Dr. Aicher wusste auch in diesem Punkt, wovon er sprach.
„Würden Sie mir das schriftlich geben? Ich sehe eine Flut von Vorwürfen auf mich zukommen und würde mich mit einer Einschätzung von Ihnen sehr viel wohler fühlen.“
„Gut. Aber Sie versichern mir, dass damit kein Missbrauch getrieben wird. Das ist kein Gutachten und darf als solches nicht verwendet werden. Die wenigen Worte sind nur für den Fall bestimmt, wenn die Angehörigen Ärger machen sollten und Ihnen Vorwürfe gemacht werden.“
„Selbstverständlich.“
Dr. Aicher konnte die Argumente seines Kollegen sehr gut nachvollziehen. Er zog einen Notizblock aus seiner Mappe und brachte mit schwungvoller Schrift einige Sätze aufs Papier. Er bemühte sich, sachlich zu bleiben, denn auf Klagen von Familienangehörigen konnte er auch sehr emotional, fast beleidigt reagieren. Er übergab Dr. Salzberger das Blatt und verabschiedete sich.
Dr. Salzberger konnte es kaum erwarten, bis sein Besuch endlich verschwunden war. Jetzt las er das Geschriebene. Er war zufrieden und erleichtert. Das war genau das, was er haben wollte und das ihm die nächste Zahlung garantierte.
„Ich habe eine Einschätzung Dr. Aichers. Mit der können wir auch ohne die Patientin punkten,“ sagte Dr. Salzberger, nachdem er die ihm bekannte Telefonnummer gewählt hatte.
„Gut. Der Termin beim Jugendamt Mühldorf ist nächste Woche Mittwoch, 17. August um 10.30 Uhr. Ich zähle auf Sie.“
„Ich werde da sein. Wie sieht es mit der Zahlung aus?“
„Wie vereinbart, bringe ich das Honorar in bar mit. Sofort nach dem Termin bekommen Sie Ihr Geld.“
Dr. Salzberger war euphorisch und fühlte sich gut, obwohl er die letzte Nacht nicht geschlafen hatte. Das war egal. Sollte er Schwester Silke instruieren, falls doch noch Nachfragen bezüglich der Patientin Ettl kämen? Nein, das war zu weit hergeholt.
Dr. Aicher war ein vielbeschäftigter Mann, für den der Fall ganz sicher beendet war.
Er sah auf die Uhr. Kurz vor Mittag. Ein Essen im Clubrestaurant des Golfplatzes wäre jetzt genau das Richtige.
Schwester Silke sah dem Chef hinterher, der nun bester Laune war. Wo war die erwartete Standpauke? Wurde überhaupt die Polizei benachrichtigt? Da stimmte doch etwas nicht! Sie nahm sich vor, sich die Akte Ettl genauer anzusehen, sobald sie die Zeit dafür fand.
9.
Die 63-jährige Christine Künstle hatte den Ausführungen ihres Freundes und ehemaligem Kollegen Leo Schwartz endlich zugehört, nachdem er sie aus dem Schlaf geweckt hatte und sie anfangs kein Wort verstand.
„Ich soll das Kindermädchen für eine durchgeknallte Frau spielen?“ sagte sie überrascht.
„Maja Ettl ist nicht durchgeknallt, davon ist zumindest Hans überzeugt. Ich kenne die Frau nicht persönlich, vertraue aber seiner Einschätzung. Wir müssen Frau Ettl aus der Schusslinie bringen und Erkundigungen einholen. Außerdem läuft eine Fahndung nach der Frau. Du verstehst sicher, dass wir sie nicht allein lassen wollen,“ erklärte Leo mit Engelsgeduld. Er brauchte Christine. Sie war eine der wenigen Personen, der er blind vertraute. „Frau Ettl hat die Medikamentenliste ihrer Krankenakte mitgehen lassen. Du kannst dir vorstellen, dass wir kein Wort verstehen. Du wärst genau die Richtige für den Job. Hast du Zeit und Lust, uns zu helfen?“
„Zeit habe ich jede Menge, das ist nicht das Problem,“ sagte Christine, die sich tatsächlich langweilte und nach ihrer Pensionierung oft nicht wusste, was sie mit ihrer freien Zeit anfangen sollte. Natürlich hielt sie als Pathologin noch Vorträge und half aus, wenn in der Ulmer Pathologie Not am Mann war. Trotzdem hatte sie noch viel zu viel Zeit übrig, mit der sie nichts anfangen konnte. Das mit der Medikamentenliste war sehr interessant. Ihre Neugier war geweckt.
