Kitabı oku: «Die Lange Stille», sayfa 3

Yazı tipi:

Ich sagte dem Pädagogen, das käme mir vor wie die Wahl zwischen erschossen oder erwürgt werden.

Er grinste und meinte: »Ich würde das Erschießungskommando vorziehen!«

Ich war bereits seit ein paar Wochen nicht mehr ständiges Mitglied der lerntätigen Jugend Deutschlands, als ich meinem Vater die frohe Botschaft endlich verkünden konnte. Nicht dass ich es ihm verschweigen wollte, er hatte vorher einfach nie Zeit. Zu den je nach Lebenslage wechselnden Devisen meines Vaters gehörte der Spruch: »Stolpern darf man, aufstehen muss man!« Nicht anders verhielt es sich in diesem Fall. »Dann machst du eben eine Lehre!«, meinte er trocken. Er munterte mich sogar mit dem Hinweis auf, dass ich ja durch die erfolgreiche Versetzung in die elfte Klasse immerhin den Realschulabschluss in der Tasche hätte. »Mehr braucht man nicht im Leben.«

Mein Vater machte immer »aus allem das Beste!« Und aus Prinzip erklärte er das, was er tat, zum Besten. Man hörte ihn dann »besser ging’s doch gar nicht« oder »besser so als anders« sagen und seine Begeisterung schwappte häufig über.

In dieser Situation kannte die Dynamik meines Vaters keine Grenzen. »Los, setz dich her. Wir überlegen mal, was du machen könntest.« Er fühlte sich zum Berufsberater berufen, und wir gingen alle möglichen und unmöglichen Ausbildungen durch, besprachen das Für und Wider und die Chancen, die der jeweilige Vorschlag im Laufe meines zukünftigen Lebens bieten würde: »zu viel Arbeit«, »zu wenig Geld«, »zu viel Konkurrenz«, »braucht man sehr gute Augen für«, »bekommt man Plattfüße von« und so weiter. Zu jedem Beruf schien mein Vater Insiderkenntnisse zu haben, und er wusste genau, wovon man besser die Finger lassen sollte.

Im Verlauf der Diskussion setzten bei mir Ermüdungserscheinungen ein, während mein Vater immer euphorischer wurde. In ungeordneter Reihenfolge sprachen wir über Tischler, Bademeister, Kfz-Mechaniker, Optiker, Kellner, Bürokaufmann, Tanzlehrer und mehr. Mein favorisierter Vorschlag »Musikkritiker« fiel dem Einwand zum Opfer, dass es einen entsprechenden Lehrberuf angeblich nicht gab. Was schade war, denn mein Talent in diesem Bereich war allgemein anerkannt.

Am Ende blieb nur ein einziger Beruf auf der Welt übrig, für den es sich lohnen würde, die Mühen einer Ausbildung auf sich zu nehmen: Chemigraf! Die plausiblen Gründe dafür waren unter anderem meine Drei in Chemie, meine Zwei in Kunst, eine prima Vergütung schon während der Lehre, die Tatsache, dass der infrage kommende Betrieb direkt um die Ecke lag, sowie Vaters Analyse: »Junge, du hast doch ein grafisches Auge!« Das unausgesprochene Hauptargument war jedoch, dass mein Vater ebenfalls Chemigraf gelernt hatte.

Am nächsten Tag fiel er erneut über mich her und hatte Ergänzungen zu seinen Ausführungen mitgebracht. Wer in einem Verlag arbeite, hätte die ganze Welt in klein vor den Füßen. Redaktionen, Vertrieb, Buchhaltung, Technik, Werbung, Kundenservice und was weiß der Henker noch. »Da bist du heute dabei, wenn die Entscheidungen fallen, was die Bevölkerung morgen zu denken hat. Junge, da wird Meinung gemacht!« Klang nicht übel. Ich hatte zwar noch keine eigene Meinung, behielt das aber nie für mich. Irgendwas ließ sich schließlich zu allem und jedem sagen.


