Kitabı oku: «Meerestiere», sayfa 2
Jen
Obwohl Jen schon über 30 war, sah sie immer noch wie eine frische Studentin aus. Sie war schlank, ihr Body-Mass-Index lag bei 20,5 und somit am unteren Rand des Normalgewichts, trotzdem war ihr Gesicht leicht rundlich wie das eines Teenagers. Sie war blond, nicht hellblond aber eben blond, und wenn sie auf einer Party erzählte, dass sie als Finanzbuchhalterin in einem Autohaus arbeite, erntete sie manchmal einen erstaunten Blick. Irgendetwas an ihr wirkte naiv auf andere Menschen. Im Umgang mit Zahlen war sie äußerst geübt und talentiert, sie merkte sich mühelos lange Zahlenkombinationen und Telefonnummern, viele Rechnungen führte sie im Kopf durch und benutzte den Taschenrechner nur zur Überprüfung, aber sie konnte sich partout keine aktuellen oder geschichtlichen Begebenheiten merken, was sie sehr schade fand. Bei schlechtem Wetter verbrachte sie den Sonntagnachmittag vor dem Fernseher, um sich Reportagen anzusehen, wobei ihr die Thematik relativ egal war, weil sie Dinosaurier genauso spannend fand wie Biografien berühmter Menschen oder Politiker. Besonders angetan war sie von einem Flugsimulator für Fruchtfliegen, der in einer Reportage für Genmanipulation vorkam, die gleich hinter dem tragischen Leben der Marylin Monroe ausgestrahlt wurde. Vor einigen Jahren war sie eher zufällig als Aushilfe in einem Autohaus gelandet, zusätzlich zu ihrem Job als Bedienung in einem Steakhouse, und sie freundete sich dort mit dem alten Buchhalter an, der sich immer über ihren Besuch an seinem Schreibtisch freute. Auf seine Frage, ob sie sich denn beruflich weiterentwickeln wolle, zum Beispiel durch das Absolvieren einer Ausbildung, weil dies doch etwas Sinnvolles sei, wusste sie keine Antwort. „Mädchen, mach was Anständiges“, sagte er mit einem Blick über seine Brillengläser, den Kopf geneigt. Sie tat es ihm gleich, senkte den Kopf und fragte mit tiefer, altväterlicher Stimme, ob er denn glaube, sie würde etwas Unanständiges tun. „Nein“, antwortete der Buchhalter lächelnd, „ich meine nur, du solltest etwas Bodenständiges erlernen, ein Handwerk oder was mit Zahlen. Und lies mal eine Tageszeitung, nicht immer nur diese Zeitungen mit Mode und Prominenten.“ Sie erzählte ihm von dem Fruchtfliegenflugsimulator, aber der Buchhalter fand, dass diese Thematik von der alltäglichen Realität zu weit entfernt sei. „Realität ist das, was in den verschiedenen Tageszeitungen steht“, sagte er. „Lies Zeitung und ziehe Querverbindungen, damit du dir eine eigene Meinung bilden kannst.“
Weil Jen in Mathematik gar nicht so untalentiert war, ging sie mit dem Buchhalter eine Art Deal ein: Er brachte ihr jedes Mal, wenn sie sich sahen, etwas aus der Finanzbuchhaltung oder aus dem tagesaktuellen Geschehen bei, das sie sich in ein kleines Buch schrieb. Sie erklärte ihm im Gegenzug, was ein It-Girl und ein Influencer war, welche Promis Spanx trugen oder bei wem sich die Nase oder das Kinn nicht mehr in ihrer ursprünglichen, natürlichen Form befanden. So lernte sie nach und nach die Worte Aktiva und Passiva, den Unterschied zwischen Gewinn und Umsatz und was eine Mehrwertsteuer war. Eines Morgens wachte sie auf und konnte genau den Unterschied zwischen der doppelten und der einfachen Buchhaltung erklären, weil sie inzwischen über dreißig Seiten in ihrem Buch vollgeschrieben und damit langsam einen Einblick in die Welt der Finanzen bekommen hatte. Am nächsten Tag besuchte sie den Buchhalter an seinem Schreibtisch, unterhielt sich mit ihm über das Thema Bilanzierung und diskutierte die Vor- und Nachteile dieser und jener Unternehmensform. Drei Monate später unterschrieb sie ihren Ausbildungsvertrag zur Kaufmännischen Angestellten im Autohaus, verbesserte sich damit finanziell ein wenig und sah eine Zukunft vor sich, die rosig zu werden schien.