„Ich verstehe. Du brauchst jemanden, der medizinischen Sachverstand hat und der die Verrückte in Schach halten kann. In welcher Klinik war sie?“
„Bei Dr. Salzberger am Chiemsee.“
„Dr. Salzberger? Warum sagst du das nicht gleich? Der Mann ist ein unsympathischer Mensch, der keine andere Meinung außer seiner gelten lässt und alles besser weiß. Außerdem sind seine Behandlungsmethoden von vorgestern und sein lockerer Griff zu Medikamenten ist legendär. Ich bin unterwegs.“
„Treffen wir uns vor dem Modehaus Mollenkopf am Mühldorfer Stadtplatz?“
„Warum? Ich verstehe nicht…“
„Die Sache ist nicht offiziell. Bevor wir mit dem Chef sprechen, müssen wir uns erst vergewissern, was an der Sache dran ist. Bis dahin wollen wir Frau Ettl sicher unterbringen. Ich dachte an Tatjanas Wohnung.“
„Nicht schon wieder einer deiner Alleingänge! Hast du dir das gut überlegt?“
„Es geht leider nicht anders. Kann ich auf dich zählen? Ich bitte dich, Christine. Hans und ich brauchen dich!“
„Ich rufe dich an, wenn ich in Mühldorf bin.“
Christine hatte nach einer halben Stunde alles im Wagen verstaut und fuhr los. Was hatte Leo denn jetzt wieder vor? Zum einen war sie enttäuscht von ihm, denn sie kannte seinen Chef Rudolf Krohmer sehr gut und schätzte ihn. Warum sagte er ihm nicht die Wahrheit? Warum diese Geheimniskrämerei? Dr. Salzberger! Mit diesem Kotzbrocken hatte sie schon persönlich zu tun gehabt. Sie war damals schon davon überzeugt, dass er viel zu lasch und großzügig mit Medikamenten umging, konnte ihm das aber nicht beweisen. Vielleicht hatte sie jetzt die Chance, ihn dranzukriegen. Sie hoffte inständig, dass diese Maja nicht verrückt und vor allem nicht gefährlich war. Zur Sicherheit hatte sie Beruhigungsmittel eingepackt, die sie in null Komma nichts außer Gefecht setzen würden. Angst hatte Christine keine, aber sie mochte keine Probleme.
„Christine um Hilfe zu bitten war eine sehr gute Idee. Sie ist genau die Richtige dafür,“ sagte Hans, der die eigenwillige Ulmer Pathologin sehr mochte. „Du willst Maja in Tatjanas Wohnung unterbringen? Einfach so? Sollten wir Tatjana nicht um Erlaubnis bitten?“ Tatjana Struck war während ihres letzten Falles schwer verletzt worden und lag in einer Frankfurter Klinik. Ihr ging es zwar schon sehr viel besser, aber es war noch lange nicht sicher, wie der Genesungsprozess weiter verlief. Klar war Tatjanas Wohnung seither unbewohnt und sie wussten, dass der Ersatzschlüssel in ihrem Schreibtisch lag. Aber die Wohnung benutzen, ohne sie zu fragen? Das ging für Hans nicht.
„Glaubst du wirklich, dass Tatjana keine anderen Sorgen hat? Ich möchte sie damit nicht belästigen. Außerdem ist es besser, wenn so Wenige wie möglich wissen, wo sich Maja Ettl aufhält. Sie soll sich sicher fühlen und dafür müssen wir sorgen. Es geht doch nur um zwei, vielleicht drei Tage. Ich verspreche dir, dass ich Tatjana alles erkläre. Glaub mir, sie nimmt das locker.“
„Gut, wie du willst. Wann ist Christine hier?“
„Ich schätze, dass sie zwischen 8.00 Uhr und 9.00 Uhr in Mühldorf ist. Ich bringe sie und Frau Ettl in Tatjanas Wohnung. Ich fahre gleich los und hole den Schlüssel aus ihrem Schreibtisch. Außerdem besorge ich Lebensmittel und Waschartikel.“
Leo war kurz nach halb acht wieder bei Hans. Er hatte den Schlüssel aus Tatjanas Schreibtisch entnommen und der Kofferraum war voller Einkaufstüten. Nach wenigen Minuten tauchte Maja Ettl auf. Sie sah Leo erschrocken an.