Elke Mohrmann ist aufgebracht und achtet nicht auf die angelehnte Wohnzimmertür. Im Flur steht die Lange Stille und bekommt den Redeschwall ihrer Mutter mit: »Ich habe es brühwarm von Ingeborg. Heute Nachmittag. Von der Schule geflogen ist er! Ein Versager! Was ich immer gesagt habe! Aber du hältst ihn ja für ein Genie. Merkst du gar nicht, wie du deiner Tochter damit einen Bärendienst erweist?«

»Elke …«

»Nichts Elke! Hör auf mit deinen Beschwichtigungen. Du behandelst diesen Werner, als wäre er ein Freund von dir. Überlegst du gar nicht, was das für einen Eindruck bei Karin hinterlässt?«

»So? Was denn für einen?«

»Das Kind ist doch noch völlig unerfahren. Deine übertriebene Sympathie für ihn muss sie doch geradezu irritieren. Karin hört auf dich. Leider mehr als auf mich. Mach ihr endlich klar, dass sie sich von diesem unfähigen Flegel befreien muss. Arnulf, versündige dich nicht an unserem Kind!«

Dr. Arnulf Mohrmann lacht laut auf. »Hast du es nicht eine Nummer kleiner?«

»Das Lebensglück meines Kindes liegt mir nun mal am Herzen. Sie ist viel zu jung, um diesen negativen Umgang als solchen zu erkennen. Arnulf – tu was! Schmeiß den Typen raus. Er hat hier nichts verloren. Der bringt nur Unglück, ich spüre es geradezu!«

»Seit wann ist ein Kind denn ein Unglück?« Dr. Mohrmann sieht seine Frau vielsagend an, sieht, wie sie im Zeitlupentempo die Nachricht verarbeitet, und freut sich klammheimlich auf die Szene, die gleich folgen wird.

Und er wird nicht enttäuscht. Elke Mohrmann sinkt auf den echten Perser, haut ihre Fäuste in die fünfzigtausend Knoten, schreit, wimmert und weint, bis sie erschöpft liegen bleibt. Ihr ganzer Körper zittert. Vielleicht sind es auch nervöse Zuckungen. Doch dann unterbricht sie abrupt die theatralische Einlage, kommt auf die Knie, deutet mit dem Zeigefinger auf ihren Mann und schleudert ihm angsteinflößende Blicke entgegen. Mit herrischer Schärfe schreit sie: »Das erledigst du!«


Zwei Megathemen blieben zwischen Karin und mir – vorerst – unbesprochen. Keine Ahnung warum. Sonst teilten wir wirklich alle Geheimnisse miteinander. Dennoch: Sie hat mir nichts gesagt, und ich ihr auch nicht. Dabei waren es äußerst persönliche Neuigkeiten, über die wir da hätten reden können. Doch von Karins Schwangerschaft erfuhr ich erst Jahre später. Und mir selbst war der Rausschmiss – denn nichts anderes war es – aus dem Gymnasium peinlich, und ich wartete erst noch eine ganze Weile, um die Aktion in ein positives Licht rücken zu können. Ich überbringe schlechte Nachrichten gern in Geschenkpapier. Habe ich von meinem Vater.

Um Karin eine Freude zu machen, las ich nach dem Schul-desaster ein Buch nach dem anderen und berichtete ihr aufgekratzt von neuen Erkenntnissen und literarischen Höhepunkten. Belesen zu sein war der gefühlte Wertmaßstab, mit dem die Lange Stille Menschen beurteilte. Wobei – so ganz stimmt das nicht. Immerhin fuhr sie auf mich schon zu einer Zeit ab, als ich bestenfalls ein profunder Kenner von Fix & Foxi war. Musikexpress, Sounds, Bravo und Rolling Stone wurden erst danach zu meinem wöchentlichen Lesefutter. Aus diesen Blättern saugte ich mein allseits bewundertes Musik-Know-how, das mich so manche Redeschlacht gewinnen ließ. Wissen ist eben Macht. Und für den Small Talk zwischendurch konnte ich stundenlang Otto und Heinz Erhardt zitieren. Und vor allem den Comic-Helden Werner, den ich später auch stimmlich perfekt draufhatte. Unbelesen war ich also nicht. Nur anders belesen. Doch jetzt zog ich in rascher Folge eine Literatur-Taube nach der anderen aus dem Zylinder und entfachte ein Feuer in Karin, ohne dass man sie je brennen sah. Eine innere Flamme. Diese tiefe, ruhige, unerschütterliche Zuneigung zu mir war ihre Reaktion auf … Ja, was soll ich sagen? Auf mich! Was sonst? Eine Umarmung von Karin war wie eine warme Wolldecke am Nordpol. Da vermisste man nichts. Nur, wie sollte ich das damals schon checken? Mir fehlte doch jeder Vergleich. Einfach immer nur glücklich sein bringt gar nichts. Berge ohne Täler sind Flachland.

