Kitabı oku: «Meerestiere», sayfa 3
„Hast du Lust auf eine Grillparty?“, fragte er Sonja.
Sonja erwachte aus ihren Grübeleien.
„Mit wem?“
„So wie früher“, antwortete Richard. „Mit ein paar Freunden und Nachbarn.“
„Welche denn?“
„Keine Ahnung, welche du willst. Du kennst doch viele von ihnen.“
„Meinst du die Studentin?“
Richard wusste nicht, von wem Sonja sprach.
„Welche Studentin?“
„Die von heute Morgen im Haus gegenüber.“
Richard fiel die Studentin wieder ein. Er wusste nicht, ob ein so junges Ding bei einer Grillparty mit Menschen über 50 Spaß hätte.
„Ich weiß nicht, wenn du sie kennst, klar, warum nicht.“
„Ich kenne sie kaum.“
„Hast du nicht heute Morgen gesagt, du kennst sie?“
„Deswegen gehört sie aber nicht zu unseren Freunden.“
„Okay, gut“, antwortete Richard, „ich dachte nur, wir laden einfach mal wieder ein paar alte Freunde ein, grillen und trinken ein paar Bierchen zusammen. So wie früher. Weißt du noch? Früher haben wir das oft gemacht. Das war lustig.“
Sonja sah auf ihre Hand, die auf ihrem Oberarm ruhte. Für ihr Alter sahen ihre Hände noch jung aus. Seit sie das Gespräch auf die früheren Anrufe gelenkt hatte, war Richard in Schweigen verfallen. Zu gerne würde sie wissen, was nun in seinem Kopf vorging. Dachte er über dieses Thema nach, oder war er schon wieder gedanklich ganz woanders? Verständlicherweise hatte sich Richard in den letzten Jahren verändert, wer tat das nicht? Veränderung war ein natürlicher Prozess, auch im eigenen Charakter. Richard war heute etwas eigensinniger als früher, er machte mehr mit sich selbst aus, teilte weniger seine Gedanken, Sorgen und Freuden. Er verbrachte Stunden in der Werkstatt im Keller oder unternahm kleinere Touren mit dem Rad. Heute Morgen beim Frühstück aber war ihr aufgefallen, dass Richard viele Dinge so tat, wie es seit Jahren seine Art war. Zwar war sie sich dessen schon lange bewusst, aber heute Morgen hatte es sie gestört, weil ihr seine immer gleichen Bewegungsabläufe plötzlich so eingefahren, so alt vorkamen. Routine konnte einen am Leben halten, das wusste sie nur zu gut, aber jetzt hatte sie das Gefühl, dass die Routine alles Lebendige in ihrem Leben abtötete, als sei es Unkraut, das sich einen Weg durch den Asphalt der blinden Gewohnheit erkämpft. Die Art und Weise, wie er das Ei aß und die Zeitung las, wie er sich jeden Morgen in der gleichen Reihenfolge anzog, erst den linken Socken, dann den anderen, und immer erst mit dem rechten Arm in das Shirt oder den Pullover. Das alles hatte eine schreckliche, einengende Routine bekommen, ein Käfig aus Bewegungsabläufen, der einen daran hinderte, nachzudenken oder etwas Neues zu tun. Richard war wie eine Maschine, deren Arbeitsablauf sich nie veränderte, weil es keinen Grund dafür gab, weil er funktionierte wie ein Uhrwerk. Richard war etwas, worauf sie sich verlassen konnte. Nicht jemand. Vor über 20 Jahren war er in seinem Keller verschwunden und einige Stunden dort unten geblieben. Von diesem Tag an schleppte er Holz und Farben und andere Utensilien dort hinunter, um aus ihnen irgendetwas zu bauen oder zu basteln. Und sie konnte sich darauf verlassen, dass er dort seine Zeit verbrachte, damals wie heute. Damals, weil er einen Ausweg brauchte, einen Ort, an dem ihm die Welt nicht so dunkel und leer erschien, und heute, weil es eine geliebte Gewohnheit war, weil dort unten immer wieder Neues entstand, nie aber etwas einfach so aufhörte. Damals kam Sonja die Werkstatt im Keller wie ein geheimer Ort vor, den nur Richard betreten konnte und Isabell, weil ihr Kindsein eine Art Schlüssel zu diesem Raum war. Für Isabell war die Werkstatt kein Ort, an den Richard flüchtete, sondern ein gemütlicher, heller Ort voller