Als der Buchhalter vor einigen Jahren verstarb, fehlte Jen ein Teil ihres Lebens, den sie sehr vermisste. Er hatte ihr eine neue Sichtweise auf die Dinge gelehrt, und bis heute trug Jen das Gefühl in sich, diesem Menschen viel zu verdanken. Noch heute öffnete sie manchmal die letzte Seite des Notizbuches, um seine Worte zu lesen, die er ihr dort hinein geschrieben hatte.
Vor zwei Jahren war ein Kunde in das Autohaus gekommen, um sich die Wagen der gehobenen Klasse mit Sonderausstattung anzusehen, und Jen war bis heute offiziell Single, denn nie und niemandem gegenüber verlor sie auch nur ein einziges Wort darüber, seit eben jenem Tag die Geliebte eines verheirateten Familienvaters zu sein. Von Anfang an war ihr klar, dadurch ein Stereotyp zu werden, zu einem Klischee, das Vorurteile bestätigte und sie in eine Form pressen würde, in der sie sich selbst nicht sah.
Jen legte ihren kleinen Koffer auf das Bett und stellte den Ventilator an. Aus einer Schublade holte sie die Unterwäsche hervor, die sie nicht oft trug, weil sie nicht sonderlich bequem war. Sie legte sie auf das Bett und machte ein Foto davon, das sie John schickte. John, dessen Geliebte sie war, dessen Geheimnis, dessen Flucht aus seinem Leben. John, der als Familienvater Jonathan hieß und achtzehn Jahre älter war als sie, der ihr die Unterwäsche an einem Winterwochenende geschenkt hatte, das sie außerplanmäßig in der Schweiz verbrachten. Wieder so ein Klischee. Auf ihrem Handy durchsuchte sie die Fotos, die sie in der letzten Zeit aufgenommen hatte. Die einzigen Bilder, die sie je von einem Fotografen machen ließ, waren die für die Internetseite des Autohauses, die sie auch auf den Businessnetzwerken verwendete. Die Finanzbuchhalterin Jennifer L. trug die Haare zu einem Zopf gebunden, einen Blazer in Größe achtunddreißig und ein schlichtes, aber elegantes Oberteil darunter. Um den Hals trug sie eine Silberkette mit einem silbernen Anhänger in Form eines Widders und kleine Ohrstecker in den Ohrläppchen. Ihr Make-up war dezent, ihr Lächeln sympathisch aber angemessen zurückhaltend, und ihre Stärken waren der sichere Umgang mit allen gängigen Computerprogrammen im Bereich Finanzbuchhaltung, selbstständiges Arbeiten und Zuverlässigkeit. Und weil sie nur durch einen Freund in den Job als Bedienung in einem Steakhouse und ihre Ausbildung als kaufmännische Angestellte gerutscht war, war sie nie auf die Idee gekommen, ihr öffentliches Image zu hinterfragen oder auf seine Funktionalität hin zu überprüfen. Jen wechselte den Ordner und sah sich die privaten Schnappschüsse an, auf denen sie zu sehen war. Diese Bilder zeigten einen fröhlichen Menschen, tierlieb, weil Katzenbesitzerin, mit einer Vorliebe für Makroaufnahmen und Schattenspiele an öffentlichen Gebäuden. Eines Tages wollte John wissen, warum sie ihre Fotomotive so aussuchte, und sie erklärte ihm, dass Schatten die Sicht auf die Welt verändern. „Du bist klug“, hatte er gesagt, sich zu ihr gedreht und das Geschenk mit der Unterwäsche hervorgeholt. Wenige Stunden später waren sie in ihre Leben zurückgekehrt, und Jen schickte ihm von Zeit zu Zeit ein Bild von ihr, das er oft nur kurz kommentierte. Von ihm bekam sie selten Bilder zugeschickt, denn er war Jonathan, ein verheirateter Mann, der im Winter Schneemänner mit seinen Kindern baute und ihnen im Sommer den Kopfstand beibrachte. Und der regelmäßig Seminare besuchte und viele Geschäftsreisen unternahm. Vor knapp einem Jahr lernte Jen einen anderen Mann kennen, verliebte sich in ihn, und für einige Monate war sie glücklich. Weil John und sie immer offen und fair zueinander waren, wusste er Bescheid. Nach einigen Monaten entschied Jen, diese Beziehung wieder zu beenden und erzählte es John bei ihrem nächsten Treffen. „Tut mir leid“, sagte John und meinte es ernst.
Jen scrollte immer weiter herunter und war inzwischen bei Bildern aus dem vorletzten Jahr angekommen. Würde sie all die Bilder zusammenlegen zu einer Collage, sähe diese aus? Zeig mir deine Freunde, und ich sage dir, was für ein Leben du führst, zeig mir deinen Kleiderschrank, und ich sage dir, welche Persönlichkeit du hast, zeig mir deine Musiksammlung, und ich weiß, wer du bist. Oder wer du nicht bist.