Ich wartete also, bis ich die Lehrstelle in der Tasche hatte. Dann bestellte ich im Park-Café einen Piccolo mit zwei Gläsern. Karin war noch stiller als sonst, was wohl an den Strapazen einer Reise mit ihrem Vater nach Holland lag. Aber sie freute sich ehrlich mit mir und meiner geschickten Abzweigung auf dem Lebensweg. Ich betonte vielleicht zu oft den Begriff »Graf«, der mir an meinem zukünftigen Beruf besonders gefiel. »Ich mache Karriere als Chemiegraf, im Druck- und Verlagswesen. Wirst schon sehen. Mein Vater ist sich da ganz sicher!«

Karin lächelte still, sah mich eine Weile an, und als die Spannung kaum mehr auszuhalten war, prophezeite sie: »Glaub ich auch!«

Das Bewerbungsgespräch mit dem technischen Verlagsleiter der Volkszeitung – im Volksmund VZ genannt – war dermaßen glatt gelaufen, dass es mich hätte stutzig machen müssen. Tat es aber nicht. Denn zu dem Zeitpunkt war mir eigentlich alles egal. Ich wollte einfach nur wieder irgendwo dazugehören. Dabei sein. Mich einreihen, um dann wie gewohnt aus der Reihe zu tanzen. Ohne ein soziales Umfeld ist man ständig fimmelig, weil man sich so unwichtig, ja nutzlos vorkommt. Ich verbummelte die Tage und bemerkte es bald. Darum war ich erleichtert, als es hieß: »Sie können nächsten Montag anfangen!«

Turnusgemäß hätte das Lehrjahr eigentlich früher oder später begonnen, aber der technische Verlagsleiter wollte sich bei der Industrie- und Handelskammer für mich einsetzen. Sogar zur Berufsschule musste ich sofort, obwohl es zwei gute Gründe für meine Aversion gegen diese Ansage gab. Einmal generell der Begriff »Schule« und zum anderen der Weg dorthin. Chemigrafen wurden nur in Bremen beschult, was zwei Stunden Zugfahrt bedeutete. Um sechs Uhr fünf ging’s los. Jeden Mittwochmorgen. Und jedes zweite Mal ohne mich, weil sich ein um fünf Uhr dreißig klingelnder Wecker nicht mit meinem Schlafbedürfnis in Einklang bringen ließ. Außerdem befand ich mich seit Beginn der Lehre unter einer permanenten, leichten Dauernarkose. Das lag an meinem Arbeitsplatz. Der ständige Säuremief in der Chemigrafieabteilung machte mich kirre. Die Dämpfe benebelten mein Hirn und verfolgten mich in den ersten Monaten bis in meine Träume. Wir mussten ja pausenlos Klischees ätzen, also die Reproduktionsfotografien für den Mehrfachdruck auf Metallplatten übertragen. Zu meiner Anfangszeit druckten wir noch altmodisch im Hochdruckverfahren. Zwei ältere Gesellen machten den Job im Labor. Beide stoisch, weltabgewandt und randvoll abgefüllt mit Resignation. Einer von ihnen hatte massiven Ausschlag an den Armen, im Grunde war er eine lebendige Warnleuchte. Aber anstatt wegzurennen, achtete ich zunächst nur darauf, die Ärmel meines unmodisch-grauen Kittels ständig bis zu den Händen herunterzuziehen. Auch sah man mich nie ohne die von der Firma gestellten pinken Gummihandschuhe.

So hatte ich schon nach vierzehn Tagen fünfundzwanzig vernünftige Gründe für eine fristlose Kündigung in mir angesammelt, die ich meinem Vater ausführlich darlegte. Er konterte mit sechsundzwanzig angeblich noch vernünftigeren Gründen, warum ich den Job weiter durchziehen sollte. »Ohne Berufsausbildung bist du eine Milchkuh ohne Euter. Beiß die Zähne zusammen und entwickele Techniken, wie und wo du dich am besten verkrümeln kannst. Das geht nirgends besser als in einem Zeitungsverlag. Alle sind ständig in Hetze und achten nicht auf Leute wie dich!«

Der Alte hatte recht. Genau so machte ich es. Musste ich zum Beispiel Platten in die Druckerei bringen, verlief ich mich ab jetzt regelmäßig im Haus, schaute in der Redaktion vorbei, stellte blöde Fragen, mimte Interesse für alles und jeden, und schon verging die Zeit wie im Flug.

Außerdem freundete ich mich mit unserem Pförtner an, der sich als perfekter Meldedienstleister entpuppte. Karin konnte bei ihm nach der Schule Nachrichten für mich hinterlassen, und wenn ich ausstempelte – die Stempeluhr war direkt neben der Pförtnerkabine –, überreichte er mir die kleinen Briefchen. Immer mit ausführlicher Personen- und Modebeschreibung. »Heute hatte sie ein Blümchenkleid an. Mit weißem Gürtel. Was für eine Taille! Sie kam mit dem Fahrrad. Das solltest du deiner Süßen mal putzen!« Und so weiter. Der Mann hieß übrigens Hornegger. Echt jetzt. Und natürlich nannten ihn alle Honecker, wenngleich Mielke richtiger gewesen wäre.