Abenteuer und Nähe zu ihrem Vater. Nach einigen Monaten, in denen Sonja die meiste Zeit allein im Wohnzimmer verbrachte, war sie in die Ehrenamtszentrale gegangen, um sich einen neuen Sinn für ihr Leben zu suchen, und bis heute war es ihr Lebensinhalt, für andere Menschen Hilfe und Unterstützung zu organisieren. Als ob die Verlorene den Verlorenen beim Suchen und Finden half. Durch diese Arbeit erfuhr sie eine Wertschätzung, die den Leerraum in ihrem Leben füllte. Wertschätzung war etwas, das sie in ihren jungen Jahren nie brauchte. Früher war sie sich selbst genug gewesen, sie hatte Spaß mit Richard, mit Freunden, in ihrer Rolle als Mutter. Das Geld war immer in ausreichender Menge vorhanden, manchmal etwas knapp, dennoch fehlte es ihnen an nichts. Sie waren zufrieden mit dem Vorhandenen und glücklich in ihrem Dasein als Familie. Sommer um Sommer packten sie das Familienzelt, die Kühlbox, den Gaskocher, die Hälfte ihres Küchenbestandes, eine Wanne zum Spülen, nahezu die gesamte Sommerkleidung, Schlafsäcke, Luftmatratzen und Handtücher in ihr Auto. Dazu den Fressnapf und das Körbchen für den kleinen Hund. Das Auto vollgepackt bis oben hin, fuhren sie los, um zusammen mit Freunden und anderen Familien die Sommerferien auf einem Campingplatz zu verbringen. Manchmal waren die Strecken zu lang, um sie an einem Tag zu schaffen, so dass sie eine Nacht als Zwischenstopp einlegten, und die Kinder übten während der Fahrt Kopfstand im Auto, weil es noch keine Anschnallpflicht gab. All das erfüllte ihr Leben. Der Luxus der Einfachheit und der Zufriedenheit. Sie brauchte weder Anerkennung, noch Wertschätzung, es war nicht nötig, Managerin eines kleinen Familienunternehmens sein, weil es ganz einfach reichte, Mutter und Ehefrau zu sein. Das Leben, das sie lebte, gab ihr alles, was sie brauchte. Doch dann war etwas geschehen, war in ihr Dasein eingebrochen und hatte einen Riss verursacht, der mit nichts zu füllen war. Es war einfach so geschehen, und Sonja fühlte sich, als stünde sie an einem Bahngleis, vom Leben zurückgelassen, weil der Zug früher abgefahren war als geplant. Alle Menschen und alles, was sie kannte, war in diesem Zug davongefahren, und sie stand da, allein auf dem Bahnsteig und sah auf die leeren Schienen vor ihr, auf denen kein Zug mehr halten würde.
Und nun dachte Richard über eine Grillparty nach. Das war wieder typisch für ihn. Er plante etwas, aber es lag an ihr, es zu organisieren. So wie früher wollte er es haben, aber die Studentin von gegenüber gehörte nicht zu früher. Als sie selbst jung war, war sie jemandes Studentin von gegenüber gewesen. Sie erinnerte sich an das alte Ehepaar, das sich jeden Tag hingebungsvoll um den Garten kümmerte. Damals fand sie das ein wenig skurril, doch heute kümmerte sie sich mit einer ebensolchen Hingabe um ihren eigenen Garten. Plötzlich erschien es Sonja, als habe sie sich selbst eingeholt, als sei sie zu ihrer eigenen Nachbarin geworden. Ihr war, als stünde sie vor einem Bild, auf dem zwei Frauen zu sehen waren, beide mit demselben Sommerkleid und einem ähnlichen Sonnenhut auf dem Kopf. Die eine war jung, die andere alt. Beide waren Sonja, die ihr eigenes Ich beobachteten. Die ältere Sonja betrachtete in dieser Momentaufnahme das Leben der Jüngeren, während diese zeitgleich auf ihr zukünftiges Ich blickte. Sonja fragte sich, über was sie sich mit ihrem jüngeren Ich bei einer Grillparty unterhalten würde. Welche Warnungen oder Ratschläge würde sie sich geben? Schneller wieder in das Arbeitsleben einsteigen, früher die Kindersachen verkaufen, weil ein weiteres Kind nicht kommen wird, und auf gar keinen Fall das Tanzen aufgeben, weil es ihr später so leid darum tun wird.