Jen legte das Handy zur Seite und packte einige Sommersachen in den Koffer, ein paar bequeme Sandalen und die hohen Schuhe. Noch gab es keine Nachricht von John, vielleicht war ihm ein Termin bei der Arbeit dazwischen gekommen. Genauso gut konnte er auch schon zu Hause sein und seinen Koffer für das Seminar packen, das er vorgab zu besuchen. Für Jen benutzte er ein Prepaidhandy, das er nie mit nach Hause nahm, sondern das immer im Büro in einer Schublade blieb, die er abschließen konnte, oder in seinem Dienstwagen.
Jen packte ihr Schlafshirt ein, auf dem Joy and Fun stand. Ein uraltes Ding, das sie gern trug. Sie füllte ein Schälchen mit Katzenfutter auf und stellte eine zweite Schale Wasser daneben, dann trug ihren kleinen Koffer die Treppe hinunter und schickte John eine Nachricht, dass sie nun losfahren würde. Noch immer zeigte ihr Display keine Mitteilung von John an.
Sonja und Richard
Sonja betrachtete ihr Alter, das sich in feinen Linien auf ihrer Haut abzeichnete, im Spiegel. Seit vielen Jahren praktizierte sie regelmäßig Yoga und Pilates, sie versuchte, sich fit zu halten, aber mit dreiundsechzig war man einfach nicht mehr jung. Sie war schlank geblieben, worüber sie sehr froh war, aber was sie störte, war das Hin- und Herschieben der Haut, wenn sie sich eincremte. Ihre Haut war schon immer trocken gewesen, und nun rächten sich die vielen Sonnenbäder der letzten Jahrzehnte. So war das früher, man war an den Stand gegangen und verschwendete keine negativen Gedanken darüber, ob das stundenlange Sonnenbaden gesund sei oder nicht. Obwohl man damals schon wusste, dass in der Ozonschicht ein Loch klaffte. Dieses war nicht so einprägend wie das Waldsterben, denn schließlich lebten im Wald viele putzige Tiere, die alle ihr Zuhause verlieren würden, wenn es den Wald bald nicht mehr gäbe. So ein heimatloses Reh war viel bildhafter als ein Loch in einer unsichtbaren Ozonschicht.
Richard stand in der Küche und bereitete das Frühstück vor. Sie hörte, wie er den Oberschrank öffnete, eine der kleinen Glasschüsseln hervorholte und auf die Anrichte stellte. Sogar das Abreißen des Küchenpapiers hörte sie deutlich, ihre Ohren waren noch erstaunlich gut und auch ihre Augen. Nur zum Lesen brauchte sie eine Brille. Richard öffnete den Kühlschrank, schloss ihn wieder, und wenige Sekunden später hörte Sonja das Aufschlagen der Eier. Sie wusste genau, dass Richard die Eierschalen auf das bereit gelegte Küchenpapier legte und hörte kurz darauf das Zuschlagen der Schranktür, hinter der sich der Mülleimer versteckte. Biomüll, Plastik, Restmüll und Altpapier. Sie legte Wert auf Ordnung. Die Kaffeemaschine gab ein Schnauben von sich, wie immer, wenn sie durchgelaufen war. Richard deckte den Tisch, und Sonja wusste, dass er ihre Lieblingstasse auf den Tisch stellte. Würde sie plötzlich eine andere Tasse bevorzugen, er würde trotzdem immer diese eine neben ihren Teller stellen, denn Richard war ein Gewohnheitstier. Sonja zog sich an und lief die Treppe herunter ins Wohnzimmer mit der offenen Küche. Richard saß schon am Tisch, die Zeitung lag aufgeschlagen vor ihm. Eine Angewohnheit, die sie immer nervte, wenn sie selbst nichts nebenher zu lesen fand. Die Tageszeitung las sie ungern, sah sich dafür aber jeden Abend zwei Mal die Nachrichten im Fernsehen an. Sie kam sich ignoriert vor, wenn er beim Frühstück hinter der Zeitung verschwand und sie sich nicht in eine Illustrierte vertiefen, das Fernsehprogramm studieren oder an ihrem Handy herum tippen konnte.
„Freust du dich schon auf das Wochenende?“, fragte sie, um ihn von seiner Zeitung wegzulocken. „Natürlich.“ „Was meinst du, wie lange werden wir brauchen?“ Richard schaute sie über den Zeitungsrand an. „Haben wir doch gestern alles schon nachgeschaut. Knapp drei Stunden.“ Er versenkte seinen Blick wieder in die Zeitung und nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse, auf der in verblassten Buchstaben sein Name stand.