Den ersten Coup landete ich vier Monate nach meinem Eintritt in die Zeitungswelt. Ich hatte mir angewöhnt, unser Blatt täglich zu lesen. War schließlich eine Tageszeitung. Irgendwann wurde eine neue Jugendseite vorgestellt, die samstags erscheinen sollte. Allerdings war die Aufmachung grottenschlecht, langweilig und anbiedernd, die Sprache auf dem Niveau von kinderlosen Verwandten, die sich bei ihren pubertierenden Neffen einschleimen wollen. Mir war sofort klar, dass sich meine Generation damit bestenfalls aufs Klo verdrücken würde. Und zwar nicht zum Lesen. Genau mit dieser Argumentation, beiläufig in der Redaktion eingestreut, landete ich einen Volltreffer.

»Was fehlt denn deiner Meinung nach?«, fragte mich ein älterer Redakteur.

»Na zum Beispiel eine Rubrik mit Musikkritiken. Besprechungen der wichtigsten Neuerscheinungen.«

Der Mann tat so, als wäre er interessiert, und ich versprach ihm eine beispielhafte Lieferung für den nächsten Tag. Mein Verriss von Smokie sowie die mitgelieferte Lobhudelei auf David Bowie gefiel den Herren und sorgte für spontane Heiterkeit in der Redaktion. Ich hatte geschrieben:

Licht aus! Whoom! Spot an!

Neeeeein …! Was an Smokie immer auffälliger wird: Das Geld aus ihren sogenannten Hits geben sie bei der Altkleiderstelle ab, um bevorzugt Cord-Sakkos alter Geschichtslehrer für Chris Norman zu kaufen. Der Rest wird genutzt, um sich bei talentlosen Songschreibern mit abgelehnten Kompositionen zu versorgen. Bestes Beispiel ist die aktuelle Single »Run To Me«, die wegen der schlabberigen Gitarrenarbeit eigentlich Run Away heißen müsste. Ganz anders der Herr Bowie, David mit Vornamen. Mit nur einer Gummizelle, einer Planierraupe und der Restgarderobe eines Wanderzirkus (siehe Video) erschafft er mit seiner neuen Single »Ashes to Ashes« einen Hit, zu dem es sich nicht nur famos abzappeln lässt – auch Moped frisieren, Fransenjeans kürzen oder Fassbier mit Schuss gehen damit gut. Merke: Wo bei David schon die ersten Schweißperlen austreten, herrscht bei Smokie noch der Dreißigjährige Krieg. Peinlich!

Euer Werner

Damit kam ich ins Blatt. Jede Woche! Nicht zu fassen, oder? Ein Musikredakteur im grauen Kittel. Meine Spalte hieß: Die Platten-Guillotine. Unterschrift: Euer Werner. So stieg ich zur Lokalprominenz auf. Jedenfalls bei meinesgleichen.


Der Gesprächsfaden zwischen Mutter und Tochter ist gerissen. Der Vorfall hat Elke Mohrmann in die Sprachlosigkeit getrieben. Es ist ein Mix aus Empörung, Enttäuschung, Überheblich- und Hilflosigkeit. Sie weint oft, wenn sie allein ist. Sie spürt ihre Unfähigkeit, sucht nach Worten, findet aber keine passenden. Karin ist ihr entglitten. Gespürt hat sie den unaufhaltsamen Prozess schon länger. Inzwischen weiß sie es. Beschreibt es ihrem Mann und bittet um Rat. Nur, dessen Ratschläge empfindet sie als Schläge, sind in ihren Ohren Vorwürfe, machen sie wütend, verstärken ihren Frust.

Eine Mutter von drei Kindern, der eines abhandengekommen ist. Eine Frau, die den Beziehungstrümmerhaufen vor sich erkennt, aber nicht realisiert, dass sie Beziehung als Beherrschung lebt.


Ob ich die nun folgenden Ereignisse in der richtigen Reihenfolge wiedergeben kann, bezweifle ich stark. Es passierte einfach zu viel. Das Leben nahm Fahrt auf, so kam es mir jedenfalls vor. Gibt es einen Puls der eigenen Zeit? Falls ja, dann schlug er stetig schneller, wenngleich sich die Taktzahl nur schleichend erhöhte. Unbemerkt von mir.