„Das ist mein Kollege und Freund Leo Schwartz. Er wird uns helfen. Wir haben eine Wohnung organisiert, in der du sicher bist. Außerdem passt eine sehr gute Freundin auf dich auf. Ich muss los.“
„Wo willst du hin?“
„Zur Arbeit. Ich habe einen Job.“
„Du kannst mich doch hier nicht mit einem Fremden zurücklassen!“ Maja war erschrocken. Der Fremde starrte sie nicht nur an, sondern musterte sie von oben bis unten.
„Leo ist kein Fremder. Er will dir helfen und lehnt sich wegen dir sehr weit aus dem Fenster. Du brauchst keine Angst zu haben, du bist bei ihm in guten Händen.“ Hans fuhr los und war irritiert. Warum reagierte Maja so extrem auf Leo? Was war los mit ihr? So kannte er die lebenslustige Frau nicht.
„Setzen Sie sich und trinken Sie eine Tasse Kaffee,“ sagte Leo so freundlich wie möglich. Die Frau hatte Angst vor ihm, das war klar. Er konnte sie verstehen. Sie musste sich einem Fremden anvertrauen. Und in Kürze kam eine weitere Person hinzu. Die beiden schwiegen. Leo hatte keine Ahnung, was er sagen sollte. Von Hans hatte er die ganze Geschichte bereits gehört. Sie nochmals von ihr zu hören, war überflüssig. Und Smalltalk war nicht sein Ding. Wenn er nichts zu sagen hatte, blieb er lieber ruhig.
Das Klingeln von Leos Handy durchdrang die Stille. Maja zuckte merklich zusammen.
„Ich bin gleich am Mühldorfer Stadtplatz. Wir sehen uns,“ sagte Christine und legte auf. Die Fahrt war nervenaufreibend gewesen, da sie direkt im Berufsverkehr landete. Die B12 war voller Lkw, Überholen war zwecklos. Am meisten hatte sie sich über die riskante Fahrweise einiger Fahrer aufgeregt, die es offensichtlich darauf angelegt hatten, Unfälle zu provozieren. Aber jetzt war sie endlich angekommen. Sie freute sich auf Leo und auf die Aufgabe, die er ihr übertrug. Nur noch eine Kurve und sie war auf dem Stadtplatz, auf dem um die Uhrzeit noch nicht viel los war. Sie parkte direkt vor Mode-Mollenkopf – das Geschäft hatte sie einem Fall kennenlernen dürfen. Sie musste schmunzeln, als sie ihren Wagen abstellte und direkt in die Auslage des Modegeschäftes blickte. Wie es dem alten Mollenkopf wohl ging?
Leo fuhr mit Maja zum Stadtplatz. Unterwegs klärte er sie über Christine auf und schilderte sie in allen Farben.
Maja war skeptisch. Es war offensichtlich, dass der Polizist mit der Unbekannten gut befreundet war und sie sehr mochte. Aber für sie waren das Fremde, denen sie nun ausgeliefert war und vertrauen musste. Eine Situation, die ihr nicht gefiel. Aber sie hatte keine andere Wahl.
Maja beobachtete, wie sich die beiden in die Arme fielen. Die Frau hatte zwei Taschen bei sich, die Leo auf den Rücksitz seines Wagens legte. Daneben stieg die Fremde ein. Maja wusste nicht, dass Leo seine Freundin bereits instruiert hatte.
„Maja Ettl hat große Angst. Behandle sie bitte wie ein rohes Ei und sei gut zu ihr.“
„Du kannst mir nichts vormachen,“ sagte Christine. „Du magst die Frau nicht.“
„Kann sein. Aber Hans mag sie, das reicht mir.“
„Wo ist die Medikamentenliste?“
Leo musste lachen. So kannte er Christine. Sie war direkt und kam immer sofort auf den Punkt. Er übergab ihr die Liste, die sie noch an Ort und Stelle überflog.
„Du lieber Himmel! Damit setzt du einen Elefanten außer Gefecht,“ rief sie und steckte den Zettel in ihre Jackentasche. Sie freute sich insgeheim, denn damit konnte sie Dr. Salzberger richtig Ärger bereiten.
„Was geschieht mit meinem Wagen? Ich kann mein Schätzchen doch nicht tagelang unbeaufsichtigt hier stehen lassen?“
„Gib mir den Schlüssel, ich kümmere mich darum.“
Christine stieg in Leos Wagen, wobei sie sich nicht vorstellte. Das hatte Zeit. Sie musste der Frau in aller Ruhe auf den Zahn fühlen.