„Vielleicht geraten wir in einen Stau?“ Sonja schnitt ein Stück Gurke in dicke Scheiben. „Das wäre sehr unschön.“
Richard gab das Zeitunglesen auf. Er faltete sie zusammen, öffnete die Butterdose und bestrich sein Brötchen damit.
„Mag sein.“ Er griff nach der Marmelade und verteilte sie auf einer oberen Brötchenhälfte, nahm wieder die Butter zur Hand und ging mit dem marmeladenbeschmierten Messer hinein. Sonja sah die roten Ränder in der Margarine und auch, wie ein Krümel von Richards Brötchen in ihr landete. Die Ordentlichkeit ihres Mannes war definitiv nicht so ausgeprägt wie die ihre, zumindest nicht, was das Frühstück anging.
„Hast du deine Schwimmsachen eingepackt?“
Richard brummte bejahend.
„Was ist mit deinem Bademantel? Es gibt dort zwar welche, aber du liebst ja deinen eigenen Bademantel. Hast du ihn eingepackt?“
Richard brummte bejahend.
„Ich bin auf die Saunalandschaft gespannt. Es gibt dort eine Kräutersauna. Für dich gibt es aber auch eine finnische Sauna.“ Richard brummte. Sonja sah ihn an. „Du liebst doch finnische Sauna.“ Richard sah auf.
„Klar“, sagte er. „Mochte ich schon immer.“
„Ja, ich weiß.“ Sonja nahm die Butter und führte ihr Messer um die mit Marmelade kontaminierten Stellen herum. „Ich glaube, ich werde noch ein großes Handtuch mitnehmen.“
„Die werden doch im Hotel gestellt“, antwortete Richard.
„Manchmal sind mir die Hotelhandtücher aber zu dünn.“ Sonja faltete eine Käsescheibe in der Mitte zusammen und legte sie auf ihre untere Brötchenhälfte. „Ich könnte neue Handtücher kaufen. Isabell hat sich jetzt neue Bettwäsche gekauft, eine mit einem wirklich schönen Muster. Ein ganz dunkles Grün.“
Richard sah auf.
„Woher weißt du, wie das Grün auf Isabells neuer Bettwäsche aussieht?“
„Sie hat es mir am Telefon erzählt.“
Sonja und ihre Tochter Isabell telefonierten fast alle drei Tage miteinander.
„Aha“, sagte Richard und schielte auf seine Zeitung.
„Es sind verschiedene Grüntöne, mit einem sehr schönen Muster.“ Richard schlug seinem Ei den Kopf ab und suchte den Tisch nach dem kleinen Salzstreuer ab. Er stand hinter dem Orangensaft auf Sonjas Seite, so dass er ihn nicht sehen konnte.
„Ich hätte Lust, das Bad umzuräumen.“
„Was stimmt mit unserem Bad nicht?“ Richard hob die Salami hoch. „Hast du den Salzstreuer gesehen?“
Sonja gab ihm den Salzstreuer. Richard fiel gar nicht auf, dass sie die ganze Zeit wusste, wo das Salz stand. Das ärgerte sie. Das war typisch für ihn.
„Nimm nicht so viel Salz, das ist nicht gesund für dich.“
„Da kommt kaum etwas raus.“ Richard schüttelte den Salzstreuer über seinem Ei aus. Sonja hörte das Salz auf den Teller rieseln. Sie beobachtete ihn weiter. Wie furchtbar er das Ei aß! Nicht der Löffel wurde zum Mund geführt, sondern der Löffel mit dem Ei wurde über den Teller gebeugt ausgeschlürft. Dieses Geräusch konnte Sonja einfach nicht überhören, auch nach so vielen Jahren nicht. Genauso gut könnte er den Löffel auch weglassen. Sonja überlegte, ob sie im Leben etwas verpasst habe. Vielleicht wäre eine Affäre sinnvoll gewesen, einfach, um frischen Wind in ihrem Leben zu spüren.
„Die Rosen sehen toll aus“, sagte Richard und blickte aus dem Fenster in den Garten zu einem Rosenstrauch, der dort erst seit zwei Tagen stand.
Verblüfft sah Sonja Richard an, der wieder die Zeitung zur Hand nahm. Sie verstand nicht, warum er ein Kompliment machte, sich aber nicht darum kümmerte, ob es sie freute oder nicht.
„Wirklich?“
Richard sah auf.
„Ja. Ich finde, sie haben eine tolle Farbe. Ganz anders als die anderen im Garten. Gefällt mir.“ Sonja lächelte ihren Mann an, der ihr einen kurzen Blick zuwarf, bevor er sich wieder in den Zeitungsartikel vertiefte.