Karin war inzwischen in der dreizehnten Klasse. »Ich sollte besser etwas mehr für die Schule tun«, sagte sie unaufgeregt und lächelte ein wenig verlegen. Aus gutem Grund! Ihre Anforderungen an sich selbst waren in meinen Augen wahnsinnig übertrieben. Ich wusste zwar, dass sie Medizin studieren wollte, aber ihr Zeugnisdurchschnitt lag ohnehin schon bei Eins-Komma-Irgendwas. Genau um dieses Irgendwas ging es ihr. Sie wollte ein glattes Einser-Abi, um sich keine Gedanken um den Numerus clausus machen zu müssen. Ein reines Luxusproblem in der Streber-Liga.

Die nächste Ansage kam von meinem Vater. Er meinte, es sei an der Zeit, es den Vögeln gleichzutun und aus dem Nest zu flüchten. Damit meinte er sowohl mich als auch sich. Er rechnete mir vor, wie viele Fantastilliarden es sparen würde, wenn er Vollzeit bei seiner Freundin wohnen würde. Er sei ja ohnehin meistens dort, sie mache seine Wäsche, könne prima kochen – und: »Lebensmittelpunkte verschieben sich nun mal im Laufe des Lebens.«

Mein neuer Mittelpunkt sollte ab sofort ein möbliertes Zimmer bei Frau Kasupke sein. Er habe mit der Dame bereits alles geregelt und auch angedeutet, dass ich eine Freundin hätte. Seinem Augenzwinkern entnahm ich die Erlaubnis für Damenbesuch bei Frau Kasupke, was diese später tatsächlich eingeschränkt bestätigte: »Aber nur bis zweiundzwanzig Uhr, junger Mann!«

Mein Vater hatte mich mit dem – »besser geht’s doch gar nicht« – Vorgang dermaßen überrumpelt, dass ich nur sprachlos schluckte, als die Parole hieß: »Morgen ziehen wir um. Ich habe schon einen Nachmieter. Pack deine Sachen heute Nacht, morgen kannst du ja blaumachen.« Wenn Sentimentalität als die Schwäche, Abschied zu nehmen, beschrieben wird, muss ich meinem Vater in dieser Situation grenzenlose Stärke bescheinigen. Die Auflösung meines Elternhauses – in dem ich immerhin achtzehn Jahre verbracht hatte – vollzog sich explosionsartig und ließ zunächst keinerlei Rührseligkeit aufkommen. »Um elf Uhr fahre ich dich rüber!«, posaunte mein Vater überschwänglich und mit einer derart ansteckenden guten Laune, dass ich glaubte, an einer Fahrt ins Blaue teilzunehmen. Er selbst sorgte dabei für einen unerschöpflichen Getränkenachschub, brüllend laute Begleitmusik aus seinem Plattenlager und Kartoffelsalat mit Würstchen, den seine Freundin mitbrachte.

Vier oder fünf Freunde von ihm tauchten mit Umzugskartons auf, und zwei Freundinnen seiner Freundin kamen mit Bergen an alten Zeitungen. Da hinein wickelten sie Geschirr und Gläser, während sie gleichzeitig rauchten, tranken, lachten und sich über den Rest-Haushalt meiner Mutter lustig machten. Die Kumpel meines Vaters wiederum zerlegten unsere Möbel und erzählten sich pausenlos Witze wie: Zwei Männer stehen an der Bar. Sagt der eine: »Ich glaube, meine Frau ist tot.« Fragt der andere: »Wieso glaubst du das?« Antwort: »Im Bett ist es wie immer, aber die Küche sieht aus …« Darüber lachten sie stundenlang. Der heiteren Stimmung im Hause konnte man sich beim besten Willen nicht entziehen, zumal ich mir ja generell eine Grund-Coolness verschrieben hatte, die mit allem und jedem fertigwerden konnte.

Irgendwann – es muss kurz vor Mitternacht gewesen sein – klingelte es plötzlich Sturm. Mehrere Nachbarn hatten sich zu einer Bürgerinitiative zusammengeschlossen und protestierten lautstark gegen unsere Lautstärke. Mein Vater bot allen eine Flasche Bier an, berichtete fröhlich von unserem anstehenden Auszug und meinte: »Leute, das ist doch wirklich ein Grund zum Feiern für euch, oder? Heute Nacht bleibt ihr schön wach und danach könnt ihr aus dem Haus einen Sarg machen. Was Besseres kann euch doch gar nicht passieren!« Aber damit überschätzte mein Vater die Flexibilität unserer zukünftigen Ex-Nachbarn. Um zwei Uhr kam die Polizei, und mein Vater versprach, die Musik leiser zu drehen. Schon kurz darauf bauten seine Freunde die Stereoanlage ab, und es herrschte endgültig Ruhe.