„Warum haben wir eigentlich das Tanzen aufgegeben?“, fragte Sonja und klappte die Sonnenblende herunter.
Richard fuhr mit seinem Rad auf einer geschwungenen Straße in den Dolomiten entlang. Gedanklich stellte er sich einen Plan zusammen, wann er diese Tour gern fahren würde und in welchen Etappen. Er nahm sich vor, einen alten Freund zu fragen, ob er die Tour mit ihm fahren wolle. Darüber könnten sie sich bei der Grillparty unterhalten, dieses Mal aber konkreter als sonst. Schon länger überlegten sie, eine größere Tour zu unternehmen, ein verlängertes Wochenende, vielleicht an einem Fluss entlang, aber sie schafften es nie, die Tour tatsächlich zu planen und durchzuführen. Jetzt baute Richard die Tour in seinen Gedanken immer weiter aus, bis er sich in den Dolomiten sah, abgekämpft aber glücklich. Endlich mal wieder etwas erreichen, das wäre schön. Sonja holte ihn mit der Frage aus seinen Planungen heraus, warum sie nicht mehr gemeinsam tanzten.
„Keine Ahnung“, antwortete er, „hat nicht mehr gepasst.“
„Zu was hat es nicht mehr gepasst?“
„Wie kommst du denn jetzt auf das Tanzen?“, fragte Richard.
„Hat es zu uns nicht mehr gepasst?“
„Sonja, Dinge vergehen einfach, das ist so, wenn man älter wird.“
„Ich bin gerade erst sechzig geworden!“
„Ja, das ist …“ Richard dachte wieder an den Kühlschrank am Straßenrand. „Jetzt entspann dich doch mal“, sagte er. „Wir machen uns jetzt ein schönes Wochenende.“
„Ich bin entspannt.“ Sonja sah stoisch durch die Frontscheibe.
„Ja, dann ist doch alles gut.“ Richard betonte den Punkt am Ende des Satzes. „Ja, natürlich ist alles gut, bei dir ist immer alles gut. Ich habe dich nur gefragt, warum wir mit dem Tanzen aufgehört haben.“
Richard lehnte sich vor und schaltete das Radio ein, um ein wenig Ablenkung von diesem Gespräch zu bekommen.
„Zu diesem Lied haben wir auch mal getanzt“, sagte Sonja.
Richard hätte zu gern den Sendersuchlauf gestartet.
„Bist du irgendwie unzufrieden?“, fragte er plötzlich.
„Warum sollte ich denn unzufrieden sein?“
„Weil du die ganze Zeit meckerst.“
Sonja verschränkte die Arme und sah wieder durch die Frontscheibe hinaus, ihr Kopf war leicht gesenkt, so dass sich ihre Augen ein wenig nach oben drehten. Richard bremste ab, weil das Ende eines Staus in Sicht kam.
Sonja schien ihm schon seit Jahren unzufrieden zu sein. Es war ein schleichender Prozess gewesen, und oft war diese Unzufriedenheit von irgendeinem Aktionismus überlagert worden. Er hätte gerne gewusst, über welche Dinge sie nachdachte, während sie den Stau betrachtete, der vor ihnen entstanden war.
„Bist du denn zufrieden?“, fragte Sonja.
„Ja, warum fragst du?“
„Du hast mich doch auch gefragt.“
Richard holte tief Luft und streckte die Arme durch, so dass er gegen das Lenkrad drückte. Es war ein tiefes Einatmen. „Ja, schon irgendwie, glaube ich“, antwortete er, wobei die Intonation der Worte ein Fragezeichen an deren Ende implizierte.
Sonja löste die Verschränkung ihrer Arme und drehte sich zu ihm.
„Glaube ich dir nicht“, sagte sie. „Ich glaube, du bist unzufrieden.“
Richard überlegte, ob er besser wieder mit dem Thema Tanzen anfangen solle, es erschien ihm momentan weniger sprengstoffgeladen.