Eine halbe Stunde später spülte Richard das Geschirr ab, und Sonja packte die letzten Sachen ein. Sie nahm die Gießkanne von der Fensterbank und begann, die Blumen im Haus zu bewässern. Richard stand in der Küche und sah ihr zu.
„Warum musst du jetzt noch die Pflanzen gießen?“
„Weil sie Wasser brauchen.“
„Ja, aber warum jetzt. Warum hast du das nicht gestern erledigt?“
„Weil ich sie erst Vorgestern gegossen habe.“
„Verstehe ich nicht“, sagte Richard. „Warum musst du die Pflanzen genau dann gießen, wenn wir los wollen?“
„Weil ich sie vorgestern erst gegossen habe, und weil sie in der Sonne stehen und es dort sehr warm ist.“
„Warum gibst du ihnen nicht einfach mehr Wasser?“ Richard hob eine Tasche an.
„Weil sie dann nasse Füße bekommen.“
Richard sah sie an, überlegte, versuchte, Topfpflanzen mit nassen Füßen zu kombinieren und lief hinaus zum Auto, wo er die Tasche auf dem Rücksitz verstaute. Als er die hintere Autotür schloss, blickte er auf die Straße und zog den Bauch ein. Sonja zupfte einen Ableger von einer Grünlilie ab und beobachtete Richard, der zurück zum Haus kam. Er lief in die Küche, holte den Müllbeutel aus dem Eimer und lief wieder hinaus. Sonja zupfte einen weiteren Ableger ab. Die Studentin von gegenüber kam in ihr Blickfeld. Sie hielt einen Gartenschlauch in der Hand und wässerte den Rasen. Ein Regenbogen zeigte sich im Wassernebel, zart schimmerte er neben der Studentin, die leicht ihren Oberkörper zurücklehnte und in den Himmel sah. Sonja stellte die Ableger der Grünlilie in ein Glas und füllte es mit Wasser. Richard kam zurück.
„Haben wir Altpapier, das in die Tonne muss?“ Er sah in den Pappkarton, in dem sie das Papier sammelten und hob die Brötchentüte hoch, die als einziges darin lag.
Sonja beobachtete das Wasser, das sie aus der Gießkanne auf die Pflanzenerde goss. Sie fand es erstaunlich, wie langsam man Wasser auf Erde schütten konnte, und beobachtete genau, wie es in der Blumenerde versickerte. Sie entschied, die Grünlilien nach weiteren Ablegern abzusuchen. „Soll ich schon mal deine Handtasche ins Auto bringen?“
„Nein, ich will noch eine rauchen“, antwortete sie.
Richard ging hinaus und setzte sich ins Auto. Er programmierte das Navigationsgerät, wofür er erstaunlich viel Zeit brauchte. Eindrucksvoll, wie weit nach oben er seine Augen verdrehen konnte, um in den Rückspiegel zu schauen, ohne den Kopf zu heben. Sonja drückte die Zigarette aus und rief Isabell an, um ihr zu sagen, sie würden jetzt abfahren. Dann ging sie aus dem Haus, und noch während sie die Haustür abschloss, startete Richard den Wagen. „Warum trödelst du so?“, fragte er, als sie einstieg.
„Ich habe noch mit Isabell telefoniert, und du warst doch beschäftigt.“
Richard runzelte die Stirn und fuhr rückwärts aus der Einfahrt. Als sie an der Studentin vorbeifuhren, hob Sonja lächelnd die Hand zu einem Gruß.
„Kennst du sie?“, fragte Richard.
„Oh, natürlich, sie wohnt ja schon seit beinahe vier Monaten gegenüber. Wir sprechen viel über ihren Alltag. Sie ist sehr redselig, ich habe das Gefühl, ich weiß alles, was sie so treibt. Kleines Plappermäulchen, aber sehr sympathisch.“
Richard bog um die Ecke und nahm den Weg zur Autobahnauffahrt.
Kapitel 2
Sonja und Richard
Die Stimme des Navigationsgerätes meldete sich und gab den Weg vor.
„Viel später als geplant“, sagte Richard.
„Wenn wir zu früh kommen, sind unsere Zimmer noch nicht fertig.“ Sonja legte sich eine dünne Strickjacke über die Schulter.