Mit der kam ich allerdings nicht klar. Ich hockte in meinem Zimmer, wo ich bis dahin schleichend mein bisheriges Leben zusammengepackt hatte. Eine Stunde und mehr war allein dafür draufgegangen, die Poster meiner musikalischen Heroes von den Wänden zu nehmen. Jedes einzelne löste massive Gefühlsschwankungen aus und stellte mich vor herzzerreißende, nein: existenzielle Entscheidungen. Wollte ich zum Beispiel Steven Patrick Morrissey weiterhin anbeten oder jetzt schon in die Kategorie »Idioten« abschieben? Das war emotionale Schwerstarbeit! Auch jeder einzelne Pulli musste auseinandergefaltet, begutachtet, auf Erinnerungen gecheckt, wieder zusammengelegt und in einen Karton geworfen werden. So was erledigt man nicht im Handumdrehen. Das nimmt einen mit. Und mit der plötzlichen Stille, ohne die betäubenden Rhythmen aus dem Hintergrund, waberte eine belastende Schwere durch mein Zimmer.

Apropos Stille. Mit Karin an meiner Seite wäre die Aktion wahrscheinlich erträglicher gewesen. Sie fehlte, ohne dass ich mir das eingestanden hätte. Doch leider war mein Vater mit seinem Umzugsüberfall zu unsensibel an die Sache herangegangen. Mit einem gewissen Informationsvorlauf hätte ich ohne die Lange Stille keinen Finger gerührt. Wäre sie da gewesen, hätte ich alles um einiges entspannter abgewickelt, allein schon durch den automatischen Selbstbewusstseins-Schub, den sie bei mir auslöste. So aber saß ich morgens um fünf fix und fertig in meinem Zimmer und – heute kann ich es ja zugeben – war am Flennen. Kraftlos, müde, entwurzelt und allein. Im Schneidersitz vor meinem Bett, die Arme auf der Matratze verschränkt, darauf der Kopf. In dieser Haltung schlafend fand mich mein Vater um kurz nach sieben.

Während der Packaktion war mir klar geworden, dass ich kein Nestflüchtling war, sondern ein Vertriebener. Der Heimat beraubt. Ausgewiesen ohne Recht auf Rückkehr. Seit jener Zeit gehe ich mit dem Begriff »Flüchtling« vorsichtiger um. Es ist einfach ein Unterschied, ob man selbst flieht, weil einem die Verhältnisse nicht mehr passen, oder ob man mit Gewalt zur Flucht gezwungen wird. Meine Flucht gehörte jedenfalls zur brutaleren Kategorie. Ich wollte nicht weg. Für mich war die elterliche Wohnung mein gefühltes Zentrum, die Höhle, die mir Sicherheit und Geborgenheit vermittelte, auch wenn ich ständig unterwegs war. Allein das Gefühl, einen sicheren Rückzugsort zu haben, war wichtig, und nach seinem Verlust fühlte ich mich unbeschreiblich verloren. Zwei, drei Wochen ging das so, dann zog ich mal wieder die Ereigniskarte.


Die Stadt hat zwei Tageszeitungen, was angesichts der Einwohnerzahl mindestens eine zu viel ist. Werner Weber arbeitet bei der »Volkszeitung« im Bodo Bock Verlag. Die Konkurrenz – »Die Umschau« – gehört einer Partei, die sich schon seit Jahren erhebliche Verluste leistet. Die roten Zahlen der Umschau passen insofern zum verlegerischen Konzept des Blattes. Der alte Slogan »Uns liest der kleine Mann« deutet jedenfalls in diese Richtung. Als ein neuer Chef kommt, der vermeintlich alte Zöpfe abschneidet, spürt man einen frischen Wind in der Stadt. Die Umschau bekommt ein anderes Gesicht, sieht nun irgendwie moderner aus, und plötzlich gehört »der kleine Mann« nicht mehr zur Zielgruppe. Gediegen lautet der neue Slogan: »Uns liest man gern!« Immer häufiger taucht er im Stadtbild auf, und auf Klapptischen in der Fußgängerzone werden Abonnenten geworben. Tatsächlich ist die Werbekampagne erfolgreich.

Bodo Bock ärgert sich. Er ist ein Verleger von altem Schrot, und Korn gehört zu seinen bevorzugten Schnäpsen. Eine leicht rötlich gefärbte Nase zeigt es an. In diesen unerfreulichen Tagen kippt er so manches Glas mehr, weil er danach besser denken kann. Und dann kommt ihm eine Idee...