„Woher willst du das denn wissen?“
„Ja, stimmt“, Sonja legte gespielt eine Hand an ihr Kinn, „woher sollte ich das wissen? Schließlich reden wir wenig miteinander. Und jetzt sag nicht, dass es daran liegt, dass wir älter geworden sind.“
„Also gut, ich bin in meinem Job zufrieden, ich habe mir eine gute Position erarbeitet. Ich bin mit meiner Werkstatt zufrieden, mit den Dingen, die ich herstelle, ich bin zufrieden, wenn ich Fahrrad fahre, wenn ich neue Wege entdecke, wenn ich mir eine größere Strecke vorgenommen und sie geschafft habe. Ich bin mit unserem Haus zufrieden, es ist solide gebaut, steht auf einem kleinen Berg, die Anschlüsse an die Autobahn und die öffentlichen Verkehrsmittel sind gut. Und man kann zu Fuß einkaufen gehen, wenn man das will.“ Richard sah Sonja an.
„Und wo komme ich darin vor?“, fragte sie.
Richard sah auf sein Navigationsgerät, das den Stau rot markiert anzeigte. Dann warf er einen Blick über seine Schulter. „Ich fahre hier raus“, sagte er und lenkte sein Auto auf den Standstreifen. Nach wenigen Metern erreichte er die Autobahnausfahrt. Die Vorstellung, weiterhin mit Sonja in einem Stau zu stehen, gefiel ihm nicht. Eine Fahrt über die Dörfer sorgte hoffentlich für etwas Entspannung. An einer Kreuzung las er die Schilder und entdeckte einen Wegweiser zu einer Burg, von der ihm ein Kollege erzählt hatte. Er bog rechts ab.
„Müssen wir nicht nach links?“
„Ich kenne den Weg“, antwortete Richard. „Der ist schön.“
„Ist aber doch nicht der schnellste Weg, oder?“
„Nein. Aber schöner.“
„Wir müssen aber doch zum Hotel.“
„Da fahren wir ja auch hin, nur auf einem anderen Weg. Vertrau mir.“
Seit 24 Jahren vertraute Sonja Richard nicht mehr. Er sagte diesen Satz immer dann, wenn er keinen Sinn darin sah, sie in sein Leben und seine Entscheidungen einbeziehen. Vor 25 Jahren war dieser Riss entstanden, hatte ihrer beider Leben mit Leere gefüllt, und manchmal war es, als würde Richard auf der anderen Seite dieser Leere stehen und sie könnten sich nicht mehr unterhalten, nicht mehr verständlich miteinander sprechen, weil der Riss alles verfremdete und verstellte wie ein Störsignal. Ein Jahr nach der Entstehung der Leere buchte er einen Urlaub auf einem Campingplatz, ohne ihr Einverständnis einzuholen. Er kaufte einen neuen Flachbildschirm, der so groß war, dass das Wohnzimmer umgeräumt werden musste und er kaufte eine neue Pfanne, obwohl er selten kochte, und warf die alte, die Sonja so liebte, weil ihr darin alles gelang, weg. Sie wollte ans Meer, ihr gefiel die Bücherwand im Wohnzimmer, und die Pfanne war die Beste, die sie je besaß. Das ist ein schöner Campingplatz, vertrau mir, das Wohnzimmer wird gut aussehen, vertrau mir, die Pfanne ist die beste, die es gibt, vertrau mir. Ein paar Jahre lang versuchte Sonja, diese Aussagen zu überhören, aber es gelang ihr nie. Was sagte Richard damit überhaupt aus? Wollte oder musste er Entscheidungen ohne eine Rücksprache mit ihr übernehmen, weil sie entscheidungsschwach war? Vertraute er ihren Entscheidungen nicht oder waren sie ihm egal? War sie ihm egal? Sonja erinnerte sich an den Urlaub auf dem Campingplatz. Sie waren das ganze Jahr über nicht in den Urlaub gefahren, waren zu Hause geblieben und starrten den Riss an, der ein Jahr zuvor entstanden war. Richard hatte die Einfahrt neu gestaltet und mit einem hohen Zaun abgegrenzt. Am Ende der Zufahrt brachte er ein Tor an, das automatisch zufiel. In diesem Jahr gründete Sonja einen Verein für leseschwache Kinder, weil sie mit Isabell zu den Betroffenen gehörte und mit dem Problem allein dastand. Sie beschäftigten sich, lenkten sich ab, entzweiten sich durch die Leere. Richard schlief zeitweise im Gästezimmer, weil ihm der Rücken schmerzte. Eines Tages, Sonja schmückte gerade mit anderen Eltern die Turnhalle der Schule für das Frühlingsfest, wurde ihr schwindelig und das Herz raste. Sie sei überlastet, hieß es im Krankenhaus, sie solle kürzer treten. Sie sehnte sich nach dem Meer, aber Richard buchte einen Urlaub an einem See. Vertrau mir, es wird uns dort gutgehen. Aber es wurde nicht gut, in all den Jahren nicht, da half auch kein Vertrauen.