„Aber wenn wir in einen Stau kommen, werden wir zu spät sein.“
„Ist denn Stau angesagt?“
„Keine Ahnung“, sagte Richard. „Es wäre einfach entspannter gewesen, wenn wir zeitig losgefahren wären. Warum musst du ausgerechnet vor der Abfahrt noch die Blumen gießen?“
„Das Gespräch haben wir vorhin schon geführt.“
„Ich verstehe es aber nicht.“
„Und du meinst, beim zweiten Mal verstehst du es?“
„Und was soll das, dass du Isabell noch unbedingt anrufen musstest? Ihr könnt jeden Tag miteinander reden.“
„Sie arbeitet.“
„Aber von zu Hause aus. Da kann sie doch mit dir telefonieren.“
„Du telefonierst doch auch nicht, wenn du arbeitest.“
„Das ist was anderes.“
„Ach ja? Warum soll das etwas anderes sein?“, fragte Sonja „Ich arbeite im Büro. Das ist schon was anderes.“
„Warum?“
„Na, weil es ein Büro ist. Da sind andere Menschen, da kann man nicht einfach so privat telefonieren.“
„Früher hast du das gemacht.“
Richard antwortete nicht.
„Früher hast du mich jeden Tag vom Büro aus angerufen. Erinnerst du dich nicht?“, hakte Sonja nach.
„Das ist aber schon lange her“, antwortete Richard.
„Ja, das ist schade. Warum rufst du mich heute nicht mehr an?“ Sonja beschloss, am Thema zu bleiben, weil Richard nicht flüchten konnte.
„Keine Ahnung, vielleicht gab es früher mehr zu erzählen. Wenn man jung ist, redet man mehr.“
Sonja drehte sich zu ihm.
„Wirklich?“, fragte sie und zog die Augenbrauen hoch. „Also findest du uns alt?“
„Na ja, wir sind nicht mehr jung. Und man hat vielleicht auch mal genug gesagt. Irgendwann will man einfach mehr Ruhe haben, und dann redet man nicht mehr so viel.“ Richard konzentrierte sich auf einen Kreisverkehr.
„Rede ich dir zu viel?“
„Das habe ich nicht gesagt.“ Richard bemerkte, dass das Gespräch in eine Richtung ging, die ihm nicht gefiel. „Ich habe nur gesagt, dass man vielleicht ein wenig ruhiger wird, wenn man älter wird. Das ist doch nichts Schlimmes.“
„Früher hast du immer angerufen und mir gesagt, dass du mich liebst. Ist dir nie aufgefallen, dass du mich schon lange nicht mehr angerufen hast?“
In Richards Blickfeld, das fokussierter als üblich beim Autofahren, auf die Straße gerichtet war, schob sich ein Kühlschrank. Verlassen und völlig unpassend zum Gesamtbild der Umgebung stand er am Straßenrand. Richard hätte entweder sich selbst, seine Frau oder dieses Gespräch gerne darin herunter gekühlt. Die Autobahnauffahrt kam in Sicht, und Richard wollte dieses Gespräch nicht weiter fortsetzen. Es war dieselbe Autobahnauffahrt, die er jeden Morgen nahm, wenn er zur Arbeit fuhr. Jetzt, mit seiner Frau neben sich sitzend und das Gespräch im Ohr, das sie gerade führten, fiel Richard auf, dass die Auffahrt für ihn der Punkt der Freiheit war, den er von Montag bis Freitag meist gegen Viertel vor acht passierte. Er war wie eine Grenze in eine andere Welt, in der er mindestens acht Stunden arbeitete und zwischen halb eins und halb zwei eine Pause einlegte. Dann unterhielt er sich mit Kollegen, schlenderte durch den Park oder machte kleine Besorgungen für seine Schnitzereien und andere Holzarbeiten. Der Keller war seit der Zeit, in der Isabell mit der Schule anfing, zu einer Werkstatt ausgebaut. Erst waren es nur kleinere Basteleien, denen Richard dort nachging, Reparaturen an Isabells Kaufladen, mit dem sie damals noch gespielt hatte, oder mal ein Vogelhaus für den Kirschbaum im Garten. Dann baute er einen Kinderstuhl für das Kind eines Kollegen, den er selbst entwarf und bastelte einen Zaun für den Ponyhof, den Isabell nicht mehr brauchte und den sie verschenkten. Irgendetwas fand Richard immer, das es zu bauen oder zu reparieren gab. Der Stoffente bastelte er ein