Frau Kasupkes Warmherzigkeit schien gut gekühlt zu sein, wenn auch nicht direkt frostig. Sich in ihrer Gegenwart wohlzufühlen, war offenbar nicht einmal ihrem Ehemann gelungen. Sein Bild hing mit einem Trauerflor versehen in dem dunklen Flur ihrer Wohnung, obwohl er schon vor zwölf Jahren von seinem Recht aufs Ableben Gebrauch gemacht hatte. Drei Tage nach meinem Einzug feierte sie im Kreis zweier Freundinnen ihren fünfundsiebzigsten Geburtstag. Ich erinnere mich so genau daran, weil es der Tag war, an dem ihr Kater verschwand. Natürlich gab sie mir die Schuld an seinem Verschwinden. Denn als mein Vater mich in seinem Kombi, vollgestopft mit seinen Muster-Muffen und -Schellen sowie dem ersten Schwung meiner Sachen, bei ihr abgesetzt hatte, streunte Morli neugierig in meinem Zimmer herum. Was ich mir natürlich verbeten habe. Ohne körperliche Gewalt! Jedenfalls fast. Aber mit seinem Verschwinden hatte ich nichts zu tun!

Zurück zur Firma. Weil ich meine Plattenkritiken immer wieder erst in allerletzter Sekunde ablieferte, bekam ich einen Anschiss vom Chefredakteur. Das wurde ein regelrechter Erkenntnisgewinn, weil hinter seiner Kritik eine Weisheit fürs Leben lauerte: »Hör mal Werner, wir zahlen dir fünfundzwanzig Mark für deine paar hingestocherten Zeilen und müssen darauf länger warten als aufs Christkind. Ab sofort bekommst du dreißig Mark, dafür will ich aber immer zwei Kritiken Vorlauf haben. Nächste Woche lieferst du drei Artikel ab, ist das klar?!«

Ich ging zu meinen beiden depressiven Vorgesetzen und erklärte ihnen die Lage. Aufgrund der Ansage des Chefredakteurs beantragte ich zwei freie Tage, weil ansonsten die Samstagsausgabe nicht erscheinen könnte. Die beiden glotzten mich verständnislos an, bis einer sagte: »Mach doch.«

Zwei Tage Baggersee! Hinterher tippte ich in der Firma meine Kritiken fein säuberlich ab, zählte wie befohlen die Anschläge pro Zeile sowie die Zeilenanzahl und war mit mir zufrieden. Meine Zufriedenheit steigerte sich noch erheblich, als ich dem zuständigen Redakteur meine Texte vorlegte. Er überflog mein Geschreibsel – mit sichtlichem Desinteresse – dann sah er mich über seine fetten Brillengläser an und meinte: »Da, du hast Post. Wir bekommen immer mehr Leserbriefe von irgendwelchen Kindern, die deine Kritiken verreißen. Wir wollen deshalb eine Spalte ‚Briefe an Werner‘ einführen. Lies den Kram durch, und die interessantesten zwei beantwortest du. Jeweils einspaltig, neun Zeilen, kein Wort mehr. Dafür gibt’s einen Zehner extra.« Ich war nicht nur zufrieden, ich war geradezu beglückt.

Die meisten Aufträge in der Chemigrafieabteilung bekamen wir per Rohrpost. Analoge Nachrichtentechnik mit Über- oder Unterdruck. Durch das ganze Verlagsgebäude zog sich ein wirres Röhrennetzwerk. Jede Abteilung hatte eine eigene Station für den Ab- und Eingang. Kam so eine Büchse angeschossen, fiel sie am Rohrende in einen Ledersack, nachdem vorher eine Art Fahrradklingel den Empfang quittiert hatte. Was überflüssig war, denn die Anlage machte auch so schon genug Krach. Zu meinen Aufgaben gehörte es, eingehende Sendungen zu öffnen und die beiliegenden Fotos oder Anzeigen in den Auftragskorb zu legen. Auf einem Formular trug man die Ankunftszeit ein und eruierte, ob es sich um etwas Dringendes, sehr Dringendes oder extrem Dringendes handelte. Aufträge ohne den Zusatz »Dringend« verschlampten wir regelmäßig. Ab und zu kamen auch mal Scherzsendungen, Informationen des Betriebsrats oder der Geschäftsleitung. Mit anderen Worten: Rundschreiben per Blasrohr.