Sonja sah hinaus über die Felder, durch die sie fuhren. Der Sommer war heiß, der Mohn blühte, und auf vielen Feldern war das Getreide schon eingeholt. Sonja gefiel die Weite der Landschaft, die Farben des Sommers, trotzdem dachte sie an das Blau des Meeres, an den Wind und an die Sehnsucht. Sie wurde von einem lauten Geräusch aus ihren Gedanken geholt.
„Was ist passiert?“, fragte sie.
„Irgendwas ist mit dem Motor“, antwortete Richard und fuhr auf einen Grünstreifen neben einer Koppel, auf der eine Herde Pferde stand und in der Hitze vor sich hin graste. Er stieg aus und öffnete die Motorhaube. Sonja blieb im Auto, in dem es durch die Klimaanlage kühl war. Sie zog sich die Strickjacke wieder über ihre Schulter und sah zu den Pferden hinüber, sah Insekten, die in der flirrenden Hitze um die Tiere schwirrten. Sie beugte sich ein wenig zur Seite, um in den Rückspiegel zu sehen. Auf dem Asphalt der Straße tanzte die Hitze. Eines der Pferde kam näher an das Auto heran, Sonja konnte die Schritte des Tieres aber nicht hören. Sie öffnete die Tür, stieg aus dem Auto, lief an den Zaun und streckte ihre Hand aus. Sie hörte Grillen zirpen, die Luft war trocken und heiß. Das Pferd sah sie an.
„Vertrau mir“, sagte sie.
Das Pferd sah sie weiter an, bewegte sich aber nicht näher auf sie zu. Sonja kam es vor, als zirpten die Grillen jetzt lauter. Auch die Schritte der grasenden Pferde hörte sie nun deutlich, und das Herausreißen des Grases kam ihr irrwitzig laut vor.
Sonja stieg auf das untere Brett des Zaunes, lehnte sich über den Zaun und streckte die Hand weiter aus. Das Pferd sah sie an.
„Vertrau mir“, sagte sie wieder.
Im Hintergrund erkannte sie das Mohnblumenfeld, an dem sie vorbeigefahren waren. Ein roter Teppich in der Sommerhitze. Das Pferd wandte den Blick von ihr ab, Sonja zog ihre Hand zurück, lehnte sich an den Zaun und betrachtete den Sommer. Sie legte das Kinn auf ihre Hände, die auf dem oberen Brett ruhten, und schloss die Augen. Sie hörte den Grillen zu und den Insekten, lauschte auf die Schritte der Pferde und das Herausreißen des Grases. Und dann ein leises Schnauben nah bei sich. Sie öffnete ihre Augen erst, als sie den Atem des Pferdes in ihrem Gesicht spürte.
„Ich vertraue dir“, flüsterte sie.