neues Auge aus Filz, band ihr ein Tuch als Augenklappe um und legte sie in Isabells Bett. Als sie das Tuch entfernte und das neue Auge sah, umarmte sie ihn mit einer Kraft in ihren kleinen Ärmchen, die ihn überrascht und zutiefst in seinem Vatersein berührte und bestärkte. Er schnitzte ein Schwein und einen Kürbis, den sie aber als Tomate in ihrem Kaufladen benutzte. In dieser Zeit fing Sonja an, Kleider für Isabell zu nähen. Sie malte mit ihr stundenlang Mandalas aus, die sie selbst vorzeichnete. Jahr um Jahr verging, und irgendwann war Isabell das, was sie ein großes Kind nannten. Sie verbrachte die meiste Zeit mit ihren Freundinnen oder beim Badmintontraining, und die Eltern waren nicht mehr so wichtig wie früher. In diesen Jahren kam sie nur noch selten mit Dingen in seinen Kellerraum, die repariert werden mussten, und eines Tages ersteigerte Richard eine Drechselbank im Internet. Er drechselte einfach, was ihm in den Sinn kam, ohne etwas erreichen zu wollen, und nach ein paar Tagen versuchte er sich an einer Vase. Als sie fertig war, holte er sich ein Glas Wein, stellte die Vase auf seine Drechselbank und betrachtete sie. Von diesem Tag an drechselte er Schalen und Vasen, später Flaschenöffner, Verschlüsse sowie pilzförmige Nussknacker und allerlei andere Dinge, die ihm spontan einfielen. Die Zeit, die er in der Werkstatt verbrachte, wurde immer länger und seine Arbeiten besser und hochwertiger. Er begann, all die gedrechselten Gegenstände auf Märkten zu verkaufen, und als Isabell in ihrem Abschlussjahr an der Schule war, brachte sie ihre große Liebe mit nach Hause, einen jungen Mann, der ihm einen Onlineshop einrichtete, in dem er seine Arbeiten verkaufen konnte.
Das, was für Richard die Werkstatt darstellte, war für Sonja die Arbeit, die sie im Ehrenamt ausführte. Erst waren es nur ein paar Stunden, aber schon nach knapp einem Jahr übernahm sie eine große Rolle in der Ehrenamtszentrale. Richard kam es vor, als kümmere sich Sonja manchmal um die halbe Stadt, als sei dies ihr neuer Lebensinhalt, vielleicht auch, weil ihr die Rückkehr in eine Vollzeitstelle nicht geglückt war. In den ersten Jahren dachte Richard, sie würde dort wieder aufblühen und hätte für sich einen positiven Lebensinhalt gefunden. Doch manchmal sah er seine Frau in einem Moment an, in dem sie sich mit ihren Gedanken in einer anderen Welt als hier in der Realität befand. In solchen Momenten fiel ihm auf, dass er gar nicht mehr wusste, ob Sonja noch die Frau war, die er kannte, die er aus Liebe geheiratet hatte, oder ob es eine Fremde war, die nur Sonjas Gesicht wie eine Maske vor dem ihren trug. Irgendwann war ihm auf ihrer Stirn, nahe am Haaransatz, ein Altersfleck aufgefallen und er wusste nicht, wann er dort erschienen war. Der Größe nach musste er aber schon vor längerer Zeit dort entstanden sein, schließlich tauchten Altersflecken nicht einfach so auf wie Sommersprossen im Gesicht eines rothaarigen Kindes, das im Sommer draußen spielt. Auf seinem Handy durchsuchte er die Bilder der letzten Jahre, sah sich ihr Gesicht in der Vergrößerung genau an und eruierte so die Entstehung des Altersfleckes. Tatsächlich war er ihm nie aufgefallen, obwohl er nachweislich schon seit über vier Jahren sichtbar war. Wie viele Veränderungen waren ihm in den letzten Jahren nicht aufgefallen, weil ihm sein Zuhause außerhalb des Kellers zur Last geworden war? Plötzlich hatte Richard das Gefühl, viele Dinge aus der Vergangenheit nicht mehr richtig in Erinnerung zu haben. Er hatte sie nicht vergessen, aber nie über Vorhänge und Veränderungen nachgedacht, sondern sie einfach so hingenommen und sein Leben gelebt.