Auf diese Weise erfuhr ich vom Aufruf des Verlegers zu einem Slogan-Wettbewerb. Bodo – alle nannten ihn so – wollte der Konkurrenz Konkurrenz machen und forderte seine Belegschaft auf, kreativ zu sein. Das Beste aber war die Belohnung. Der Sieger sollte dreihundert Mark bekommen und einen Einkaufsgutschein von Karstadt. Wert ebenfalls dreihundert. Ich zeigte den Zettel meinen Kollegen und einer sagte: »Der Alte ärgert sich über die Umschau mit ihrem Uns-liest-man-gern-Schwachsinn. Schmeiß weg, Junge. Den Preis holen sich sowieso die Redakteure. Da haben wir armen Schweine keine Chance.«

Doch die Sache wollte mir nicht aus dem Kopf. Und in der Mittagspause schlug bei mir ein Blitz ein. Ich schrieb meinen Slogan plus Name und Abteilung auf und sendete die grandiose Idee per Rohrpost ins Sekretariat. Danach herrschte Funkstille. Drei Wochen lang. Dann kam aus dem Rohr plötzlich die Sensation. Die Sieger des Wettbewerbs sollten sich nachmittags um fünfzehn Uhr im Verlegerbüro einfinden, um ihre Preise entgegenzunehmen. Drei Namen standen da. In alphabetischer Reihenfolge. Daher war ich der Dritte. Aber ich war mir sicher, dass ich den Vogel abgeschossen hatte. Kurz vor der Zeit klopfte ich bei Bodos Sekretärin an, die mich auf einen Stuhl in der Ecke ihres Büros verbannte. »Es geht erst los, wenn alle da sind!« Wie von meinen Kollegen vorhergesagt, erschienen reichlich zu spät zwei Redakteure. Der Chefredakteur und ein junger Sportschreiberling.

Wir warteten noch ein Weilchen, dann tauchte Bodo in der Tür auf. Er lud uns in sein Zimmer ein, spendierte eine Runde Bommerlunder, rief seine Sekretärin und fragte herrisch, wo denn der Fotograf bliebe. Der Dussel hatte den Termin vergessen, und so mussten wir mit dem Alten noch zwei weitere Bommis – wie er sie nannte – trinken. Drei Klare am Nachmittag, mir kam langsam die Klarheit abhanden!

Als der Kameramann dann endlich da war, legte Bodo los. Er freue sich, die Anzahl der Vorschläge sei überwältigend gewesen, die Auswahl der besten Slogans eine schwere Aufgabe und so weiter und so fort. Endergebnis: Ich bekam fünfundzwanzig Mark, einen Einkaufsgutschein und war unehrenvoller Dritter. Doch das war nicht das Problem. Das Problem war der skandalöse erste Platz, der an den Chefredakteur ging. Sein Slogan »Lesen, was Niveau hat!« war in meinen Augen unterirdisch. Da half auch der vierte Bommi nicht, den Bodo uns aufnötigte, nachdem ein Foto von ihm und seinen Preisträgern mit den jeweiligen Urkunden und, gut sichtbar, den Gutscheinen von Karstadt gemacht worden war.

Habe ich erwähnt, dass Bodo die Gläser randvoll einschenkte? Im Hinausgehen sah ich aus dem Augenwinkel, wie er sich nach dieser Anstrengung noch ein Gläschen gönnen wollte, und rief abfällig zum Abschied: »Na denn noch mal Prost!« Bodo brüllte, ich solle wieder reinkommen und was mein Auftritt zu bedeuten hätte. Unverblümt und mit der Klarheit von vier Bommerlundern, die eher sechs gewesen sein dürften, sagte ich ihm, dass ich seine Wahl für einen Griff ins Klo hielt.

»Der Spruch zieht keinen Hering vom Teller!« Wortwörtlich sagte ich es so, während ich vor seiner roten Nase leicht hin- und herschwankte.

»Lernen Sie erst mal zu verlieren, junger Mann! Bei mehr Einsendungen wären Sie chancenlos gewesen. Wissen Sie mit dem Begriff ›Respekt‹ überhaupt etwas anzufangen?« Danach kam noch die Nummer von den Lehrjahren, die keine Herrenjahre seien, und von wegen wie viel Verständnis er der Jugend entgegenbringen würde. Alle weiteren Plattitüden, die er mir auftischte, habe ich verdrängt. Zum Schluss wurde es dann aber geradezu unheimlich: »So, jetzt vertragen wir uns mal wieder. Bin schließlich kein Unmensch. Hier, den trinken wir auf gute Zusammenarbeit!« Der nächste Bommi gluckerte ins Glas und durch die Kehle. Arbeitsunfähig machte ich mich aus dem Staub, ohne mich vorher von den depressiven Chemigrafen zu verabschieden.

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