Richard schloss die Motorhaube wieder und setzte sich zurück in das Auto, um den Pannendienst anzurufen. Sonja lehnte am Zaun der Koppel und streichelte ein Pferd, das bei ihr stand und sie beschnupperte. Immer näher kam es, bis es mit seiner Nase Sonjas Stirn berührte, ihre Wangen und ihr Haar. Richard sah in den Rückspiegel, sah die kleine, staubige Straße, eher ein asphaltierter Feldweg, den sie entlang gekommen waren, weil er querfeldein fahren wollte, weg vom Stau und den eingefahrenen Gesprächen. Er nahm sein Handy und versuchte, sowohl Sonja mit dem Pferd, als auch die Straße im Rückspiegel einzufangen. Doch statt auf den Auslöser zu drücken, ließ er seine Hände wieder sinken und betrachtete einfach nur die Szenerie. Es war seltsam, Sonja mit diesem Pferd zu sehen. Sie strahlte eine Ruhe aus, die er schon lange nicht mehr an ihr wahrgenommen hatte. Er beobachtete sie, wie sie sich vom Zaun löste und die Straße hinter dem Auto betrat, so dass Richard sie im Rückspiegel sah. Sie trug ein kurzes Sommerkleid und Schuhe mit einem kleinen Absatz. Im Rückspiegel sah sie sehr schlank aus. Richard drehte sich um und bemerkte, wie grazil seine Frau auch ohne die Verfremdung eines Spiegels war. Er beobachtete sie, wie sie über die staubige Straße schlenderte, gedankenverloren und lächelnd. Es wunderte ihn, dass sie nicht wieder in ihren typischen Tätigkeitsdrang verfiel. War ihr Kleid neu? Es kam ihm nicht bekannt vor. Er wollte sie nicht danach fragen, vielleicht trug sie es schon seit zwei oder drei Jahren, nur war es ihm nie aufgefallen. Sonja hob ihre Arme ein wenig, drehte sich leicht, legte ihre Hände auf ihre Schultern und sah in den Himmel. Er meinte, den Ausdruck in ihrem Gesicht wiederzuerkennen, in ihm etwas zu sehen, dass er schon viele Jahre nicht mehr gesehen hatte. Etwas, das er kannte.
„Lass uns zu Fuß gehen“, sagte Sonja plötzlich und holte ihren kleinen Rollkoffer aus dem Kofferraum. Sie zog den Griff nach oben und tippelte in ihren hohen Schuhen zur Rückbank, von der sie eine Tupperschüssel holte.
„Warum trägst du diese hohen Schuhe? Das soll ein entspanntes Wochenende werden, wer trägt denn da hohe Schuhe? Und was hast du da in der Tupperschüssel?“
„Den Salat von gestern“
„Was?“
„Den Salat von gestern.“
„Warum?“
„Weil er übrig war.“
„Was ist das für ein Grund, ihn mitzunehmen?“
„Sonst hätte ich ihn in den Müll werfen müssen.“
„Ja und? Der ist doch jetzt durch das Dressing ganz matschig.“
„Ach, du bist auch matschig.“
„Na, ist doch wahr. Über Nacht ist das jetzt matschig geworden. Du läufst in High Heels über ein Feld und hast matschigen Salat in einer Tupperschüssel.“
„Stimmt nicht.“
„Na klar stimmt das.“
„Nein, stimmt nicht.“
„Doch.“
„Nein, ich habe das Dressing extra dabei, und ich trage auch keine High Heels.“ Richard sah in den Himmel, durch den ein Flugzeug flog. Dann holte er seinen Koffer und einen Rucksack aus dem Auto, schloss ab und lief hinter Sonja über die Straße hinterher. Sie waren am Rand einer Stadt, zwischen ihnen und den Vorstadthäusern lagen nur wenige hundert Meter. Die Häuser waren alle weiß gestrichen, mit kleinen Gärten und großen Garagen, die sich alle aneinanderreihten. Richard erkannte in einiger Entfernung einen kleinen See, in dessen Nähe jemand mit einem Hund spazierte, und es war, als flirrten die Umrisse dieses Menschen durch die Hitze in der Luft wie eine Fata Morgana. Richard überholte Sonja und schaute auf sein Handy.
„Warum bist du über diesen Feldweg gefahren?“ Sonjas Stimme klang nicht vorwurfsvoll, sondern neugierig.
„Ich fand es romantischer.“
„Wirklich? Du wolltest etwas Romantisches?“
„Ja. Stell dir vor.“ Richard grinste.
Sonja blieb stehen, und als er ihre Schritte nicht mehr hinter sich hörte, drehte er sich um.
„Was?“
„Du wolltest wirklich etwas Romantisches?“
„Ja“, antwortete Richard.
„Das ist irgendwie süß“, befand Sonja.
„Süß?“ Richard drehte sich wieder um. „Ich gehe bald in Rente, ich bin nicht mehr süß.“
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