Leo fuhr in die Tiefgarage des noblen Wohnhauses, in dem Tatjana vor über einem halben Jahr eine Wohnung gekauft hatte. Sie fuhren mit dem Lift in die zweite Etage und betraten die riesige Wohnung. Während Leo die Lebensmittel und Drogerieartikel verstaute, sah sich Christine um. Maja saß auf der Couch und sagte kein Wort.
„Kann ich euch beide allein lassen?“
„Geh nur. Wir werden klarkommen.“
Christine setzte sich Maja gegenüber und sah sie lange an.
„Erzählen Sie mir Ihre Geschichte,“ forderte sie Maja auf.
Sie begann zögerlich und umständlich. Je mehr sie erzählte, desto flüssiger und ausführlicher wurden ihre Ausführungen. Christine hörte aufmerksam zu und unterbrach sie nicht. Dann war Maja fertig.
„Ich habe die Medikamentenliste gesehen. Wurde Ihnen bereits eine Blutprobe abgenommen?“
„Vielleicht in der Klinik? Ich weiß es nicht.“
„Beruhigen Sie sich. Ich werde ihnen Blut abnehmen und eine Analyse beantragen. Leider ist sehr viel Zeit vergangen. Vielleicht haben wir Glück und man kann in Ihrem Blut noch das eine oder andere nachweisen.“
„Sie haben doch die Liste. Reicht das nicht?“
„Dr. Salzberger wird versuchen, sich aus der Affäre zu ziehen. Er wird vermutlich behaupten, dass Sie die Liste manipuliert haben. Ich kenne solche Typen. Bei denen muss man mit allem rechnen. Wir müssen mit Tatsachen und Beweisen aufwarten, aus denen er sich nicht herausreden kann. Machen Sie den Arm frei.“ Christine holte ihre Tasche, derweil hatte Maja ihren Ärmel hochgekrempelt. Bei dem Nadelpieks zuckte Maja.
„Ich muss mich entschuldigen. Ich bin Pathologin und meine Patienten sind normalerweise nicht schmerzempfindlich,“ lachte Christine und zog die Nadel wieder aus Majas Arm. Nun musste sogar Maja schmunzeln. Diese Christine hatte einen rabenschwarzen Humor, aber auch einen scharfen Verstand. Sie begann, die ruppige Frau zwar nicht zu mögen, sich aber bei ihr sicher zu fühlen.
Leo betrat das Besprechungszimmer der Mühldorfer Kriminalpolizei. Krohmer, Hans und Werner Grössert waren gerade im Begriff aufzustehen.
„Guten Morgen Herr Schwartz. Wie geht es Ihrem Backenzahn?“, rief ihm Krohmer entgegen. Hans sah ihn flehend an und Leo verstand.
„Passt schon. Entschuldigen Sie die Verspätung,“ sagte Leo und setzte sich. „Liegt irgendetwas an?“
„Nein, zum Glück nicht, sonst müsste ich mich um Ersatz für Frau Struck bemühen. Momentan ist es sehr ruhig und dadurch haben wir genug Zeit, die wir für andere, liegengebliebene Dinge sinnvoll nutzen können. Ich habe eben ausführlich geschildert, dass alte Fälle dringend überarbeitet werden müssen, bevor sie endgültig im Archiv verschwinden.“
Leo stöhnte. Das hatte gerade noch gefehlt. Das war eine stumpfsinnige Arbeit, bei der sowieso nichts rauskam.
„Wir haben eben von Krohmer erfahren, dass es Tatjana besser geht,“ sagte Werner, der Schreibarbeit keineswegs als lästig empfand.