Richard überholte den Wagen vor ihm, und als er zurück auf die mittlere Spur fuhr, warf er einen Blick auf Sonja, die neben ihm saß und gedankenverloren aus dem Fenster schaute. Er sah eine gewisse Härte in ihrem Ausdruck, die typisch für sie war, aber ihm schien, als läge auch ein leises Lächeln auf ihren Gesichtszügen. War dies das Gesicht, das sie sich vor Jahren einmal aufgesetzt hatte, oder war das ihr wahrhaftiges? Je länger er darüber nachdachte, desto näher kam er der Frage, wer seine Frau überhaupt war. Früher war sie witzig, spontan und ideenreich. Auch pragmatisch, zum Beispiel, als sie auf dem Weg zu einem Campingplatz eine Nacht auf einem Parkplatz einer Raststätte übernachteten und sie den Schnaps aus dem Schraubverschluss einer Wasserflasche trank, weil sie der Meinung war, Schnaps trinke man nicht aus der Flasche. Mit ihrer Nagelfeile bearbeitete sie die Ränder der Verschlusskappe und fertig war das Schnapsglas. Es gab ein Foto von ihr, aufgenommen von Freunden in der Silvesternacht, auf dem Sonja eine Sektflasche in die Luft hielt, aus der heraus im Augenblick des Auslösens die Silvesterrakete mit einem Funkenschweif gen Himmel flog. Auf dem Bild lachte sie wie ein junges Mädchen. Das Bild stammte aus derselben Zeit wie jenes, das er selbst von ihr und Isabell auf einer Grillparty schoss. Sonja hatte ihm eine Strickjacke gestrickt, die ihr dann aber nicht gefiel, so dass sie alles wieder aufribbeln wollte. Isabell zog sich die für ihren Körper viel zu große Jacke an und drehte sich, während Sonja am Faden zog und ihn aufwickelte. Auf dem Foto sah man Sonja und Isabell, in einem fröhlichen, ansteckenden Lachen vereint. Auch einige Nachbarn, die auf dem Bild zu sehen waren, lachten herrlich ausgelassen. Der schönste Anblick aber war Isabell mit ihrem Kinderlachen, das einfach nicht mehr aufhörte. Dieses Giggeln, das nur bei Kindern vorkommt, die noch in einem Alter sind, in dem man nicht albern, sondern einfach nur fröhlich ist. Nach und nach fielen Richard die vielen Grillpartys ein und auch ein paar Lieder von damals. Gab es heute in ihrem Leben weniger Freunde als früher? Oder waren zu viele Menschen aus der Umgebung weggezogen, so dass man kaum noch Leute spontan einlud, weil die Wege zu weit waren? Richard zählte in seiner Erinnerung die Freunde auf, die früher oft zu Besuch kamen. Einige waren tatsächlich weggezogen, aber andere lebten nach wie vor in ihrer Nähe. Ein paar von ihnen lernte Richard über seine Arbeit kennen, viele waren auch Eltern, deren Kinder damals dieselbe Klasse besuchten wie Isabell. Mit einigen fuhren sie später zusammen in den Urlaub. Das war praktisch, denn so kam bei den Kindern keine Langeweile auf. Es wäre doch schön, mal wieder ein paar Leute einzuladen. Einfach die alten Freunde anrufen und einen Termin für ein kleines Grillfest ausmachen. Besser noch, einen Abend vorschlagen, damit niemand eine Diskussion oder eine Terminverhandlung anfängt. Einfach die Leute einladen und schauen, wer kommt. Diese Spontanität fehlte ihm schon lange. Es war, als könne Sonja nicht mehr damit umgehen, Dinge ungeplant zu tun. Sie vereinbarte sogar Termine mit der Nachbarin, um ihr eine Zucchini vorbeizubringen, die wie wild auf Sonjas Beeten wucherten. In seiner Werkstatt war Richard spontan, dort tat er, was ihm gefiel. Erst kürzlich schenkte ihm ein Arbeitskollege ein fast dreihundert Jahre altes Stück Holz aus einem Brückenpfeiler, das Richard betrachtete und sofort ein Bild von einer Lampe vor seinem inneren Auge sah. Ende der Woche ging er in die Werkstatt und holte aus dem alten, dreckigen Holz eine Form heraus, die ihm schöner vorkam als alles, was er bisher in einem Stück Holz gesehen hatte. Aus den Resten bastelte er ein paar Kreisel, weil er es zu schade fand, die kleinen Holzstücke wegzuwerfen. Als er fertig war, öffnete er eine Flasche Wein und begutachtete seine Werke, ließ die Kreisel auf dem Tisch ihre Runden drehen und legte Farben heraus, um sie zu bemalen. Die Maserung und die Färbung des Holzes waren einzigartig, und er beschloss, die Lampe zu behalten. Mit der Flasche Wein, dem Glas und der Lampe lief er die Treppe hoch und schob ein Bild von Isabell und eine Vase auf einem Tisch ein wenig zur Seite, um die Lampe dort aufzustellen. Zwei Stunden später kam Sonja dort entlang, sah das veränderte Arrangement und fragte, ob er schon die halbe Flasche Wein ausgetrunken habe, es sei doch erst Sonntagnachmittag Fünf Uhr. Am nächsten Tag war die Lampe an den Rand des Tisches verschoben, die Vase und das Bild von Isabell standen wieder an ihrem alten Platz, und seitdem fiel Richard jedes Mal, wenn er an dem Tisch vorbeilief, auf, wie eingefahren doch ihr Leben war.