„Sehr schön, das freut mich,“ sagte Leo, der längst über Tatjanas Gesundheitszustand informiert war. Auch Hans und Werner wurden von Tatjanas Mutter auf dem Laufenden gehalten. Alle drei hatten Tatjana vor zwei Wochen in Frankfurt besucht und dabei die Mutter kennengelernt. Eine sehr feine Dame, die optisch überhaupt nicht zu dem mürrischen, grobschlächtigen Mann zu passen schien. Kümmel-Paul war eine Größe im Frankfurter Rotlicht-Milieu, vor dem viele Respekt hatten. Ihm passte es überhaupt nicht, dass sein einziges Kind Tatjana Karriere bei der Polizei machte. Als sie sich weit weg ins bayrische Mühldorf am Inn versetzen ließ, war er todunglücklich. Nach quälend langen Wochen hatte sie sich bei ihrem Vater gemeldet, der fortan zwei seiner Leute auf sie ansetzte, um sie zu beschützen. Das hatte den feigen Anschlag auf seine Tochter nicht verhindern können. Tatjana war durch zwei Schüsse schwer verletzt worden und sie war noch lange nicht über dem Berg. Kümmel-Paul ging den Mühldorfer Polizisten aus dem Weg. Obwohl seine Tochter bei der Polizei war, vermied er direkten Kontakt. Seine Frau war da ganz anders. Sie freute sich über den Besuch und hielt seitdem engen Kontakt besonders zu Hans, den sie sofort ins Herz geschlossen hatte. Davon wusste Krohmer nichts. Warum sollten sie den Chef darüber informieren?
Endlich war die Besprechung vorbei. Hans saß wie auf Kohlen. Nicht nur, weil er endlich im Fall Maja Ettl tätig werden wollte, sondern um Werner zu informieren. Der Kollege, der Maja ebenfalls persönlich kannte, wusste von nichts. Hans gab das wieder, was er heute Nacht von Maja erfahren hatte. Auch, dass sie sich in Tatjanas Wohnung zusammen mit Christine Künstle aufhielt. Werner war sprachlos und brauchte einen Moment, um zu begreifen, was er eben erfahren hatte.
„Wer würde Maja so etwas antun? Sandro? Ich kenne ihn aus der Schule und kann mir nicht vorstellen, dass er etwas damit zu tun hat. Allerdings ist die Geschichte zwischen ihm und dem Kindermädchen zum Kotzen. Diese Storys hört man zwar immer wieder, aber wenn sie dann im direkten Umfeld geschehen, ist das eine andere Nummer.“
„Wenn es Sandro nicht ist, wer dann? Die Mutter?“
„Das kann ich mir auch nicht vorstellen. Ich weiß nicht viel von ihr. Sie hält sich aus der Öffentlichkeit heraus. Laut meiner Mutter muss sie eine dominante Persönlichkeit sein, aber in ihrer Position ist das nicht verwunderlich. Nach dem Tod ihres Mannes hat sie das Möbelhaus nicht nur erfolgreich weitergeführt, sondern hat es auch stetig vergrößert. Niemand hatte ihr das vor drei Jahren zugetraut, als sie mit dem Möbelhaus nach dem tragischen Unfall plötzlich alleine dastand. Natürlich standen ihr die Kinder immer zur Seite, aber sie ist die alleinige Erbin, Geschäftsführerin und Inhaberin des Möbelhauses.“
„Was ist mit der Schwester Susanne?“
„Soweit ich das mitbekommen habe, kam sie als Jugendliche auf eine Privatschule in der Schweiz. Dort hat sie studiert und gelebt, bis sie nach dem Tod ihres Vaters wieder nach Mühldorf kam,“ sagte Werner, der sofort ein schlechtes Gewissen bekam. Obwohl Susanne Ettl zu einer der angesehensten Mühldorfer Familien gehörte, wusste er nichts von ihr. Auch Hans hatte nie wieder etwas von ihr gehört und hatte sie völlig vergessen.
„Was, wenn Maja wirklich psychische Probleme hat und sie nur eine herzzerreißende Geschichte erzählt hat, damit wir ihr glauben?“, sagte Leo.
„Das traust du ihr zu? Du hast sie doch kennengelernt! Nein, Maja würde niemals eine solche Geschichte erfinden.“
„Das finde ich auch,“ stimmte Werner sofort mit ein. „Wir gingen in dieselbe Schule und ich habe Maja damals für ihr Engagement und ihren Mut immer bewundert. Sie hat sich immer für Schwächere eingesetzt und hat die Konfrontation mit Lehrern nie gescheut. Nein, Maja ist keine Geschichtenerzählerin.“
„Seid nicht gleich eingeschnappt. Wir sollten in alle Richtungen denken. Wann habt ihr die Frau zum letzten Mal gesehen?“
„Das ist zwar schon einige Zeit her,“ sagte Hans. „was aber keineswegs bedeutet, dass ich sie nicht gut genug kenne.“
„Ich habe Maja vor etwa zwei Monaten gesehen und konnte kurz mit ihr sprechen. Nur belangloses Zeug, nichts Besonderes. Sie hatte einen Termin bei meinem Vater in der Kanzlei,“ sagte Werner. „Sie kam mir völlig normal vor.“